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In der Nacht zwischen elf und halb zwölf verließen die Apothekerskinder auf Zehenspitzen das Haus. Alles verlief ohne Zwischenfall, weder die Eltern noch der Provisor Deuerlein, der heute in der Ratsapotheke Nachtdienst hatte, merkten etwas davon.
Um diese Zeit lag das Städtchen Eulenberg schon in tiefem Schlaf. Von niemand gesehen, eilten die Kinder durch Nebenstraßen und schmale Gäßchen zum Oberen Tor. Dort schlugen sie einen Fußpfad ein, der zur Burg führte. Er war steinig und steil, sie stolperten in der Dunkelheit alle Nasen lang über Baumwurzeln, Felsbrocken und die eigenen Füße.
„Wozu habe ich eigentlich meine Taschenlampe mit?" meinte Günther.
Er wollte die Lampe anknipsen, aber Herbert verbot es ihm.
„Laß das, wir dürfen uns nicht verraten!"
„Na schön", brummte Günther. „Ich hatte es ja bloß gut gemeint..."
Auf dem Platz vor dem Äußeren Burgtor verschnauften sie. Jutta zog aus der Rocktasche eine Tüte Kandiszucker hervor.
„Kleine Stärkung gefällig?"
Nicht nur sie, auch die beiden Jungen hatten gewaltiges Herzklopfen. Günther hätte natürlich behauptet, daran sei der steile Weg schuld.
„Wollen wir?" fragte Herbert nach einer Weile.
„Ja", sagten Günther und Jutta tapfer.
Der große Augenblick war gekommen. Herbert schwenkte den Schlüsselbund mit den dreizehn Schlüsseln. Der Zauber wirkte, leicht und geräuschlos öffneten sich die schweren Flügel des Burgtores.
„Rasch hinein!" drängte Herbert.
Als sie im Burghof waren, schloß sich das Tor hinter ihnen wieder.
„Fabelhaft!" sagte Günther. „Nun kann nichts mehr schiefgehen!"
Auch das Mittlere und das Innere Burgtor gehorchten dem. Wink mit dem Schlüsselbund. Zaghaft zunächst, doch bald fester und immer herzhafter schritten die Kinder aus.
Einmal flatterte eine Fledermaus dicht über ihre Köpfe hinweg, einmal scheuchten sie im Vorbeigehen ein paar Ratten auf. Sie erschraken darüber, ließen sich aber nicht aufhalten.
Etwa um Mitternacht standen sie vor der hohlen Eiche.
Hoffentlich war der Uhu Schuhu zu Hause! Günther holte die Taschenlampe hervor und leuchtete in die Zweige hinauf.
Da ließ sich hoch droben im Baumwipfel eine heisere Stimme vernehmen, die etwas in der Uhusprache zu ihnen herunterrief.
Günther und Jutta konnten es nicht verstehen, nur Herbert verstand es.
„Du sollst deine Lampe ausknipsen, sagt er, sie blendet ihn!"
Günther und Jutta staunten. „Verstehst du ihn?"
„Ihr etwa nicht?" meinte Herbert. „Dann muß es wohl an den Schlüsseln liegen ..."
Da faßten auch Günther und Jutta den Schlüsselbund an. Von nun an verstanden auch sie die Uhusprache.
„Wer sind Sie?" fragte der Uhu Schuhu. „Und woher kommen Sie?"
, ,Wir sind die drei Apothekerskinder aus Eulenberg" , sagte Herbert. „ Ein alter Bekannter von Ihnen schickt uns herauf, der Sie vielmals grüßen läßt."
„Ein alter Bekannter?" fauchte der Uhu Schuhu. „Ich wüßte nicht, daß ich in Eulenberg alte Bekannte hätte!"
„Es handelt sich um das kleine Gespenst", sagte Günther; und Jutta fügte hinzu:
„Es ist sehr, sehr unglücklich, wissen Sie - und es bittet um Ihren Rat."
Jetzt wurde der Uhu hellhörig.
„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?! Warten Sie, bitte, ich komme zu Ihnen hinunter, dann wollen wir alles in Ruhe besprechen ..."
Sssssst! kam er von seinem Sitz herabgesegelt und hockte sich auf den untersten Zweig der Eiche.
„Erzählen Sie! Bitte, erzählen Sie!" Herbert, Günther und Jutta erzählten ihm, was zu erzählen war. Schweigend hörte er ihnen zu. Dann plusterte er das Gefieder auf und schüttelte sich.
„Sehr traurig, die ganze Angelegenheit, außerordentlich traurig!" krächzte er. „Also deshalb hat mich das kleine Gespenst in letzter Zeit nicht mehr besucht . . . Aber wenn Sie mich fragen, woran es liegt, daß es plötzlich zu einem Taggespenst wurde, dann kann ich nur sagen: Das muß mit der Uhr zusammenhängen !"
„Mit welcher Uhr?" fragten Günther und Jutta gleichzeitig.
„Mit der Rathausuhr selbstverständlich!"
Der Uhu erläuterte ihnen in aller Kürze, wie es sich mit der Rathausuhr und dem kleinen Gespenst verhielt. Dann fügte er langsam und sehr bedächtig hinzu:
„Versuchen Sie, in Erfahrung zu bringen, ob irgend jemand vor vierzehn Tagen die Rathausuhr angehalten oder verstellt hat. Und falls das geschehen sein sollte, dann sorgen Sie bitte dafür, daß der Fehler wieder behoben wird. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Leben Sie wohl, meine Herrschaften, und empfehlen Sie mich dem kleinen Gespenst, dem ich alles Gute wünsche!"
Damit breitete er die Flügel aus, nickte den Apothekerskindern zu und verschwand in der Finsternis.