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Es regnete Felssplitter. Irgendwo fiel etwas ins Wasser.
Schließlich richtete Jonathan sich wieder auf und zog José hoch.
Der Pinnacle Rock wies stumm in den Himmel: Er wies in die Richtung, aus der die Rakete gekommen war. An seiner Spitze fehlte ein winziges Stück. Kurz hinter Jonathan und José lag ein großer Felsbrocken im Sand.
»Was …?«, fragte José.
»Raketen«, sagte Jonathan. »Die Amis. Sie schießen von Baltra aus.«
Er sah die Verblüffung in Josés Augen. »Woher weißt …«
»Ich weiß es nicht. Aber es wäre eine gute Erklärung. Sie üben. Der Fels ist ein hervorragendes Ziel.«
Er streichelte den verletzten Pinguin. Er hatte Angst gehabt, er hätte ihn bei seinem Sturz gequetscht, aber dem Vogel schien nichts geschehen zu sein.
»Danke«, sagte José leise. »Ich glaube, wir sind quitt. Du hast mich gerettet.«
»Hm«, sagte Jonathan. »Sieht so aus.«
»Warum?«, fragte José. »Und warum bist du gerannt? Ich dachte, du wolltest sterben?«
Jonathan zuckte die Schultern und streichelte weiter den Pinguin. »Oskar«, sagte er. »Ich werde ihn Oskar nennen. Er sieht so aus.« Dann sah er auf und lächelte. Seine blauen Augen lächelten mit. »Vorerst … sterbe ich nicht. Vorerst halte ich andere davon ab, es zu tun. José, wir können ihn doch mitnehmen, oder? Oskar.«
»Wohin?«, fragte José.
»Das wollte ich dich auch fragen«, antwortete Jonathan ernst. »Wohin segeln wir?«
Keiner von ihnen hatte Lust, die Nacht auf Bartolomé zu verbringen. Die Luft um sie schien zu zittern, als sie zurück zur Mariposa wateten – zu zittern in Erwartung eines weiteren hohen Tons, einer weiteren Explosion.
Es war ganz dunkel, als José den Anker aus dem Schlick zog. Und dann segelten sie hinaus in eine weitere pazifische Nacht, eine Nacht voller Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie regnen sollten. Carmen hatte auf Jonathans Schulter Platz genommen, und auf seinem Schoß hielt er Oskar, den Pinguin, der ab und zu kleine besorgte Laute von sich gab.
»So«, sagte José. »Wenn du wirklich mit mir fährst, wird es Zeit zu erzählen. Tausend Geschichten zu erzählen. Du kannst darüber nachdenken, welche du zuerst erzählst, während ich noch eben die Positionslichter …«
»Warte«, unterbrach Jonathan ihn. »Tausend Geschichten können warten. Nur die tausendunderste ist jetzt wichtig. Es ist die Geschichte von einem amerikanischen Schiff, das irgendwo da draußen in der Nacht liegt und lauert. Und dieses Schiff hat keine Lichter gesetzt, da möchte ich wetten. Es wartet auf uns.«
»Das Schiff, das vorhin neben der Mariposa lag und sofort wieder abgefahren ist? Ich habe es gesehen. Und ich glaube, ich kenne es. Das ist die Roosevelt. Ein etwas zu groß geratener Name für so ein kleines Schiff. Sie kommt von Baltra. Meine Brüder haben erzählt, bis vor Kurzem sei sie ein privater Segler gewesen. Die Amis haben sie zu einem Militärschiff gemacht. Sie haben dem Besitzer eine Menge Geld gezahlt. Die Roosevelt ist nicht das einzige Schiff, das seine Farbe gewechselt hat, um in den Krieg zu ziehen.«
Jonathan lächelte über seine Worte. Es war nicht wirklich so, dass dieses Schiff heroisch beflaggt in den Krieg zog. Die Roosevelt war also eines der vielen Kontrollschiffe, die die Inseln patrouillierten. Aber jetzt war sie auf der Suche.
»Sie suchen«, sagte Jonathan langsam. »Sie suchen … dich.«
Keiner der Männer hatte Josés Namen erwähnt – doch nach wem sollten sie sonst suchen?
»Ich habe sie reden hören«, fuhr Jonathan fort. »Sie sind hinter einer Karte her. Das ist eine der tausend Geschichten, die erzählt werden müssen, nehme ich an.«
José nickte. »Keine Positionslichter also«, sagte er.
So verließ die Mariposa Bartolomé genauso unsichtbar, wie sie Baltra verlassen hatte. Ein Geisterschiff.
Jonathan tastete sich unter Deck und fand nach langem Suchen auf einem der Regale eine Kerze und Streichhölzer. »Die eine Kerze unter Deck wird niemand sehen«, flüsterte er zu José hinauf. »Es ist wegen Oskar. Ich muss mich endlich um seine Wunde kümmern. José? Rauchst du?«
»Manchmal. Warum?«
»Es ist nur … es riecht hier so nach Tabak«, sagte Jonathan. »Vorhin roch es noch nicht nach Tabak.« Dann fiel ihm ein, dass José an Land gewesen war, genau wie er selbst. Carmen kletterte von seiner Schulter und setzte sich auf den Kajütentisch, um sich im Licht der Kerze zu putzen. Ihre Augen glitzerten schlau. Sie wusste mehr als er.
»Wenn du es bist, die raucht«, sagte Jonathan streng, »tu das bloß nicht dort hinten bei den Benzinkanistern. Die Dinger explodieren, verstehst du?«
Er würde später über die Sache mit dem Tabak nachdenken. Zunächst brauchte er etwas, um Oskars Wunde zu desinfizieren. Er fand eine Flasche Rum zwischen den Dosen mit dem eingemachten Fleisch und ein paar alte Kleider neben den Kanistern. Der Stoff war brüchig, es war leicht, einen Streifen davon abzureißen. Oskar beobachtete ihn ängstlich, als er sein Gefieder mit dem rumdurchtränkten Hemdstoff säuberte. Aber er hielt brav still und ließ sich verbinden. Jonathan arbeitete sorgfältig und konzentriert – und dann wurde ihm klar, dass es nicht Oskar war, den er verband. Im Geiste verband er andere Leute: seine Schwester Julia. Seine Mutter. Seinen Vater.
Er verbarg sein Gesicht in Oskars weichem Gefieder und atmete den tranigen, salzigen Fischgeruch. So saß er lange auf der schmalen, harten Bank, den Pinguin im Arm, bis er merkte, dass der Vogel eingeschlafen war. Er legte die Wolldecke auf den Boden und bettete den Vogel darauf. Dann nahm er eine Dose mit eingemachten Erbsen vom Regal und stieg zurück an Deck. »Zwei Fragen«, sagte er. »Erstens: Hast du etwas, um diese Dose zu öffnen? Zweitens: Willst du mir nicht endlich erzählen, wohin wir fahren und weshalb?«
So erzählte José die Mariposa durch die Nacht und durch die Angst, von dem anderen Schiff entdeckt zu werden. Er erzählte von Baltra und von der Farm zu Hause auf Isabela und von seinen erwachsenen Brüdern. Vom Fliegen erzählte er und von seinem Traum, ein Held zu sein. Und zum Schluss davon, was der junge Amerikaner am Hafen gesagt hatte.
»Wir werden herausfinden, wer auf der Isla Maldita lebt«, sagte er. »Falls jemand dort lebt. Und dann werden wir fliegen. Wir beide. Wie die Fregattvögel.«
Jonathan schwieg lange.
»Und die Karte?«, fragte er schließlich. »Sie haben gesagt, sie suchen eine Karte.«
»Ja, das … das ist seltsam«, sagte José. »Ich habe eine Karte. Die Kopie einer Karte. Angeblich liegt ein alter Piratenschatz auf der Isla Maldita. Aber wer glaubt schon an Piratenschätze? Der Letzte, der daran glaubte, war mein Urgroßvater. Und der ist nicht zurückgekommen von der Insel.«
»Vielleicht finden wir ihn dort«, sagte Jonathan. »Er sitzt mit dem Schatz ganz allein auf der Insel und ärgert die Amerikaner, wenn sie vorbeifahren.«
»Hm«, sagte José und überlegte. »Hundertundzwei. Er wäre jetzt hundertundzwei. Irgendwie unwahrscheinlich. Aber eine hübsche Vorstellung: wie der zahnlose Alte dasitzt und einen Berg Diamanten lutscht wie Bonbons …«
In diesem Moment rissen die Wolken auf, genau wie in der Nacht zuvor, und das Mondlicht fing sich gleißend hell in den Segeln der Mariposa.
Jonathan sah sich um. »José«, flüsterte er. »Sieh nur.«
Hinter ihnen fing sich das Mondlicht in den Segeln eines zweiten Schiffs. Eines größeren, stolzeren Schiffs. Die Roosevelt. Sie hatte wirklich keine Lichter gesetzt. José fluchte. Das andere Schiff war ein gutes Stück entfernt – weit genug, um zu hoffen, dass die Männer darauf die Mariposa noch nicht entdeckt hatten. Links von ihnen erstreckte sich die Küste von Santiago. An manchen Stellen lagen große, zerklüftete Felsen vor der Küste.
»Kopf runter!«, zischte José. Jonathan gehorchte, und der Mastbaum schwang zur anderen Seite, als José die Mariposa abrupt wendete. Dann drückte José Jonathan das Steuer in die Hand.
»Zwischen die Felsen!«, sagte er. »Steure sie zwischen die Felsen!«
Jonathans Hand zitterte, als er das Steuer übernahm. Es war wahrscheinlicher, dass er das Schiff gegen die Felsen steuerte. Doch José war schon nach vorn geklettert, um die Taue der Segel zu lösen. Als sie am ersten der Felsen vorüber waren, ließ er das Großsegel herunter und rief etwas, das Jonathan nicht verstand, aber er riss das Ruder herum. So glitt die Mariposa mitten zwischen die Felsen. Sie streifte einen von ihnen, ein hässliches Schaben ertönte, einen Moment später hatte José das Vorsegel eingerollt und den Anker geworfen. Die Mariposa ruckte einmal an der Ankertrosse und stand, zitternd wie ein Pferd nach einem Wettlauf.
José kletterte zurück nach hinten und eine Weile saßen er und Jonathan ganz still nebeneinander. Sie sahen die Roosevelt nicht mehr, zwei der hohen Felsen lagen jetzt zwischen ihnen und dem offenen Wasser.
Es wird nichts nützen, dachte Jonathan. Es ist ein schlechtes Versteck. Es gibt keine guten Verstecke für eine ganze Jacht, nicht einmal für eine so kleine Jacht wie die Mariposa …
»Jonathan!«, flüsterte José und zeigte auf eine Lücke zwischen den Felsen. »Sie … sie fahren vorüber! Sie fahren einfach weiter!«
Josés Augen glänzten in der Dunkelheit. Es schien ihm direkt Spaß zu machen, verfolgt zu werden. In der Ferne wurde die Roosevelt kleiner und kleiner und schließlich verschluckte die Nacht sie ganz.
In dieser Nacht träumte Jonathan wieder von Hamburg. Die Träume ließen ihn nicht los, sie brachten die Vergangenheit zurück, sobald er schlief.
Im Traum blickte er in Frau Adams Gesicht. Sie hatte sich über ihn gebeugt und er hörte sie Worte flüstern. »Armes, armes Kleines«, flüsterte sie. »Mein armes Kleines!«
Ihr Haar war bedeckt mit weißem Staub. Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht und auch in seinem Gesicht war Staub. Staub und Blut. Da war eine Wunde an seiner Stirn. Sie brannte und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schläfen.
»Mein armes Kleines!«, wiederholte Frau Adam. »Gut, dass du wieder zu dir kommst. Das mit der Lampe tut mir leid. Ich musste dich … außer Gefecht setzen. Du warst drauf und dran, die Tür zu öffnen und uns alle in den Tod zu reißen. Drauf und dran …«
Er drehte den Kopf. Er befand sich nicht mehr im Luftschutzkeller. Er befand sich in einer fremden Wohnung. Stimmen schwirrten ziellos umher. Jemand weinte. Die Luft roch verbrannt. Jonathan kam auf die Beine und fand ein Fenster, dessen Verdunkelung bereits entfernt worden war, um den Morgen einzulassen. Er kannte die Straße, die er sah. Sie befand sich nicht weit von seiner eigenen Straße entfernt.
»Wir sind bei meiner Schwester«, sagte Frau Adam. »Richard hat geholfen, dich herzutragen. Obwohl es überall noch gebrannt hat. Du hast dich ja nicht gerührt, nicht wahr … Das Haus – unser Haus –, es steht nicht mehr. Es ist ausgebrannt. Wir hatten Glück.«
Jonathan drehte sich um und sah, dass sie mit einer Hand ihre Stehlampe umklammerte. Sie hatte sie also mitgenommen. Die Stehlampe war alles, was vom Haus Nummer 19 geblieben war. Und dann erinnerte er sich wieder an seinen Kampf mit Richard, an die Tür des Luftschutzkellers, an das Beben des Bodens; an alles.
Vor allem an ein Lächeln in der Nacht, Mamas Lächeln.
»Halt deinen Bären gut fest«, hörte er sie wieder zu Julia sagen. »Denn jetzt rennen wir.«
Er war mit drei Schritten bei der Tür, durchquerte einen fremden Flur, hörte Frau Adam hinter sich rufen – rannte durch eine fremde Haustür in einen fremden, verbrannten Morgen hinaus und bog kurz darauf in seine eigene Straße ein. Doch es war nicht mehr seine Straße. Er blieb stehen. Die Häuser hatten sich in schwarze Gerippe verwandelt. Manche besaßen noch Mauern. Bei einem konnte man in die Zimmer hineinsehen, weil die Vorderwand fehlte. Schließlich stand er vor den schwelenden Resten des Hauses Nummer 19. Der Eingang zum Luftschutzkeller von Nummer 21 war halb von Steinbrocken zugeschüttet. Und mitten zwischen den Steinen lag etwas. Etwas Rotes. Ein rotes Band. Jonathan bückte sich und zog daran. Dann hielt er einen Teddybären in den Händen, einen staubigen, dreckigen Teddybären mit einer roten Schleife um den Hals. Da war noch etwas, etwas aus kariertem Stoff. Eine alte Schiebermütze.
Aber niemand mehr, der sie aufsetzen konnte. Und niemand, der den Bären an sich drückte.
Er hielt ihn fest und ging langsam hinüber zu Nummer 19. Stieg über Mauerreste in die Ruine, die kein Haus mehr war. Der beißende Rauch, der noch immer von den verkohlten Balken aufstieg, ließ seine Augen brennen. Doch er weinte nicht.
Jemand sagte seinen Namen. Er drehte sich um. Mitten in der Ruine stand Richard, groß, blond, noch immer in Uniform. Rußverschmiert.
»Es ist gefährlich, die Häuser zu betreten«, sagte er. »Alles, was hier noch steht, kann jederzeit einstürzen. Wir haben Anweisung, Frauen und Kinder davon abzuhalten, die Ruinen zu durchsuchen.« Richard trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn am Arm, sanft diesmal, als müsste er ihn festhalten. Ihn beschützen. Er war Jonathan zu nah. Sein Atem war warm. »Es tut mir leid«, wisperte er. »Das mit deiner Mutter und deiner Schwester.«
Das war der Moment, in dem Jonathan verschwand.
Die Person, die eine kleine Schwester namens Julia und eine Mutter im Haus Nummer 19 gehabt hatte, machte sich ganz klein und verkroch sich, weit, weit fort vom Licht des Morgens und von Frau Adams Mitleid und Richards Atem. An einem Ort, wo niemand sie finden konnte, tief im Inneren einer Hülle.
Die Hülle hatte die Form einer Person mit einem Teddybären und einer alten Mütze in der Hand. Aber wirklich nur die Form. Richard half dem, was er für jene Person hielt, über die halb eingestürzte Mauer, und als Jonathan stolperte, streiften Richards Lippen wie zufällig seine Wange. Aber für einen Zufall verharrten sie etwas zu lange dort, pressten sich an ihn …
»Jonathan!«
Er öffnete die Augen. Es waren nicht Richards Lippen, die sich an seine Wange pressten. Es war ein Pinguin. Jonathan lag zusammengerollt auf dem Kajütendach der Mariposa, und Oskar war ihm offenbar gefolgt, um in seiner Halskuhle zu schlafen. Über ihnen stand José und schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?«
»Ich … habe geträumt«, sagte Jonathan und setzte sich auf. »Manchmal gehe ich im Traum irgendwohin. Wie in der Nacht, als du mich aus dem Wasser gezogen hast. Da bin ich im Traum über Bord geklettert.«
José nickte langsam. »Jetzt habe ich wenigstens eine Antwort auf meine tausend Fragen.«
»Wenn wir gerade dabei sind, kann ich die anderen auch beantworten«, sagte Jonathan und streichelte Oskar. »Sie sind tot.«
»Wie bitte?«, fragte José.
»Das wolltest du doch wissen. Wo meine Eltern sind. Es war ein Bombenangriff, nachts. Die Stadt hat gebrannt …«
»London«, sagte José.
»Ja«, sagte Jonathan. War es nicht egal, ob es London oder Hamburg gewesen war? Wo lag der Unterschied? »Sie haben es nicht mehr in den Keller hinuntergeschafft. Nur ich war dort unten. Sie waren draußen. Meine Mutter und meine kleine Schwester. Julia.« Er griff in seine Tasche und legte eine alte Mütze und ein Stück rotes Band vor José aufs Kajütendach. »Das ist alles, was von ihnen übrig geblieben ist. Die Mütze … gehörte meinem Vater. Aber meine Mutter hatte sie in der Nacht auf. Und das rote Band gehörte Julias Teddybären. Später, auf unserer Reise, ist es abgegangen, deshalb habe ich es in der Tasche. Der Teddybär ist vermutlich noch bei Wa… bei Smith.«
»Bei wem?«
»Smith. Er hat mich rausgeholt. Aus Ha… aus London.«
»Ist er … ein Freund deiner Eltern?«
»Nein«, sagte Jonathan schroff. »Der Bruder meiner Mutter. Sie haben schon ein paar Jahre lang nicht miteinander geredet. Nur … früher. Meine Mutter, weißt du, sie hat immer von den Galapagosinseln gesprochen. Sie wollte so gern hierher auswandern. Es war nur ein Traum. Und dann ist sie gestorben und der Traum war zu Ende geträumt. Aber eines Tages stand ihr Bruder vor der Tür. Vor der Tür von Frau Adams Schwester, bei der ich wohnte. Und er sagte: Wir fahren. Einfach so, ganz plötzlich. Wir fahren zu den Galapagosinseln, M… Jonathan, genau so, wie deine Mutter es sich gewünscht hat. Niemand hat geglaubt, dass er es ernst meint. Es war zu verrückt. Aber hier bin ich: auf den Galapagosinseln.«
José nickte. »Hier bist du«, sagte er, »und ein Glück, sonst hätte ich niemanden, der mit mir zur Isla Maldita fährt, denn dazu ist nun wahrhaftig niemand verrückt genug. Aber hör mal, willst du wirklich mitfahren? Willst du nicht zurück zu deinem Onkel?«
»Nein«, sagte Jonathan sehr bestimmt. »Das will ich nicht.«
José zuckte die Schultern und kletterte hinunter in die Kajüte, um den dreibeinigen Gaskocher zu holen. Dann kochten sie Kaffee in einem Topf und öffneten eine Dose, deren Aufschrift man nicht mehr lesen konnte. Carmen reckte neugierig ihre winzige braune Schnauze und Oskar fischte etwas Orangefarbenes aus der Dose und verschlang es gierig. Dann streckte er den Schnabel und angelte sich ein zweites orangefarbenes Etwas …
»Eine Dose mit Pinguinfutter?«, fragte Jonathan zweifelnd.
José roch an der Dose. »Krabbensuppe«, sagte er. »Du meine Güte, der alte Juan Casaflora hat nicht schlecht gelebt. Da ist noch eine Menge solcher Dosen. Allerdings hätte er sich die Krabben auch an den Stränden der Inseln fangen können.«
So frühstückten sie Kaffee und Krabbensuppe, und José sagte, nun brauchten sie nur noch eine Flasche Sekt, um auf den Beginn ihrer gemeinsamen Reise anzustoßen.
Dann sah er zwischen den Felsen hindurch aufs Meer hinaus und wurde plötzlich ernst.
»Das nächste Stück unserer Reise ist das längste«, sagte er. »Vor der Insel Marchena gibt es kein Festland und bis dorthin sind es mehrere Tage. Das ist offener Ozean, es gibt keinen Windschutz durch die anderen Inseln, es gibt …« Er seufzte. »… nichts.«
»Wie lange werden wir nach Mar… zu dieser Insel brauchen?«
José zuckte die Schultern. »Wenn der Wind so bleibt wie jetzt – zwei Tage? Wenn er dreht … kann es eine Woche dauern. Länger.«
»Du warst noch nie dort.«
José schien zu überlegen, ob er sagen sollte, was er als Nächstes sagte. »Ich war noch nie irgendwo. Ich war immer nur auf Isabela. Und dann habe ich mich mitnehmen lassen nach Baltra, vom alten Silvio. Mein Vater kennt ihn. Er hat ein bisschen zu viel Geld und eine schöne Jacht. Die Albatros. Er hat mich schon früher manchmal mitgenommen, ist mit mir vor der Küste von Isabela herumgekreuzt und hat mir das Segeln beigebracht. Aber diese Tour … ist die längste, die ich bis jetzt allein gesegelt bin. Es … ist die erste.«
Jonathan nickte stumm.
»Na«, sagte er, »es ist auch für mich die erste Tour auf einem so kleinen Schiff. Und für Oskar.« Er schüttelte etwas Kleines, Braunes aus seinem Ärmel, das empört quiekte. »Nur bei Carmen wäre ich mir nicht so sicher.«
»Wenn ihr trotzdem mitkommen wollt …«, sagte José. Niemand widersprach. »Dann gehe ich jetzt ein letztes Mal an Land«, fuhr José fort. »Von hier aus kann man vermutlich nach Santiago schwimmen.« Er verschwand unter Deck, und als er diesmal wieder auftauchte, trug er ein Gewehr über der Schulter. Jonathan wich zurück.
»Was willst du denn damit?«, fragte er.
»Einen Vogel schießen«, antwortete José. »Oder ein wildes Schwein. Wir sollten die Gelegenheit nutzen, frisches Fleisch an Bord zu nehmen. Vielleicht finden wir auf Marchena keins.« Er legte das Gewehr an und zielte auf einen Punkt am Horizont. »Eines Tages«, sagte er, »ziehe ich nach Europa und knalle die Deutschen alle ab.«
»Warum?«, fragte Jonathan zögernd.
José bewegte das Gewehr und auf einmal zielte sein Lauf auf Jonathan. Er spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte. Wusste José, wer er war?
»Weil ich sie hasse«, sagte José. »Ich hasse alle Deutschen. Alle.«
Hatte er seinen Akzent erkannt? Jonathan überlegte, was er tun würde, wenn José abdrückte. Nichts vermutlich. Fallen. Vielleicht schreien.
»Sie haben den Krieg gemacht«, fuhr José fort. »Sie sind schuld, dass deine Mutter tot ist und deine Schwester. Hasst du sie nicht?«
»Ich … nein … doch.« Jonathan merkte, wie sehr seine Stimme zitterte. José wusste gar nichts. Gar nichts. Er spielte nur mit seinem dummen Gewehr. Aber wenn du jemanden abknallen willst, magst du den Krieg, wollte er sagen. Du bist ja wie sie! Er sagte es nicht. Er sagte: »Dann geh und schieß deinen Vogel. Aber beeil dich. Vielleicht kommt die Roosevelt noch einmal zurück, um nach uns zu suchen. Weshalb auch immer.«
»Ach was«, sagte José, »die ist längst weit weg. Warte hier auf mich. Lass die Mariposa nicht allein, hörst du? Auf keinen Fall. Ich bin bald wieder da.«
Kurz darauf beobachtete Jonathan, wie José, das Gewehr mit einer Hand über den Kopf haltend, ans Ufer schwamm. Als er dort ankam, winkte er. Mit dem Gewehr.
»Loco«, sagte er leise. »Ein Verrückter. Wenn auch nicht halb so verrückt wie die Idee, von Hamburg auf die Galapagosinseln auszuwandern.« Aber vielleicht, dachte er, war auch sein Onkel nicht so verrückt gewesen, wie alle geglaubt hatten. Vielleicht hatte seine Idee, auszuwandern, überhaupt nichts mit Jonathans Mutter und ihrem Traum zu tun gehabt.
Thomas Waterweg war durch und durch deutsch. Ein Nationalsozialist. Einer von jenen, die glaubten, die Welt gehörte den Deutschen, den blonden blauäugigen Deutschen und niemandem sonst. »Eine lächerlich dumme Idee«, hatte Jonathans Mutter gesagt, »so lächerlich, dass man kaum glauben kann, dass ein Weltkrieg daraus entstanden ist.«…Aber das hatte sie nur leise gesagt und auch nur zu Hause, wo niemand sie hörte. Thomas, ihr Bruder, hatte den Krieg bisher von seinem Schreibtisch aus mitverfolgt. Er hatte Kontakte. So gute Kontakte, dass er nicht eingezogen worden war.
Und hier hatten die Amerikaner also eine Militärbasis auf Baltra, von der aus sie den Panamakanal kontrollierten. Es gab sicherlich eine Menge Leute in Deutschland, die genauere Informationen über jene Militärbasis durchaus interessant gefunden hätten.
Nein, dachte Jonathan, sein Onkel hatte den sicheren Schreibtisch nicht verlassen, um aus einer Laune heraus quer über den Pazifik zu fahren. Er war gekommen, um auf Baltra für die Deutschen zu spionieren.
Jonathan streichelte gedankenverloren den Pinguin Oskar, der den Kopf vertrauensvoll in seine Hand gelegt hatte. »Und vermutlich war es praktisch, auf der Reise einen netten kleinen Jungen bei sich zu haben, zur Tarnung«, sagte er zu Oskar, auf Deutsch. Pinguine verstanden alle Sprachen der Welt, das war bekannt. »Wer verdächtigt einen Onkel, der mit einem netten kleinen Jungen und einem englischen Pass aus Europa flieht? Nun, der nette kleine Junge ist ihm abhandengekommen. Er ist unterwegs mit einem, der alle Deutschen hasst, auf dem Schiff eines Toten, in dessen Kajüte plötzlich Pistolen auftauchen.«
In diesem Moment tauchte noch etwas auf. Es tauchte in einer der Lücken zwischen den Felsen auf, durch die Jonathan hinaus aufs Meer sehen konnte, und es war ein Schiff. Ein grauer Militärsegler. Die Roosevelt war zurückgekommen. Er beobachtete mit rasendem Puls, wie sie näher kam, wie sie sich der Küste näherte – und atmete auf, als sie einige Hundert Meter entfernt vor einem anderen Felsen ihre Fahrt stoppte, einem flachen Felsen, über den man die Insel trockenen Fußes erreichen konnte. Dort machten die Männer das Schiff mit einem dicken Tau fest, das sie um ein Stück des Felsens schlangen: Sie hatten einen natürlichen Hafen gefunden. Aber sie waren nicht gekommen, weil sie einen besonders hübschen Hafen gesucht hatten. Sie waren gekommen, weil sie etwas anderes suchten. Etwas, das ihnen entkommen war.
Er sah ihre Uniformen, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Männer in amerikanischer Uniform hinter José her waren: José, der die Amerikaner vergötterte, der so gern mit ihnen in den Krieg gezogen wäre … Er sah, wie sie zielstrebig die Küste hinaufgingen. Über ihren Schultern lagen Gewehre.
Jonathan war sich jetzt sicher, dass sie die Mariposa in ihrem Versteck nicht gesehen hatten. Aber vielleicht hatten sie etwas anderes gesehen. Vielleicht hatten sie José gesehen, wie er im Unterholz verschwunden war.
Die Hitze im Inneren der Insel umgab José wie ein lebendiges Wesen. Sie waberte zwischen den niedrigen Büschen und Farnen umher, schloss ihn ein und setzte sich auf ungewohnte Weise in seine Lungen. Schon zwei Tage auf dem Wasser hatten ihn die Hitze beinahe vergessen lassen.
Während der letzten Monate hatte sich die graue Geisterlandschaft der Küsten in einen großblättrigen Streifen niedrigen Grüns verwandelt, aber es wuchsen nur wenige Bäume darin, die Schatten spendeten. Er sah zum Himmel. Der Regen blieb seit zwei Wochen aus.
Die Wolken, die in den letzten Nächten das Mondlicht gestohlen hatten, waren weitergezogen, ohne abzuregnen. José dachte an die Farm zu Hause und an Mama Carmelita, die ebenfalls auf den Regen wartete. Dann dachte er an die Wasserkanister auf der Mariposa. Wenn es nicht mehr regnete, würde das Wasser nicht ausreichen. Nicht für zwei Leute …
Es raschelte vor ihm im Gebüsch und er blieb stehen. Ein Leguan tauchte aus den Sträuchern auf, reckte den gelben Kopf und sah José erwartungsvoll an, wie ein Hund, der auf ein Stück Wurst hoffte. José lächelte erleichtert. »Ich habe nichts für dich«, sagte er. »Ich kenne euch Bettler von zu Hause. Verschwinde!«
In diesem Moment raschelte es wieder, näher diesmal, und eine panische Explosion aus bunten Federn brach neben José aus dem Unterholz. Etwas war durch den Wald unterwegs, etwas Großes, das die anderen Tiere erschreckte. José sah sich um. Er musste ein ganzes Stück gestiegen sein. Hier gab es mehr Grün, lange Bartflechten bedeckten die Guavenbäume. Zwischen den bemoosten Stämmen raschelte es noch einmal. Was da raschelte, befand sich hinter einem dichten Gestrüpp voll weißer Blüten. »Schicksalsbäume« hießen die Pflanzen bei den Leuten von den Inseln. José nahm das Gewehr von der Schulter.
Vorsichtig teilte er die Zweige und pirschte sich hindurch, das Gewehr im Anschlag. Was da vor ihm Äste brach und Blätter zertrat, besaß die ungefähre Größe und Höhe eines Menschen. War einer der Siedler von der anderen Seite der Insel hier im Wald unterwegs?
Nein, sagte sich José, vermutlich handelte es sich um ein Tier. Ein Tier, das er schießen konnte. Er schlüpfte unter den letzten weiß blühenden Zweigen hindurch und stand auf einer Lichtung. Schwarze Lavafelsen säumten sie, überwuchert von den grünen Ranken und den faustgroßen duftenden Blüten einer Passionsblume. Und mitten auf der Lichtung stand das, was geraschelt hatte, und sah José entgegen.
Jonathan wartete lange auf José.
Er fand einen Eimer unter Deck und füllte ihn mit Meerwasser, um den Kaffeetopf und die beiden Suppenlöffel zu waschen. Und wartete. Er ordnete die Dosen auf den Regalen der Größe nach. Und wartete. Er wechselte Oskars Verband. Und wartete. Ab und zu warf er einen nervösen Blick zur Roosevelt hinüber, doch auch sie wartete vergeblich darauf, dass ihre Besatzung zurückkam. Die Sonne schien warm auf das Deck der Mariposa. Irgendwann döste Jonathan ein, und die Träume von der Vergangenheit, die ihn nicht losließen, hatten ihn wieder.
Er träumte von seiner Mutter. Sie saß zu Hause, in Hamburg, in dem großen alten Ohrensessel, und draußen schneite es deutschen Schnee. Es roch nach Zimt. Er und Julia saßen auf dem Sofa und lauschten den Wörtern, die Mama vorlas: langen komplizierten Wörtern – den Namen von Tieren und Pflanzen, die es nur auf den Galapagosinseln gab. Ihre Augen leuchteten bei jedem dieser Namen. Schließlich klappte sie das Buch zu. »Die Zimtsterne brennen an«, sagte sie. »Aber eines Tages, das versprech ich euch, backen wir Zimtsterne auf den Galapagosinseln. Eines Tages fahren wir dorthin und bauen uns dort ein Haus und vor der Tür blühen die Orangenbäume …«
Ehe Jonathan geboren worden war, hatte Mama Biologie studiert. Es gab nicht viele Frauen, die studierten, und die wenigen heirateten gewöhnlich irgendwann und hörten dann damit auf. Aber eigentlich hatte Mama nie aufgehört zu studieren. Sie hatte Bücher gelesen, Bücher und Bücher und Bücher, und am meisten liebte sie jene Bücher über die Galapagosinseln. Ihr alter Dozent war dort gewesen, Professor Blumenhaus. Jonathan kannte ihn nicht. Irgendwann war er aus Hamburg verschwunden, und Mama stellte sich gern vor, er wäre auf die Inseln ausgewandert.
»Wisst ihr noch, Blumenhaus’ Schmetterling?«, fragte sie, während sie das Blech mit den Zimtsternen aus dem Ofen zog. »Der Schmetterling, den er immer finden wollte?«
»Ja!«, rief Julia und hopste in der Küche auf und ab. »Er ist blau mit goldenen Punkten!«
»Richtig.« Mama nickte. »Professor Blumenhaus hat immer gesagt: Alle reden von den Echsen und den Seehunden auf den Galapagosinseln, aber niemand hat sich je mit den Schmetterlingen befasst. Er wollte der Erste sein. Er wollte den blauen Schmetterling mit den goldenen Flecken fangen, den er dort gesehen hatte. Er ist in keinem Buch erwähnt. Stellt euch vor, eines Tages stelle ich ein Blech mit Zimtsternen vor unsere Inselhütte und der blaue Schmetterling kommt angeflogen und setzt sich darauf …«
»Kann mein Bär mit auswandern?«, fragte Julia. »Er mag Schmetterlinge.«
»Sicher«, sagte Jonathan. »Wir wandern alle zusammen aus. Du und dein Bär und Mama und Papa und ich.«
Als Jonathan aufwachte, sah er noch eine Weile Mamas Inselhütte vor sich, zwischen den Orangenbäumen, und er musste lächeln. Natürlich war es nur ein dummer Traum gewesen, eine Seifenblase, und dann war der Krieg gekommen. Und Papa war eingezogen worden, er war in ein Flugzeug gestiegen und aus Frankreich nicht zurückgekehrt. »Vermisst«, sagten sie. »Er wird vermisst.« Und natürlich vermissten sie ihn. Aber eigentlich bedeutete es, dass er tot war, mausetot und kalt lag er irgendwo in Frankreich in der Erde, und das wusste sogar Julia.
Jonathan schüttelte die Gedanken an seine Familie ab. Die Sonne war ein gutes Stück weitergerückt. Wo war José?
Auch das große Schiff der Amerikaner lag nach wie vor verlassen an seinem Felsen. Aber der Felsen lag nicht mehr verlassen. Darauf hatte sich eine Gruppe Flamingos versammelt, die Hälse hinabgereckt, als wollten sie mit ihren gebogenen Schnäbeln den Stein glatt schleifen. Dann wurde ihm klar, dass sich Salzwasser in großen Pfützen auf dem Felsen gesammelt haben musste. Mama hatte ihm erzählt, dass Flamingos von winzigen Krebsen lebten, die sie aus dem Wasser filterten. »Wenn du sie sehen könntest!«, flüsterte er. »Wenn du sie nur …«
In diesem Moment hallte ein Schuss von der Insel her.
Jonathan lag auf dem Boden der Mariposa, ehe er überhaupt begriff, dass er sich hingeworfen hatte. Ein zweiter Schuss folgte. Ein dritter. Dann war es still.
So still wie auf Bartolomé, ehe die Rakete einschlug.
Er spürte Oskars weichen Körper, der sich Schutz suchend an ihn drückte.
»Ein Paradies«, wisperte er. »Waterweg hat gesagt, die Galapagosinseln sind ein Paradies, weit weg vom Krieg. Aber er hat sich getäuscht.«