51952.fb2 Die geheime Reise der Mariposa - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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La grandeza del muerteDie Großartigkeit des Todes

Es war, als hätte die Mariposa auf José gewartet. Er betrat sie leise, ungehört von den Besitzern der anderen Boote im Hafen. Niemand sah ihn.

Unter Deck fand er mehrere große Kanister mit Trinkwasser und mit Benzin, einen Gaskocher und Dosen mit eingemachten Nahrungsmitteln. Juan Casaflora hatte sich auf eine lange Reise eingerichtet. Und er hatte, dachte José, eine noch längere angetreten: eine Reise zu einem Ort, den niemand kannte. Ins Jenseits. Er, José, hatte ein anderes Ziel: die Isla Maldita.

Der Amerikaner, Ben, er hatte seine Worte nicht ernst gemeint, natürlich nicht. Er hatte sich über ihn lustig gemacht, genau wie sie alle. Bald würde sich niemand mehr über ihn lustig machen. Er würde es schaffen. Er würde zur Isla Maldita segeln, ganz allein, und für sie herausfinden, was dort vor sich ging. Und dann würde Ben sein Versprechen halten müssen. José würde fliegen.

Er ging noch einmal zurück zu den Baracken, um seinen Rucksack und etwas Brot zu holen, rasch, rasch, leise, leise – alles war still dort. Er bemühte sich, das Gesicht seines schlafenden Vaters nicht zu lange anzusehen. Als er zum zweiten Mal in dieser Nacht auf das Deck der Mariposa sprang, schaukelte sie sacht, als wollte sie ihn begrüßen.

»Gutes altes Mädchen«, flüsterte José, während er sich an der Reling entlangtastete. »Ich brauche dich, und du brauchst mich, denn ein Boot ohne Skipper ist ein totes Boot, tot wie dein Juan Casaflora.«

José brauchte das Vorsegel der Mariposa nur auszurollen, ein Zug an der richtigen Leine und es entfaltete sich hell in der dunklen Nacht. Im Licht einer Streichholzflamme machte er die Leinen los und weckte das Schiff aus seinem Schlaf. Er kümmerte sich nicht ums Großsegel, das Vorsegel musste reichen, bis er genug Ruhe und Licht hatte, um sich mit den Tauen und Segeln, den Klemmen und Klampen und Rollen und Segeln der Mariposa vertraut zu machen. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mariposa mit allem ausgestattet, was ein Schiff brauchte – allem außer einem Funkgerät. Aber er würde kein Funkgerät brauchen. Seine Reise war eine geheime, niemand brauchte davon zu wissen. Er steuerte die Mariposa mit einem Gefühl der Glückseligkeit durch die Nacht; geräuschlos glitt der schlanke Holzkörper an den anderen Schiffen vorbei, hinaus aus der schützenden Bucht, und dann brach der Himmel auf, und der Mond goss sein Licht ins Meer gleich Milch in Kaffee. Der Milchpazifik verfärbte sich unwirklich weiß wie im Traum. Erst ein gutes Stück vor der Küste von Baltra entzündete José die Bordlaternen, Grün und Rot für Steuerbord und Backbord, Weiß am Bug und Weiß am Heck. Er hatte ungesehen losfahren wollen, aber er hatte keine Lust, draußen in der Nacht mit irgendeinem anderen Schiff zusammenzustoßen.

Er war kein Dummkopf. Er war José Julio Fernandez. Ein Mann. Kein Kind.

Er sah zu den Sternbildern empor, die über ihm glitzerten wie merkwürdig geformte Perlenketten, und prägte sich den Kurs ein, den er fahren musste. Es war nicht schwer. Er war oft nachts mit den Fischern von Isabela hinausgefahren, und er war schon als Kind immer wieder von der Farm entwischt, um den weiten Weg zur Küste zu laufen, wo die Segler anlegten. Silvio hatte ihn am häufigsten mitgenommen. José und der Pazifik waren alte Bekannte.

Eine Weile stand er ganz still am Heck der Mariposa und versuchte die Nacht in sich aufzunehmen: die erste Nacht auf dem Meer, die ihm allein gehörte.

In der Ferne tauchten die Lichter eines anderen Schiffs auf, eines großen Schiffs, und im Mondlicht erkannte er es: Es war die Isabelita, deren Heimatinsel auch Josés Insel war. Isabela. Er hob die Hand zu einem stummen Gruß. Er war froh, dass er die Positionslichter gesetzt hatte. Sie würden sich natürlich fragen, was für ein Schiff das war, das ihnen um diese Zeit entgegenkam.

»Das Schiff eines Toten«, flüsterte José. Die Worte zitterten in der Nacht.

Es waren die verkehrten Worte, sie riefen die Angst aus den dunklen Tiefen der See herauf, wo sie lauerte – zusammen mit den unbekannten Geschöpfen, deren Namen unaussprechlich und undenkbar waren. Die Abuelita hatte nur wispernd von ihnen erzählt, riesig sollten sie sein und schrecklich, voller Tentakel, voll spitzzähniger Mäuler und tödlicher Stachel …

»Nein. Es ist nicht das Schiff eines Toten«, sagte José laut. »Es ist jetzt mein Schiff.«

Das waren bessere Worte. Die Angst tauchte zurück ins Wasser und nahm die undenkbaren Geschöpfe mit. Aber eines der Meeresungeheuer schien seinem Willen entkommen zu sein. Etwas regte sich vor ihm im Wasser, zur Linken, backbord voraus. José hörte ein Plätschern, und dann sah er im Mondlicht etwas um sich schlagen.

Die Abuelita kicherte zufrieden in seinen Gedanken. Siehst du, mein Junge, sagte ihre alte Stimme, brüchig von unzählbaren Jahren Arbeit auf der Farm, es gibt sie doch, die Unaussprechlichen. Ich habe es euch immer gesagt: Lasst eure Finger von den Tauen und Steuerrädern der Schiffe! Ihr wolltet ja nicht hören. Aber du, José, du treibst es toller als alle anderen. Allein hinauszufahren, in der Nacht, auf einem Totenschiff … Du hast sie gerufen, die Unaussprechlichen, und einer von ihnen ist heraufgekommen.

»Sei still, Abuelita«, flüsterte José. »Du hast keine Ahnung, und du bist alt und außerdem gar nicht da! Es ist nur ein Seelöwe.«

Ah ja?, höhnte die Abuelita. Ein Seelöwe mit langen Armen und Beinen, die durch die Nacht schnellen wie die Wedel einer Palme?

Sie hatte recht. Es war kein Seelöwe. José hörte das Keuchen des Unaussprechlichen in der Nacht. Er wollte das Steuerruder herumreißen und fliehen, doch seine Hände waren starr vor Angst und gehorchten ihm nicht. Der Wind drehte kaum merklich, die Mariposa gierte nach Lee und drehte ihren Bug ohne sein Zutun ein wenig nach backbord, und jetzt hielt sie genau auf das zu, was kein Seelöwe war. Er sah es untergehen, wieder auftauchen … – und plötzlich erkannte er, was es war.

Es war keiner der Unaussprechlichen aus der Tiefe, der versuchte, heraufzukommen. Es war ein Mensch, der versuchte, nicht unterzugehen. Ein Mensch, der mitten in der Nacht, mitten auf dem Pazifik, mit dem Tod kämpfte.

José war mit einem Satz bei der Backbordreling. Er beugte sich hinüber und streckte beide Arme aus. Kurz darauf bekam er einen Ärmel zu fassen, dann ein Handgelenk, und er zog. Die Person im Wasser wehrte sich, vielleicht hielt sie Josés Griff für den Griff des Meeres – doch sie hatte keine Kraft mehr. Er fragte sich, wie lange sie schon mit dem Wasser kämpfte. Das Meer zog an seiner Beute wie ein ärgerliches Tier, aber schließlich gelang es José, den anderen Menschen über die Reling zu zerren. Dann lagen sie beide an Deck in einer Pfütze aus Salzwasser.

José rappelte sich auf, korrigierte mit einem raschen Blick zum Himmel den Kurs und stellte das Steuerrad fest. Eine Weile würde die Mariposa den Kurs von allein halten.

Er hockte sich neben den Körper, der sich jetzt nicht mehr rührte. Es war ein Junge, vielleicht so alt wie er selbst, nur viel magerer. Verglichen mit den Jungen auf den Farmen wirkte er beinahe zerbrechlich – zerbrechlich und blass wie Porzellan. Im transparenten Mondlicht sah das Gesicht des Jungen auf seltsame Art aus wie ein Puppenkopf, jedoch ein Puppenkopf ohne Wimpern und Augenbrauen … José beugte sich dichter über den Jungen. Nein, er hatte Wimpern. Sie waren nur ungewöhnlich hell. Und es war nicht das Mondlicht, das seine Haut so blass wirken ließ. Er war blass. Ein Europäer.

Hübscher Kerl, sagte die Abuelita in Josés Kopf und lachte ihr altes, keckerndes Lachen – und José wünschte, er hätte sie treten können, doch man tritt alte Damen nicht, nicht mal in der Fantasie. Er beugte sich über den Jungen, um festzustellen, ob er atmete.

Genau in diesem Moment schlug der Junge die Augen auf. Sie waren beunruhigend hell, genau wie seine Wimpern. Was, fragte sich José, sagte man zu einem Ausländer, dem man das Leben gerettet hatte? Er legte sich einen schönen englischen Satz zurecht, würdig der Situation …

Da sagte der Junge in perfektem Spanisch: »Du Idiot!« Er hustete, spuckte noch einen Mundvoll Pazifik aus und fügte hinzu: »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«

Als die Mariposa sich ihr näherte, war die Person, in deren Pass der Name Jonathan Smith stand, schon beinahe nicht mehr vorhanden. Das Meer hatte begonnen, Jonathans Lungen zu füllen, und er merkte, dass sein Körper sich wehrte. Er wollte sich nicht wehren, er wollte endlich heimkehren zu denen, die er verloren hatte: Mama. Papa. Julia. Sie waren tot, und um zu ihnen zu kommen, musste er ebenfalls sterben.

Er spürte den festen Griff einer Hand, und zuerst dachte er, es wäre die seiner Mutter, die ihn zu sich hinüberzog. Aber dann schlug er die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, ein Gesicht mit dunklen Augen, groben Wangenknochen und sonnengefärbter Haut. Er sah sich um und merkte, dass er sich auf einem Boot befand und dass es noch immer Nacht war und um ihn noch immer das Meer.

»Du Idiot!«, sagte er auf Spanisch. Er musste husten und spuckte einen Schwall Wasser aus. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, mich aus dem Wasser zu ziehen?«

Sein Spanisch überraschte ihn selbst.

Er hatte zwar auf der Überfahrt von Spanien kein Wort gesprochen, doch er musste wohl gelauscht haben, ohne es zu merken: tage-, nächte-, wochenlang. Und das wenige Spanisch, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte, hatte sich in Jonathan ausgebreitet und war zu einem Garten aus Wörtern und Sätzen herangewachsen. Es war auf ganz natürliche Weise geschehen, ohne Absicht. Die Hülle, die Jonathan bis zu seinem Sturz ins Wasser gewesen war, hatte keine Absichten gehabt, keine Wünsche, keinen Willen.

Aber Jonathan, der jetzt aus der zerbrochenen Hülle geschlüpft war, hatte durchaus einen Willen. Er hatte sich entschlossen, diese Welt zu verlassen – diese Welt, in der manche Menschen im Paradies lebten, auf Inseln voll blühender Bäume, und andere in der Hölle, zwischen lichtlosen Nächten und verbrannten Hoffnungen. Er wollte zu seiner Familie. Er wollte verdammt noch mal nicht beim Sterben gestört werden.

»Ich habe dich gerettet«, sagte der Junge, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, mit großem Ernst. »Mein Name ist José und ich habe dich gerettet.«

»Ich habe nicht darum gebeten, gerettet zu werden«, sagte Jonathan.

José ging nicht darauf ein. »Du musst etwas Trockenes anziehen«, sagte er. »Dahinten liegt mein Rucksack. Es sind ein paar Kleider drin. Ich kümmere mich um mein Steuer. Die Mariposa ist ein gutes Schiff, aber ewig steuert sie sich nicht selbst.«

Jonathan kam auf die Beine, hielt sich an der Reling fest und spuckte noch einen Schwall Meerwasser aus. Er hatte wieder über Bord klettern wollen, sich zurückfallen lassen ins Wasser, das fortsetzen, was er begonnen hatte – aber auf einmal fehlte ihm die Kraft. Er war müde, unendlich müde. Sterben kostet Kraft. Morgen, dachte er. Morgen vielleicht.

Er fror. Er fand den Rucksack, und beinahe erschien es ihm jetzt zu anstrengend, sich danach zu bücken. Er sah, dass José ihn beobachtete. »Ich … gehe … in die Kajüte, um die Sachen anzuziehen«, sagte er.

José zuckte die Schultern. »Bitte.«

Jonathan öffnete die winzige Tür am Ende der Treppe. In der Kajüte war es dunkel, er konnte nur einzelne Schemen erkennen: einen Tisch und zwei schmale Bänke, Regale … Er tastete sich durch den Inhalt von Josés Rucksack, fand ein Hemd und eine Hose und schloss die Tür hinter sich. In absoluter Dunkelheit schälte er sich aus seinen nassen Kleidern, schlüpfte in die trockenen Sachen und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach Tabak und Orangenschalen, nach Erde und Sonne und dem Saft grüner Pflanzen.

Auf einer der Bänke fand er eine Wolldecke und verkroch sich darunter wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Die Schildkröten … am liebsten hatte Mama von den Schildkröten vorgelesen … Das Geräusch des Wassers, das draußen gegen die Schiffswand schlug, war unbekannt und nah, ganz anders als die Geräusche der Isabelita oder des Ozeankreuzers, dessen stampfende Motoren ihn monatelang in den Schlaf gewiegt hatten. Dann waren da leise Schritte im Dunkeln, etwas wurde beiseitegeschoben: José musste heruntergekommen sein, um nach ihm zu sehen. Er verkroch sich tiefer unter der Decke. Sekunden später schlief er fest und diesmal traumlos.

José wartete lange, doch der fremde Junge tauchte nicht wieder auf. Eine Weile hatte er ihn dort unten herumtappen hören, aber nun war es still. Die Nacht und die Mariposa gehörten ihm allein. Er hatte eine Menge Zeit, über den fremden Jungen nachzudenken, aber seine Gedanken wurden immer zäher und verworrener. Die beiden Amerikaner lehnten darin am Mast und tranken Bier. Seine Brüder saßen auf dem Dach der Kajüte und sortierten Saatgut, während Mama Carmelita mit einer großen Schere das Großsegel zerschnitt, um Kleider für Josés kleine Schwestern daraus zu nähen. »Lasst das bleiben!«, wollte er rufen, und da merkte er, dass er träumte.

Er riss sich zusammen und korrigierte den Kurs, aber Minuten später war er wieder weggenickt. So kämpfte er bis zum Morgengrauen einen Kampf gegen sich selbst und seine Müdigkeit. Und als das Meer im Osten eine rote Blase ausstieß, die über den Horizont hinaufstieg und sich schließlich vom Wasser löste, da begriff er erst nach einer Weile, dass dies kein Traum war, sondern die Sonne. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er den Jungen brauchte, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Egal, wer er war. Er brauchte jemanden, der das Steuer übernahm, wenn er müde wurde. In dieser Nacht war der Wind lau – bei jedem anderen Wetter würde es nichts nützen, das Steuer einfach festzustellen.

Er wusste nicht, wie lange er zur Isla Maldita brauchen würde, aber plötzlich erschrak er über sich selbst, über die Idee, es allein zu versuchen. Du bist verrückt, sagte die Abuelita, loco. Aber Dios, Gott, hat dich gesehen, da unten auf dem riesigen Ozean, auf deinem Honigboot, deiner Totenbarke, und er hat dir jemanden vor den Bug geworfen, der …

»Unsinn«, sagte José laut. »Abuelita, Gott wirft nicht mit fremden Jungen, nicht einmal über dem Pazifik, und wieso bist du überhaupt schon wach um diese Zeit?«

Er schüttelte die alte Frau aus seinem Kopf, befestigte das Steuer abermals und stieg die vier Stufen zur winzigen Tür der Kajüte hinunter. Er öffnete die Tür vorsichtig. Das erste rote Morgenlicht strömte in den kleinen Raum, als hätte es sich seit Stunden danach gesehnt, ihn zu erhellen. Wie Wasser stieg es an den Wänden hoch, und als es die Kabine ganz ausgefüllt hatte, fand José darin den fremden Jungen. Er lag auf der Steuerbordbank, in Josés Kleidern, halb in eine Decke gewickelt. Die Decke musste er irgendwo in der Kajüte gefunden haben. Vielleicht, dachte José, war der alte Casaflora unter dieser Decke gestorben. Vielleicht auf dieser Bank. Aber die Brust des Jungen hob und senkte sich regelmäßig und sehr lebendig.

Auf dem kleinen Tisch in der Mitte der Kajüte lagen seine Kleider. José hielt die nasse Jacke ans Gesicht und atmete ihren fremden Geruch: den Geruch nach weiter Ferne, nach einer zu langen Reise und nach Angstschweiß. Er beobachtete, wie das rötliche Morgenlicht mit vorsichtigen Fingern das Gesicht des Jungen betastete. Das blonde Haar war ihm aus der Stirn gefallen und gab eine schlecht verheilte Narbe frei. Was hatte dieser Junge erlebt und wie war er hierhergekommen?

José kam sich vor wie ein Dieb, als er seine Jackentaschen durchsuchte. Er fand eine zusammengeknüllte alte Mütze, ein rotes Seidenband … und einen Pass. Tatsächlich, einen Pass. »Jonathan Smith«, las José. »Geboren am 12.2.1929 in London.« Aber wer war Jonathan Smith?

Hätte José gewusst, dass der wahre Jonathan Smith tot war, hätte ihn das vermutlich nicht beruhigt.

Jonathan schlug die Augen auf und spürte, dass es Morgen war. Aber Morgen wo? Und wann?

Als er sich aufsetzte, stieß er sich den Kopf an einem Regal und erinnerte sich, dass er in der engen Kajüte eines Schiffs war. Er sah an sich hinab und erschrak. Er trug fremde Kleider. Er hörte wieder Waterwegs Worte, die er auf der ganzen Reise so oft gehört hatte: Niemand darf je erfahren, wer du wirklich bist. Er sah sich um. Wo waren seine Kleider? Hatte jemand anders sie ihm abgenommen? Nein, er hatte sie selbst ausgezogen und auf den kleinen Tisch gelegt.

Langsam füllten sich die Lücken der Erinnerung. Er war ins Wasser gefallen und hatte sterben wollen. Und jemand hatte ihn davon abgehalten. Aber seine Kleider waren nicht mehr da. Stattdessen lag auf dem Tisch ein kleiner schwarzer Gegenstand: eine Pistole. Er wog sie in der Hand und war erstaunt über ihr Gewicht.

Das kalte Metall an seiner Schläfe fühlte sich an, als gehörte es dorthin. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf seinen Finger am Abzug. Er brauchte ihn nur zu krümmen … Jemand riss ihm die Waffe aus der Hand. Er sah auf und blickte in das Gesicht des Jungen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte. José.

»Bist du wahnsinnig?«, rief er. »Was tust du da? Woher hast du das Ding?«

»Es lag hier auf dem Tisch«, sagte Jonathan. »Hast du es nicht dorthin gelegt?«

»Nein«, sagte José.

Eine Weile sahen sie sich schweigend an. Die Luft zwischen ihnen zitterte vor Anspannung.

»Ich weiß deinen Namen noch immer nicht«, sagte José schließlich und steckte die Pistole in seine Jackentasche.

»Jonathan«, sagte Jonathan.

»Gut«, sagte José, als wäre damit alles geklärt. »Komm jetzt mit. Es ist Zeit, etwas zu essen.«

Jonathan folgte ihm die vier Stufen hinauf an Deck. Das Meer lag so gleißend blau unter der Sonne, dass er einen Moment lang die Augen zukneifen musste. In der Ferne erhoben sich Inseln aus dem Blau. Etwas sprang aus dem Wasser und verschwand wieder darin, tauchte abermals auf … Delfine. Ein Schwarm übermütiger Vögel war über den Himmel unterwegs. Die Rücken der silbernen Fische glänzten dicht unter der Wasseroberfläche.

»Hier ist so viel Leben«, sagte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, ist nur Tod.«

José nickte. »London«, sagte er.

Jonathan musste sich zusammenreißen, um nicht instinktiv den Kopf zu schütteln. »Ja«, sagte er. »Aus London.« Er war noch nie in London gewesen. Wie war es wohl in London? Wie sah es dort aus?

»Wie ist es in London?«, fragte José. »Wie sieht es dort aus?«

Jonathan zuckte die Schultern. »Es sieht so aus … wie … wie es eben aussieht. Soll ich das Brot schneiden?«

Er setzte sich auf eine der schmalen Bänke an der Reling und nahm das Messer, das neben dem Kanten Brot lag.

»Ja, schneide nur das Brot«, sagte José, »aber komm nicht darauf, dir mit dem Messer die Pulsadern aufzutrennen.«

Jonathan gab José eine Scheibe Brot und betrachtete das Messer. »Ist es scharf genug?«

»Dieses Brot«, sagte José, »ist jedenfalls hart genug, um jemanden damit zu erschlagen. Da hast du gleich noch eine Methode, dich ins Jenseits zu befördern.« Er sah zu den weißen Segeln der Mariposa auf, die sich im Wind blähten. Jonathan folgte seinem Blick. José hatte seine Kleider in der Takelage aufgehängt und da flatterten sie jetzt im Wind wie merkwürdige Wimpel. Das Holz des Schiffs leuchtete honiggelb in der Sonne und der Duft nach Kühle und Geheimnissen wehte vom Meer her. Wie schön und froh alles war! Wie sehr es der kleinen Julia gefallen hätte, auf einem solchen Schiff zu segeln! Und Mama! Sie hätte sich mit einem Fernglas an die Reling gestellt und nach dem blauen Schmetterling mit den goldenen Tupfen Ausschau gehalten – jenem, den ihr alter Professor beschrieben hatte, als Mama noch an der Universität studiert hatte. Der Professor war auf den Inseln gewesen. Durch ihn hatte Mama von ihnen erfahren, und durch Mama hatte Waterweg davon erfahren, der Jonathan hierhergeschleppt hatte. Letztendlich war der alte Professor an allem schuld …

»Jonathan?«, sagte José. »Ich habe dich etwas gefragt.«

»Hm?«

»Wer bist du?«

»Du hast meinen Pass in der Hand gehabt. Du weißt, wer ich bin.«

»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß gar nichts. Ich weiß, dass ich dich aus dem Wasser gezogen habe, aber ich weiß nicht, wie du hineingekommen bist. Ich weiß, dass ich eine Kajüte verlassen habe, in der es keine Pistole gab, und dass da eine war, als ich zurückkam. Ich weiß, dass du Spanisch kannst, aber ich weiß nicht, woher. Ich weiß, dass du nicht gern redest, aber ich weiß nicht, worüber du nicht redest.«

Jonathan grinste unwillkürlich. José, dachte er, redete dafür umso lieber.

»Das sind zu viele Fragen«, sagte er. »Wichtig ist nur eines: Ich wollte nicht gerettet werden. Auch heute Morgen nicht. Bitte, bitte, hör auf, mich dauernd zu retten.«

»Gut«, sagte José. »Spring zurück ins Wasser und ertrink. Ich werde dich nicht daran hindern.«

»Nein?« Jonathan stand auf und legte die Scheibe Brot, die er nicht angebissen hatte, zurück auf die Bank.

Das Meer war noch immer so blau und die Sonne so warm und alles so friedlich, dass er sich beinahe dumm vorkam. Aber er musste es tun. Jetzt, ehe er den Mut dazu nicht mehr aufbrachte. Er kletterte auf die Bank, stieg auf die Reling und sprang. Das Wasser war kühl, aber nicht kalt. Er kam hoch und hörte José fluchen. Er sah die Mariposa davonsegeln. Er legte sich im Wasser auf den Rücken und sah in den Himmel, über den einzelne Wolken unterwegs waren. Er würde hier so liegen bleiben und in den Himmel sehen, bis … Im Augenwinkel sah er, wie die Mariposa wendete. Kurz darauf war sie wieder neben ihm, und er spürte, wie sich Josés Hand um seinen Arm schloss. Er versuchte wegzuschwimmen, er war ein guter Schwimmer. Aber José war stark. Sekunden später saß Jonathan wieder an Deck wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Er blickte in Josés wütendes Gesicht und dann gab José ihm eine Ohrfeige. Irgendwoher kannte er diese Szene – war ihm nicht das Gleiche in einem Luftschutzkeller passiert, damals, in jener Nacht?

»Bei uns sagt man, Ohrfeigen sind für kleine Kinder und verrückte Frauen«, knurrte José. »Such dir aus, was du bist.«

»Du … du hast gesagt, du würdest mich nicht hindern …«

»Dann habe ich eben gelogen«, sagte José. »Was bildest du dir eigentlich ein, so mit deinem Leben umzugehen? Das Leben kommt von Gott. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

»Nein«, murmelte Jonathan. »Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Gott. Er ist verloren gegangen.«

»Aber hier, hier gibt es einen«, sagte José ärgerlich. »Und deshalb lässt du es jetzt schön bleiben, dich umzubringen, kapiert? Ich werde dich so oft aus dem verdammten Wasser ziehen, wie du hineinspringst. Notfalls schlage ich dich bewusstlos, aber solange du auf meinem Schiff bist, stirbst du nicht. Klar?«

»Es ist noch nicht mal dein Schiff«, sagte Jonathan. »Sonst wüsstest du besser Bescheid über gewisse Pistolen, die unter Deck herumliegen. Wo hast du es her? Hast du es geklaut?«

José schüttelte den Kopf. »Es ist das Schiff eines Toten.«

»Das Schiff eines Toten! Siehst du!«, rief Jonathan. »Alle sind tot. Die ganze Welt ist tot! Es ist nur logisch, auch sterben zu wollen!«

»Wenn du dich hören könntest«, sagte José. »Vielleicht hat der Krieg in Europa dir den Verstand geraubt. Die Narbe an deiner Stirn – ist sie … von … einem Granatsplitter? Einem Streifschuss? Von einer nahen Explosion? Einer …«

»Stehlampe«, sagte Jonathan nüchtern.

»Steh… Stehlampe? Die Deutschen kämpfen mit seltsamen Waffen.«

Plötzlich beugte José sich vor, packte Jonathans Arm und zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht war Jonathans ganz nah. »Ich brauche dich«, sagte er. »Ich habe es gestern Nacht gemerkt.«

Es klang wie ein Satz aus einem mittelmäßigen Schnulzenfilm. Jonathan dachte an Richard, den Blockwart vom Häuserblock 21, der auch versucht hatte, ihm nah zu sein. Zu nah. Sein Magen drehte sich um. »Wie bitte?«

»Ich brauche dich, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill. Ich brauche einen zweiten Mann am Steuer, der nachts auf den Kurs achtet.«

Die Erleichterung brachte Jonathan beinahe zum Lachen. »Vergiss es«, sagte er. »Ich verstehe nichts von Schiffen. Lass mich zurück ins Wasser.«

»Dios!« José ließ Jonathans Arm so plötzlich los, dass er unsanft auf die Decksplanken zurückfiel. »Gut. Ich mache sowieso halt auf Santiago, da setze ich dich ab und versuche es allein. Von mir aus kannst du dann vom nächstbesten Felsen springen und dir das Genick brechen. Aber solange du auf meinem Schiff bist, trage ich die Verantwortung. Also iss jetzt das verdammte Brot.«

José verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich zu ärgern. Er ärgerte sich über den Jungen, den er aus dem Wasser gezogen hatte. Er ärgerte sich über die Abuelita, die ab und zu in seinen Gedanken kicherte. Ein schöner Held bist du, kicherte sie, rettest einen, der gar nicht gerettet werden will … Er ärgerte sich darüber, dass der Wind drehte und sie nicht mehr so gut vorankamen, und über die ganze gottverdammte Welt. Als Santiago nahe genug war, dass er einzelne Buchten erkennen konnte, hörte er auf, sich zu ärgern, und begann sich ein paar Dinge zu fragen.

Er fragte sich zum Beispiel, woher die Pistole gekommen war. Wenn Jonathan die Wahrheit sagte, war es nicht seine. José musste sie bei seinem ersten Besuch in der Kajüte übersehen haben. Aber hatten die Amerikaner sich das Schiff nicht angesehen, das in den Hafen von Baltra geschleppt worden war? Hätten sie die Waffe nicht mitgenommen, wenn sie schon damals auf dem Tisch gelegen hätte?

Jonathan hatte die ganze Zeit über still dagesessen und aufs Meer hinausgesehen. Er trug wieder seine eigenen Kleider, obwohl auch die ihm zu groß zu sein schienen. Er hatte darauf bestanden, sich in der Kajüte umzuziehen. Aber wenigstens hatte er keinen Versuch mehr gemacht, ins Wasser zu springen.

»Übernimm du das Steuer«, sagte José jetzt. »Ich bin gleich wieder da.«

»Ich kann nicht …«

José seufzte. »Jeder kann ein Steuer festhalten.«

Er kletterte unter Deck und sah sich noch einmal genauer um. Er schüttelte die Kleider bei den Kanistern aus. Es war nur ein Haufen alter Kleider. Die Kleider eines Toten. Nichts in den Taschen. Er untersuchte die beiden Bänke. Sie ließen sich hochklappen, und für einen Moment dachte José, er würde dort ein Geheimnis finden, doch er fand nur Werkzeuge und Farbtöpfe. Über den Bänken gab es zu jeder Seite ein Regal, vorn gesichert durch ein zusätzliches Brett, damit die Dosen mit den Nahrungsmitteln nicht herunterfielen. Rechts, an der Steuerbordseite, konnte man die Wand über dem Regal aufklappen, und dahinter standen noch mehr Dosen mit Nahrungsmitteln. Immerhin würde er nicht verhungern. Trotzdem gab es noch immer keine Erklärung für das Auftauchen der Pistole.

Durch die angelehnte Kajütentür sah José, wie Jonathan das Steuerruder mit beiden Händen festhielt. Er lächelte. Da war etwas in Jonathans Augen, das ihn hoffen ließ. »Hilf mir, Mariposa«, wisperte José. »Zeig ihm, wie gut es sich anfühlt, dich zu steuern. Lass ihn diese alte Rechnung vergessen, die er mit dem Tod offen hat. Lass …«

In diesem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er schrie auf und fuhr herum. Hinter ihm stand – niemand. Aber die Berührung auf seiner Schulter war noch da. Etwas saß dort. Etwas Kleines, Braunes. Ein winziges Tier.

Es musste aus einer dunklen Ecke auf seine Schulter gesprungen sein. José stieg die Stufen hinauf an Deck und versuchte gleichzeitig, das Tier von seiner Schulter zu entfernen. Es ließ sich nicht entfernen. Es hielt sich mit seinen kleinen Krallen sehr entschlossen fest.

José verrenkte sich den Kopf, um das Tier zu sehen, und da hörte er Jonathan zum ersten Mal lachen. »Galapagos-Reisratte«, sagte Jonathan. »Endemisch.«

»Bitte was?«, fragte José verärgert. »Und was ist überhaupt so lustig?«

»Dein Gesicht«, sagte Jonathan. »Das auf deiner Schulter – es ist eine Ratte. Eine Sorte, die es nur hier auf den Inseln gibt. Das ist es, was endemisch bedeutet. Dass es sie nur hier gibt.«

»Woher weißt du das?«

Jonathan streckte die Hand aus und löste die Pfoten der Ratte vorsichtig von Josés Hemd. »Das ist eine lange Geschichte.« Er betrachtete die Ratte. Sie war kein bisschen scheu. »Du solltest ihr einen Namen geben«, meinte Jonathan.

»Einer Ratte, Jonathan? Bist du noch ganz dicht? Es gibt diese Sorte vielleicht nur auf unseren Inseln, aber dafür zu Tausenden. Sie geht über Bord, und zwar jetzt. Sie frisst die Vorräte. Gib sie her.«

Doch Jonathan drückte die Ratte an sich wie einen Schatz. »Das Leben kommt von Gott«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Auch das Leben einer Ratte. Lernt ihr keine Gottesfurcht, da, wo du herkommst?«

José knurrte. »Carmen«, sagte er dann.

Sie erreichten Santiago, als der Abend kam. Es war ein Tag voller Schweigen gewesen. Jonathans Schweigsamkeit war wie eine Mauer, gegen die José nicht ankam. Er wünschte, er hätte noch ein Dutzend Ratten unter Deck gefunden, damit Jonathan über sie lachen konnte, doch Carmen blieb der einzige blinde Passagier. Sie hatte sich mit etwas Brot füttern lassen und war offenbar jetzt damit beschäftigt, unter Deck aufzuräumen. Ab und zu hörte man etwas hinunterfallen.

José versuchte die Sullivan Bay anzulaufen. Er kannte die Bucht aus Erzählungen: Sie war ein einziges Feld aus dunklen, übereinandergelegten Stricken schwarzer Lava, die wirkten wie riesige Taue. Wo Gasblasen die oberste Lavaschicht zum Aufplatzen gebracht hatten, gab es Löcher in der Lava: Hornitos, längst erkaltete Gesteinsformen. Sie sahen aus wie Augen. José schüttelte sich unwillkürlich.

»Auf der anderen Seite der Insel gibt es Siedler«, sagte er. »Angeblich. Du wirst jemanden finden, der dir weiterhilft.«

Jonathan antwortete nicht. Und dann drehte der Wind und drückte die Mariposa von Santiago fort.

»Es wäre einfacher, eine der beiden Buchten da drüben anzulaufen«, sagte Jonathan und zeigte zur anderen Seite.

José schnaubte. »Das ist Bartolomé. Eine winzige Insel. Da gibt es keine Menschen. Was willst du dort?«

»Das weißt du genau«, sagte Jonathan. »Und du weißt auch, dass ich dazu keine Menschen brauche. Steure uns nach Bartolomé.«

José seufzte und wendete die Mariposa. Er war inzwischen zu müde, um zu diskutieren. Er musste sich eine Weile auf festem Boden ausstrecken und schlafen. Im Abendlicht glichen die sandigen Zwillingsbuchten von Bartolomé den Flügeln einer Möwe. In ihrer Mitte reckte sich steil eine schwarze Felsspitze in die Höhe wie ein Schnabel.

»Pinnacle Rock«, sagte José laut. Die Amerikaner hatten von diesem Felsen gesprochen, und auch seine Brüder, hinter vorgehaltener Hand. Als wäre der schwarze Stein etwas Lebendiges, etwas Unberechenbares, etwas Gefährliches. José spürte, dass die Abuelita etwas sagen wollte, und verbot ihr den Mund. Er übergab Jonathan noch einmal das Steuer, kletterte nach vorn, um den Anker auszuwerfen und die Segel einzuholen. Trotz der Müdigkeit fühlte sich jeder Handgriff leicht und eingeübt an, als hätte José sein Leben lang nichts anderes getan, als die Mariposa zu segeln. Aber der Schatten von Pinnacle Rock war tief und dunkel, und seine Spitze streifte die honiggelbe Flanke des Schiffs wie eine Drohung.

Das Wasser war hier nicht tief, es ging José nur bis zur Hüfte. Er half Jonathan beim Hinunterklettern und spürte einmal mehr, wie schmächtig er war. »Wenn du ins Meer hinausschwimmst, wie willst du je darin versinken?«, sagte José mit einem unpassenden Lächeln. »Du hast kein Gewicht, dass, dich in die Tiefe zieht.«

»Wir werden sehen«, sagte Jonathan.

Dann wateten sie an Land. Dort blieben sie stehen und sahen sich an, und schließlich streckte Jonathan seine Hand aus. Er schüttelte Josés Hand stumm zum Abschied. José wollte tausend Dinge sagen. Er wusste, dass keines der tausend Dinge Jonathan umstimmen konnte. So legte er sich in den weißen Sand, schloss für einen Moment die Augen und bemühte sich, nicht daran zu glauben, dass dieser Verrückte wirklich versuchen würde zu sterben. Er bemühte sich mit solcher Konzentration, dass er darüber einschlief.

Im Traum segelte er auf der Mariposa über das Meer bis nach London. José wusste, dass es London war, denn am Ufer stand Jonathan und winkte mit einer englischen Flagge. Auf seiner Schulter saß Carmen, die Reisratte, und mitten in der Flagge war ein Loch. »Das hat jemand mit der Pistole hineingeschossen!«, rief Jonathan in Josés Traum vom Ufer aus. »Aber wer? Wem gehört sie?«

Früher hatte Jonathan gedacht, die Inseln wären von Anfang an grün: Man setzte seinen Fuß darauf und befand sich im Urwald, wo Millionen von großen bunten Blüten an den Bäumen wuchsen und ihren süßlichen Duft verströmten. Isabela war nicht von Anfang an grün gewesen. Und auch hier lag nur vertrocknetes, sonnenverbranntes Land hinter dem Strand. Sein eigener Schatten zeichnete sich mit brutaler Schärfe auf dem Boden ab.

Er folgte einem vor langer Zeit ausgetretenen Pfad zwischen niedrigen Büschen hindurch – und trat beinahe auf das Nest eines Blaufußtölpels. Ein Stück weiter sonnte sich eine Schlange auf einem Stein, zwei Eidechsen huschten davon und ein träger gelber Landleguan beäugte Jonathan mit einem Blick voll gutmütiger Langeweile.

»Du hattest recht«, flüsterte Jonathan. »Mama, du hattest recht. Sie lassen sich von einem dummen Menschen nicht stören. Wenn du nur hier wärst und sie sehen könntest! Die Tiere, und auch die Pflanzen. Sie werden höher und grüner, je weiter man sich vom Ufer entfernt …«

Und da beschloss Jonathan, auf den schwarzen Felsen am Rand der Bucht zu steigen, um die Insel von dort aus zu betrachten: als könnte er sie seiner Mutter zeigen, indem er sie selbst sah. Vielleicht konnte er ihr davon erzählen. Er würde ihr bald begegnen, nicht wahr? Sobald er den Mut fand, noch einmal ins Wasser zu gehen.

Er kehrte zurück zum einen Ende des Strands, kletterte über spitze Lavasteine und verfluchte seine bloßen Füße. Und dann sah er hinunter zum Wasser und entdeckte die Pinguine. Sie waren kleiner und unscheinbarer als ihre schwarz-weißen Verwandten vom Südpol, sie trugen einen schlichten Anzug mit bräunlich gesprenkelter Brust und keinen schwarzen Frack. Dennoch waren es unzweifelhaft Pinguine. Sie spielten im Wasser zwischen den schwarzen Felsen wie Kinder, pfeilschnell, fischschnell. Doch die, die an Land kamen, verloren ihre Eleganz. Sie watschelten langsam und schwankend über die Steine: wie eine Reisegruppe aus älteren Herrschaften, die auf dem Kreuzfahrtschiff ein Gläschen Sekt zu viel getrunken hatten. Er merkte, wie sich ein Grinsen in sein Gesicht stahl. Mama, dachte er, hätte laut gelacht.

Ein paar der Pinguine schienen die Köpfe zusammenzustecken, um über etwas zu tuscheln. Nein, sie hatten sich über etwas gebeugt, das am Boden lag. Einen weiteren Pinguin. Jonathan schluckte. War er tot? Oh, wie satt er den Tod hatte! Er schlich sich überall ein, selbst in den Momenten, in denen man lachen wollte … Dann sah er, wie der Pinguin einen Flügel bewegte, hilflos, schwach, aber lebendig. Jonathan kletterte schneller über die spitzen Steine hinunter, als er es für möglich gehalten hatte.

Als er sich neben den Vogel kniete, wichen die anderen zurück und sahen ihn aus verwunderten Knopfaugen an. Blut hatte das helle Gefieder des Pinguins dunkel verfärbt. Er hatte eine große Wunde an der einen Flanke und offenbar konnte er den Flügel auf dieser Seite nicht bewegen. Es sah aus, als hätte jemand etwas nach ihm geworfen. Einen der scharfkantigen Steine, die hier herumlagen.

»Aber wer?«, wisperte Jonathan. »Wer hat das getan? Weshalb?«

Behutsam hob er den Pinguin hoch und hielt ihn im Arm wie ein Kind. Die blanken Augen des Vogels fanden seine und er las eine Bitte darin: Hilf mir, bat der Pinguin. Es war ein höflicher Pinguin. Wenn du mich hier liegen lässt, werde ich sterben. Es macht nichts aus, denn überall sterben Tiere, jeden Tag, es gehört dazu. Aber mir persönlich würde es doch etwas ausmachen.

»Natürlich«, flüsterte Jonathan. »Natürlich helfe ich dir. Vielleicht gibt es auf der Mariposa etwas, um die Wunde zu säubern. Alkohol. Und Verbandszeug. Ich werde José fragen. Ich …«

Der Pinguin drehte den Kopf und sah aufs Meer hinaus, und Jonathan folgte seinem Blick.

Dort näherte sich vor der sinkenden Sonne von Westen her ein Schiff. Es war größer als die Mariposa, und obwohl er die Farbe nicht genau erkennen konnte, schien es ihm grau. Militärgrau. Jonathan duckte sich instinktiv hinter einen Felsbrocken.

Der Militärsegler glitt jetzt elegant und lautlos in die Bucht hinein, die Segel wurden eines nach dem anderen heruntergenommen und ein Motor sprang an. Das Schiff steuerte direkt auf die ankernde Mariposa zu. Im letzten Moment riss jemand auf dem großen Schiff das Steuer herum und es legte sich längs, Flanke an Flanke mit dem kleinen honiggelben Boot.

War José dort? War er wieder an Bord?

Jonathan sah, wie ein Mann von dem großen Schiff auf die Mariposa hinüberstieg. Er hörte Stimmen, sah den Mann in der Kajüte verschwinden und nach einer Weile wieder auftauchen, um zurück auf den großen Segler zu klettern. Gleich darauf ankerte das Schiff wenige Meter von der Mariposa entfernt. Zwei Männer wateten an Land. Sie gingen über den Strand hinauf, dorthin, wo die ersten, niedrigen Büsche standen.

»Sie suchen etwas«, flüsterte Jonathan. »Sie suchen jemanden. Jemanden, den sie auf der Mariposa nicht gefunden haben. Sie suchen José.«

Aber wo war José? Jonathan konnte ihn am Strand nirgends entdecken. Versteckte er sich zwischen den duftenden Balsambäumen, irgendwo im Schatten, unsichtbar geworden, eins mit der Dämmerung? Wusste er, dass jemand ihm folgte? Jonathan schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Und er merkte, dass er Angst hatte. Angst, dass die Männer José fanden.

Er wartete lange mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, und schließlich hörte er die Stimmen der Männer ganz nah, hörte ihre Schritte vor seinem Felsen über den Strand gehen. Sie sprachen englisch, aber einer, der so weit gereist ist, versteht auch Englisch. Einer, in dessen Pass steht, dass er in London geboren wurde, sollte Englisch verstehen.

»… machen, dass wir hier wegkommen«, sagte der eine. »Das Schiff aus der Bucht schaffen. Es ist gleich dunkel. Du weißt, was bei Einbruch der Dunkelheit passiert.«

»Wir hätten ihnen sagen sollen, dass wir hier sind … Wir sind zu überstürzt aufgebrochen … Über Funk kriege ich keinen rein. Wer konnte auch ahnen, dass er ausgerechnet nach Bartolomé fährt?«

»Wir. Wir hätten es ahnen können. Es ergibt Sinn.«

»Ja. Eine Menge ergibt jetzt Sinn. Lass uns irgendwo draußen auf ihn warten, vor der Bucht. Er sitzt in der Falle hier. Spätestens morgen früh haben wir die Karte in der Hand. Und dann hat es ein Ende mit der Reise der Mariposa. Mariposa! Was für ein harmloser Name, verglichen mit …«

Die Stimmen entfernten sich, und als Jonathan wieder wagte, seinen Kopf hinter dem Felsen hervorzustrecken, wateten die Männer bereits ins Wasser zurück. Sie trugen die Uniformen der US-Marine. Er hatte noch nie jemanden so rasch waten sehen.

Etwas würde auf Bartolomé geschehen, wenn die Sonne unterging, etwas, das man besser nicht miterlebte. Kurz darauf legte das Schiff der Amerikaner ab, ohne Segel zu setzen. Als das Dröhnen des Motors die Bucht verließ, wurde es sehr, sehr still. Die schwarze Nadel des Pinnacle Rock ragte in die Stille wie eine stumme Warnung.

Jonathan stand auf, den Pinguin noch immer auf dem Arm. Mit einem Mal verstand er, warum die Stille so still war. Die Pinguine waren nicht mehr da. Sie mussten allesamt ins Wasser getaucht und geflohen sein. Wovor geflohen?

Es war etwas, das schon häufiger passiert war, immer zur gleichen Zeit, etwas, an das sie sich hatten gewöhnen können.

Jonathan ließ seinen Blick über die Insel schweifen, suchend. Und er entdeckte eine kleine Gestalt, die über den Strand auf ihn zukam. José. Er winkte, aber er sah nicht aus, als hätte er es eilig. Er hatte das Gespräch der Amerikaner nicht gehört.

Denk!, befahl Jonathan sich selbst. Denk, denk, denk! Rascher!

Er sah den verletzten Pinguin an, dachte an den Stein und plötzlich sah er noch etwas. Mehr Steine. Überall verstreut lagen Stücke von Felsen, harte, kantige Stücke, die das Wasser nicht glatt geschliffen hatte. Diese Felsbrocken waren neu. Sie wirkten wie … abgesprengt.

In seinem Kopf tauchten Worte auf: Baltra. Die Amerikaner. Die Militärbasis.

Dann formte sich in der Stille ein hoher Ton, weit, weit fort – mehr die Ahnung eines Tons. Er schmerzte in den Ohren und schwoll langsam an. José war jetzt ganz nah.

Er winkte noch einmal.

Und in diesem Moment begriff Jonathan etwas.

Er hielt den Pinguin ganz fest und rannte los. Nie war er schneller gerannt. Er flog über die spitzen Steine, er spürte nicht, wie ihre Kanten seine bloßen Füße ritzten. Der Ton wurde lauter und lauter und lauter und LAUTER, eine Art seltsames Heulen in der Luft, näher und näher … Jonathan erreichte José mit einem letzten Satz, dort, wo der Felsen in Strand überging. Er riss ihn mit sich zu Boden, und als sie nebeneinander im Sand lagen, drückte er Josés Kopf in den Sand und schützte mit seinem Körper den Pinguin.

Hinter ihnen explodierte die Welt.