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Als Jonathan schließlich wagte aufzusehen, standen die Flamingos nicht mehr auf dem flachen Felsen. Sie würden wiederkommen. Auch die anderen Vögel, die ins Unterholz geflohen waren, würden wiederkommen. Nur einer, der käme vielleicht nicht wieder. José.
»Lass die Mariposa nicht allein«, hatte er gesagt.
»Aber dich, dich soll ich allein lassen?«, murmelte Jonathan. »Oskar«, sagte er dann. »Ich fürchte, du wirst eine Weile auf die Mariposa aufpassen müssen. Segle nicht ohne uns weg, ja?« Er versuchte zu lachen, doch das Lachen kratzte in der Kehle. Er betrachtete einen Moment lang die Roosevelt, die ebenfalls allein gelassen im Wasser lag. Und auf einmal wusste er, was er zu tun hatte. Er steckte das Brotmesser ein. Es würde scharf genug sein, um ein Tau zu durchtrennen.
Etwas bewegte sich auf seinem Kopf. Carmen, die Ratte. Sie schien entschlossen, ihn zu begleiten. Beinahe war er erleichtert darüber, nicht allein gehen zu müssen. Er schwamm ans Ufer und war kurz darauf über den flachen Felsen unterwegs, zu dem die Flamingos tatsächlich zurückgekehrt waren. Doch als sie ihn kommen sahen, stiegen sie direkt wieder auf, panisch, als wäre er der gefährlichste Feind, den sie sich vorstellen konnten.
Eine merkwürdige Sorte Feind, dachte Jonathan, ein Brotmesser in der Hand, eine Ratte auf dem Kopf.
Minuten nachdem er das Tau durchgesäbelt und das Militärschiff befreit hatte, trat er zwischen die ersten dornigen Büsche der Insel. Er folgte einer Spur aus umgeknickten Ästen.
»Ist das nicht seltsam?«, sagte er leise zu Carmen. »Hier wandere ich durch die Hitze, um einen zu retten, der alle Deutschen abknallen will. Aber er weiß natürlich nicht, wer ich bin. Manchmal glaube ich selbst beinahe, mein Name wäre Jonathan.«
Er ging auf den Ort zu, von wo die Schüsse gekommen waren, ins Inselinnere. Aber irgendwann war er sich nicht mehr sicher. Außer niedrigem Farn und Büschen war nichts zu sehen. Auf den Lavafelsen wanden sich die Ranken von verschwenderisch bunten Passiflorablüten, tausend kleine Vögel waren dort unterwegs, und große, träge Landleguane saßen sonnentrunken zwischen den Steinen. Manche von ihnen kamen näher, als sie Jonathan entdeckten.
»Habt ihr gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Jonathan, erst auf Deutsch, dann auf Spanisch und schließlich auf Englisch. Die Leguane folgten ihm ein Stück, die hungrigen Augen auf seine Hosentaschen gerichtet. Schweigend.
»Ich suche einen Freund!«, rief Jonathan verzweifelt. »Meinen einzigen Freund! Alle anderen Freunde, die ich hatte, hat der Krieg verschluckt!«
Er dachte erst über seine Worte nach, als er sie hörte. Einen Freund. War José ein Freund? José, der nichts mit ihm gemein hatte? Der Tiere schoss und über den Pazifik segelte und alle Deutschen hasste? Er kannte ihn kaum. Aber es war die Wahrheit: Er war der Einzige, der ihm blieb. Den Einzigen durfte man nicht verlieren.
Die Bäume um Jonathan wurden höher, behängten sich mit dichten Flechten und schlossen sich zu einem Wald voll raschelnder grüner Schatten. Jonathan blieb stehen. Er hatte keine Chance, José zu finden.
Und genau da fand er ihn. Oder eigentlich fand Carmen ihn. Sie gab eine Serie aufgeregter Fieplaute von sich, kletterte an Jonathan hinab und wuselte davon, mitten hinein in ein dichtes Gebüsch. Jonathan folgte ihr. Als er die Zweige teilte, rieselten Millionen weißer Blütenblätter zu Boden. Sie rieselten auf das Gras einer felsigen Lichtung. Und dort lag José. Er lag auf der Seite, reglos, sein schwarzes Haar verklebt von Blut.
Jonathan schluckte. Dann sah er im beißenden senkrechten Sonnenschein, dass sich Josés Brust hob und senkte. Er atmete. Carmens kleiner brauner Körper schlängelte sich durch das hohe Gras und schmiegte sich gleich darauf in Josés reglose Hand. Jonathan wollte ihr folgen – da trat jemand auf der anderen Seite der Lichtung aus dem Unterholz.
Es waren zwei Männer. Zwei Männer in Uniform. Er machte einen Schritt zurück in den Schutz der weiß blühenden Zweige. Die Amis von der Roosevelt.
Sein erster Gedanke war: die Schüsse. Die Amis haben auf ihn geschossen. Aber wie viel Zeit war vergangen, seit er die Schüsse gehört hatte? Sicher mehr als eine Stunde. Niemand brauchte eine Stunde, um jemanden zu finden, auf den er eben noch geschossen hatte. Es ergab keinen Sinn. Jonathan fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. War noch jemand in diesem Wald unterwegs, noch jemand mit einem Gewehr? Jemand, der ganz nah war? Der ihn vielleicht die ganze Zeit beobachtet hatte?
Er sah, wie die Amis sich über José beugten und seine Taschen durchsuchten. Sie fanden darin nichts als Ersatzpatronen für Josés Gewehr. Keine Karte. José musste sie an Bord der Mariposa gelassen haben, zusammen mit der Pistole.
Schließlich hob einer der Männer José hoch und legte ihn sich über die Schulter wie einen Sack. Jonathan sah, wie Carmen sich an Josés Ärmel festkrallte. Tapfere kleine Reisratte, dachte er, aber was hast du vor?
Er dachte, die beiden würden zurück zur Küste gehen, doch sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Jonathan folgte ihnen leise durchs Dickicht. Sein Kopf arbeitete unaufhörlich, während er durch die grünen Schatten schlich. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Es war schrecklich zu sehen, wie sie José mit sich fortschleppten. Ehe Jonathan daraufkam, was er tun konnte, sah er, wie José die Augen aufschlug. Zuerst bemerkte es nur Jonathan, doch dann bewegte sich José und die Männer blieben stehen.
»Sieh mal einer an, wer da zu sich kommt«, sagte der, der José trug. Er setzte ihn ab, lehnte ihn mit dem Rücken an einen Baumstamm und kniete sich neben ihn. Josés Blick war verschwommen, vernebelt, verwirrt.
»Wir haben dich vom Boden aufgesammelt«, sagte der andere Ami. »Was ist passiert?«
Jonathan sah aus seinem Versteck, wie José langsam den Kopf schüttelte. »Ich … ich weiß nicht«, sagte er in seinem gebrochenen Englisch.
»Du hast jedenfalls eins auf den Kopf gekriegt«, stellte der erste Mann fest. »Du bist von der Insel? Ich wusste nicht, dass es Einheimische gibt auf Santiago.«
José nickte schwach.
»Dein Gewehr«, sagte der zweite Mann, und zu Jonathans Erstaunen händigte er José tatsächlich sein Gewehr aus. »Lag neben dir. Warst auf der Jagd, was? Hast du dir selbst ein Loch in den Kopf geschossen?« Er lachte.
»Hör mal«, sagte der andere Mann, und jetzt war seine Stimme leiser und dringlicher. »Wir suchen jemanden. Jemanden, der mit einem Boot unterwegs ist. Wir haben ihn hier aus den Augen verloren, ganz in der Nähe, gestern Nacht. Hast du eine kleine Jacht gesehen, honigfarben, mit weißen Segeln?«
»Ja«, sagte José. Seine Augen waren jetzt nicht mehr vernebelt und sein Kopf schien wieder zu funktionieren. »Drüben in der Bucht, wo ich wohne. In der Buccaneer Cove. Sie hat heute Morgen da geankert.«
Die beiden pfiffen gleichzeitig durch die Zähne. »Und ist jemand an Land gegangen?«
»Gesehen hab ich keinen«, sagte José. »Sie hat weiter draußen geankert. Ich bin früh los, wollte was schießen … Das ist das Letzte, was ich weiß. Irgendwie ist da eine Lücke … in meiner Erinnerung.«
»Gehirnerschütterung«, sagte der eine Mann und nickte. »Das nächste Mal pass besser auf dich auf. Der, den wir suchen – womöglich schleicht er hier im Wald herum. Vielleicht war er es, der dir eine übergebraten hat. Obwohl ich nicht wüsste, warum.«
»Wer … wer ist das, den Sie suchen?«, fragte José.
Die beiden sahen sich an. »Jemand, der eine Karte besitzt«, sagte der eine. »Eine wichtige Karte.«
»Wichtig wofür?«, fragte José.
Für den, der einen alten Schatz finden will, dachte Jonathan.
»Wichtig für … den Krieg«, sagte der Ami. »Verstehst du?«
»Nein«, sagte José.
»Das brauchst du auch nicht. Wir bringen dich zurück nach drüben, zur Buccaneer Cove, und da schläfst du dir schön deine Gehirnerschütterung aus dem Kopf. Wir finden unseren Mann schon. Diesmal warten wir an Bord seines Honigbootes.«
»Ich habe so das Gefühl«, murmelte der andere, »dass das Schiff nicht mehr da sein wird, wenn wir die Bucht erreichen.«
Und damit, dachte Jonathan, hatte er recht. Es war nie da gewesen. Nicht in der Buccaneer Cove. Aber wenn sie José dorthin brachten, auf die andere Seite der Insel, würden sie merken, dass er nicht dort wohnte. Dass alles gelogen war.
Jonathan sah sich blitzschnell um. Vor ihnen stieg der Berg steil an. Der Wald wich zur Linken an einigen Stellen zurück und gab den Blick auf ein paar Felsen frei. Es sah nicht so aus, als wäre es schwer, hinaufzuklettern. Vielleicht war das seine Chance.
»Kannst du jetzt selbst gehen?«, hörte er einen der Amis fragen. Doch da saß Jonathan schon nicht mehr in seinem Versteck. Er tauchte im Dickicht an den dreien vorbei wie ein Schwimmer unter Wasser, und die Galapagosfinken beäugten voller Verwunderung das seltsame Tier, das da unter ihnen entlanghuschte. Warum hatte dieses Tier es so eilig?
Als der größere der beiden Männer José aufhalf, formten seine Lippen lautlos einen Fluch. Mierda! Was würde geschehen, wenn sie auf der anderen Seite der Insel ankamen? Er wusste nicht einmal, ob es wirklich Siedler auf Santiago gab.
Was würden die Amis mit ihm anstellen, wenn sie herausfanden, dass er gelogen hatte? Dass er es war, der das Honigboot gesegelt hatte, auf dem sich die Karte befand? Er begriff nicht, weshalb die Karte etwas mit dem Krieg zu tun hatte. Aber wenn sie das hatte, dann stimmte etwas mit diesen beiden Amerikanern nicht. Wenn sie ganz offiziell nach dieser Karte gesucht hätten, der Karte seines Vaters, dann hätten sie seinen Vater fragen können, damals schon, auf Baltra. Nein, diese beiden verfolgten ihr eigenes Ziel. Vielleicht waren sie überhaupt keine Amerikaner. Vielleicht … Sein Kopf dröhnte.
Wenn er sich nur nicht so elend fühlen würde! Jeder Schritt zuckte als Schmerzsignal durch sein Gehirn. Er würde es nicht schaffen, ihnen davonzulaufen. Auf der Mariposa wartete Jonathan, und vielleicht würde er für immer warten, vergeblich.
Da zischte etwas durch die Luft, und zuerst hielt José es für einen winzigen Vogel, doch dann hielt sich der, der voraus-ging, die Stirn und fluchte. Noch ein Nichtvogel kam geflogen. Steine. Jemand warf Steine. José duckte sich instinktiv, aber der dritte Stein traf nicht ihn, sondern wieder einen der Männer.
»Da oben!«, rief der Mann. »Auf den Felsen! Jemand ist auf den Felsen!«
»Und wirft Kiesel auf uns?«, fragte der andere. »Was soll das?«
»Er macht sich lustig über uns. Vielleicht ist es nur ein einheimisches Kind. Eines wie das, das wir auf der Lichtung aufgelesen haben.«
»Und wenn nicht?«
Die Frage blieb in der Luft stehen.
»Warte hier«, sagte einer der Männer. Ehe José ganz begriffen hatte, hatten sie ihn stehen lassen und waren auf dem Weg in die Felsen hinauf. Da bewegte sich etwas in Josés Hosentasche. Er machte einen Satz vor Schreck. Das, was sich bewegt hatte, war jetzt aus der Tasche geklettert, und kurz darauf rannte es als brauner Blitz über den Boden. Eine Ratte.
»Carmen«, flüsterte José erstaunt. Wieso war sie hier? Er wusste, dass er sie auf der Mariposa gelassen hatte, zusammen mit Oskar, dem Pinguin, und Jonathan … Carmen führte ihn ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann schlüpfte sie ins Unterholz, dort, wo es am dichtesten war. José folgte ihr. Einen Moment saß er ganz still in dem grünen, modrigen Versteck und auch Carmen saß still. Sie wartete auf jemanden.
Und der Jemand kam.
»Hallo, José«, flüsterte Jonathan und kroch neben ihm ins Gebüsch. José wollte etwas sagen, doch da hörte er die Stimmen der Männer in der Ferne.
»… nicht mehr hier«, sagte einer von ihnen. »… stimmt etwas nicht.«
»Hier stimmt überhaupt nichts«, sagte der andere, näher jetzt. »Lass uns hinübergehen, zur Buccaneer Cove. Ich könnte wetten, der Kleine ist vor uns dort. Ist losgerannt, um jemanden zu warnen. Obwohl ich nicht begreife …«
Die Stimmen entfernten sich.
José atmete ein paarmal tief durch. »Frag mich jetzt bloß nicht, was passiert ist«, sagte er schließlich.
»Was ist passiert?«, fragte Jonathan.
Als sie den Strand erreichten, war es bereits Nachmittag. Auf Josés Stirn standen Schweißperlen, obwohl ein kühler Wind über den Pazifik strich.
»Du bist weiß wie ein Segel«, sagte Jonathan. »Lass mich das Gewehr hinüberbringen.«
José nickte stumm. Er schaffte es kaum, bis zu den Felsen zu schwimmen, zwischen denen die Mariposa gut verborgen vor Anker lag.
Gelegen hatte.
Der Platz zwischen den Felsen war leer.
José schloss einen Moment die Augen. »Jonathan«, sagte er, wassertretend. »Ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht. Das ist alles falsch.«
»Ja«, sagte Jonathan. »Ich habe Oskar gesagt, er soll nicht allein wegsegeln, aber er hat sich wohl nicht daran gehalten.«
»Wer ist Oskar?«, fragte José erschöpft.
»Unser Pinguin.«
»Hör mal, das ist ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Witze.«
»Ich weiß«, sagte Jonathan. »Aber manchmal ist alles so … dumm, dass man nur noch Witze machen kann. Ich meine, hier trete ich mitten im Pazifik Wasser und halte ein Gewehr über dem Kopf und habe keine Ahnung, was ich tun soll.«
In diesem Moment pfiff jemand leise. José öffnete die Augen. »Carmen«, sagte Jonathan. »Hey! Musst du … über mein Gesicht …? Au!« Die Ratte hatte bis eben auf Jonathans Kopf gesessen, um nicht nass zu werden. Jetzt kletterte sie über seine Nase hinunter Richtung Wasser und sprang freiwillig hinein. Und dann schwamm sie los. Sie schwamm sehr zielstrebig. Nicht in Richtung Land, sondern um den äußersten der Felsen herum, in Richtung des offenen Meers. Jonathan und José folgten ihr verwundert. Und als sie die Ecke des Felsens erreichten, sahen sie etwas, das er bisher verborgen hatte: Da schaukelte ein Schiff auf den Wellen, ein honigfarbenes Schiff mit einer kleinen Kajüte.
Carmen erreichte die Mariposa als Erste.
Kurz darauf kletterte Jonathan die kleine metallene Leiter am Heck hoch und zog José ins Boot. »Sieh nach«, wisperte José und ließ sich auf eine der Bänke fallen, »ob jemand in der Kajüte ist. Ich wüsste nicht, wer … aber sieh nach!«
Die Tür zur Kajüte klemmte. »Ich kriege sie nicht auf«, sagte Jonathan voller Unbehagen. »Hilf mir mal.« Als José sich von der Bank erhob, packte ihn wieder der Schwindel.
Sie zogen gemeinsam am Griff der kleinen Tür, und José hatte das ungute Gefühl, dass sie sich nicht öffnen würde. Jemand hatte sie zugeschlossen. Von innen. Jemand … In diesem Moment gab die Tür plötzlich nach. Jonathan und José fielen rückwärts auf die Decksplanken. Jonathan setzte sich als Erster auf.
»Oh«, sagte er, »ich muss die Kajütentür offen gelassen haben. Das Abwaschwasser wollte ich eigentlich auch noch auskippen …«
Er half José hoch, und da sah auch er das merkwürdige Bild, das sich ihnen in der Kajüte bot. Unter dem Tisch stand ein Eimer Wasser mit einem badenden Pinguin darin. Den Geschirrlappen hatte der Pinguin aus dem Eimer hinausbefördert, und er war auf der Schwelle der Kajütentür gelandet, wo er sich verklemmt hatte, als die Tür vom Wind zugeschlagen worden war.
Auf dem Tisch stand der Topf mit den Resten der Krabbensuppe. Und daneben stand ein Flamingo. Er hatte den schlanken Hals gebeugt und steckte mit dem krummen Schnabel in der Suppe. Offenbar war er dabei, sie zu filtern. Und er sah aus, als schmeckte ihm, was er fand. Als er die beiden Jungen sah, hüpfte er vom Tisch und stakste umständlich die vier Stufen von der Kajüte hoch an Deck.
»Besser, du fliegst weg«, sagte Jonathan. »Deine Leute sind auch nicht mehr da. Aber du weißt sicher, wo sie hingeflogen sind.«
Der Flamingo flog aufs Kajütendach und sah sich um. José hatte in seinem Leben eine Menge Flamingos gesehen. Sie brüteten in der Nähe des Hafens von Villamil, auf Isabela. Aber nie hatte er einen gesehen, der so ratlos wirkte.
»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, meinte Jonathan. »Wo sie hingeflogen sind, meine ich.«
»Dann … soll er irgendwohin fliegen!«, rief José. »Ksch! Weg! Hau ab!«
Aber die große blaue Weite des Himmels über dem Pazifik, an dem nirgendwo ein Schwarm seiner Artgenossen zu sehen war, schien dem Flamingo mehr Angst einzujagen als dieser nasse Mensch, der mit den Armen fuchtelte. Er schüttelte sich und kehrte zurück unter Deck, um weiter Suppe zu filtern.
José seufzte. »Wir sind doch nicht die Arche Noah!«
Jonathan lachte. »Die Mariposa hat inzwischen eine stattliche Besatzung, was? Ein Flamingo, der nicht fliegen will, ein Pinguin, der nicht mehr schwimmen kann, und eine Ratte, die nicht an Land gehen möchte. Und der Einzige, der das Boot segeln kann, hat eine Gehirnerschütterung.«
»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf.
»Nein?«
»Ich bin nicht der Einzige, der die Mariposa segeln kann. Du wirst sie segeln. Du musst es tun. Ich schaffe es nicht.«
Sie teilten sich eine Dose mit kaltem Rindfleisch und öffneten eine mit Fisch für Oskar, und dann erklärte José Jonathan, was er mit Tauen und Segeln zu tun hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich fing sich der Wind in den Segeln der Mariposa, und sie glitt sacht über die Wellen, fort von Santiagos Küste. José hatte Jonathan auch den Kompass erklärt, der über der Kajütentür in einer großen Glaskugel eingelassen war und mit dem Boot schwankte, aber er wusste nicht, ob Jonathan verstanden hatte, wie man danach steuerte. Es war ihm egal. Als die ersten größeren Wellen nach der Mariposa griffen, erbrach er sich über die Reling, und danach legte er sich auf die schmale Backbordbank und versuchte, nicht daran zu denken, wie verquer alles war.
»Der Wind, weißt du?«, sagte Jonathan. »Er hat gedreht. Wenn die Mariposa in ihrem Versteck geblieben wäre, hätte er sie gegen einen der Felsen gedrückt. Ist es nicht merkwürdig, dass sie sich selbst gerettet hat?«
»Hmm«, machte José.
Sich selbst gerettet, was?, höhnte die Abuelita in seinem Kopf. Unsinn! Das Schiff eines Toten rettet sich nicht selbst. Hast du die Unaussprechlichen schon vergessen, die in der Tiefe wohnen? Er hat sie gerufen. Er ist noch an Bord, der tote Segler. Er liebt sein Schiff genau wie zu seinen Lebzeiten, er lässt es nicht im Stich. Behandelt es nur gut, das Honigboot! Wer sein Schiff so liebt, dass er es noch nach seinem Tod bewacht, mit dem ist nicht zu spaßen …
»Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod?«, murmelte José. »Abuelita, du hast sie nicht mehr alle. Und jetzt verschwinde aus meinen Gedanken und lass mich schlafen, ja?«
»José?«, fragte Jonathan. »Schläfst du? Du kannst jetzt nicht schlafen! Ich weiß nicht, wie … José?« José rührte sich nicht. Sicher, er brauchte Ruhe. Aber Jonathan brauchte ihn. Er betrachtete die schlafende Gestalt eine Weile, betrachtete das schwarze Haar, das seitlich von Blut verklebt war. Es war nur eine Platzwunde und darunter begann sich eine ansehnliche Beule zu bilden. Würde ein Streifschuss eine solche Wunde verursachen? Eigentlich nicht, dachte Jonathan. Jemand hatte José einen schweren, stumpfen Gegenstand über den Kopf gezogen. Etwas wie den Fuß einer Stehlampe.
Aber er hatte jetzt über Wichtigeres nachzudenken. Wie sollte er allein ein Schiff durch die Unendlichkeit des Pazifiks steuern?
Natürlich war er nicht allein. Neben ihm auf der seitlichen Bank saßen Oskar und der Flamingo, und Carmen war damit beschäftigt, ein Tau anzunagen. Jonathan hoffte, dass es kein wichtiges Tau war.
»Hör mal, Flamingo«, sagte Jonathan, »ich werde dich Eduardo nennen. Ist dir das recht?«
Der Flamingo antwortete nicht. Auch unter dem Namen Eduardo war er keine große Hilfe beim Steuern eines Schiffs. Wenn nur der Wind nicht zunahm! Solange alles so blieb, wie es war, genügte es, das Steuer festzuhalten und darauf zu achten, dass der verwirrend bewegliche Kompass in der gleichen Stellung blieb. Bei der kleinsten Bewegung der Mariposa schwappte er in seinem Glasgehäuse umher wie ein eigenes Meer und Jonathan wurde ganz übel vom Hinsehen. Und er fror. Plötzlich merkte er, wie sehr er fror.
Der Tag sank schon auf den Horizont zu. Sie hatten beide gehofft, dass die Sonne ihre nassen Kleider bis zum Abend trocknen würde, doch sie hatte es nicht ganz geschafft. Und jetzt kam die Nacht, die lange, kalte, windige Nacht, in der es keine Positionslichter geben würde, schon deshalb nicht, weil Jonathan nicht wusste, wie man sie anzündete.
Und auch José schlief in seinen feuchten Sachen.
Er besaß eine zweite Garnitur Kleidung im Rucksack. Und da waren die alten Kleider unter Deck, von denen er Oskars Verband abgerissen hatte. Jonathan hakte das Steuerruder fest. »Tu es nur, wenn es nicht anders geht«, hatte José gesagt. »Nur, wenn der Wind es erlaubt. Und nur ganz kurz, hörst du?«
Er beeilte sich, in die Kajüte hinabzukommen, und öffnete Josés Rucksack. Diesmal spürten seine Hände auf dem Boden des Rucksacks Papier. Die Karte. Nein, er hatte jetzt keine Zeit, sie sich anzusehen. Die Kleider, die er in den Händen hielt, waren steif vom Salzwasser. In diesen Sachen war er über Bord gesprungen. Wie lange das her zu sein schien!
Er fragte sich, ob er es noch einmal tun würde. Er würde José bis zur Isla Maldita begleiten, so viel war klar … aber was war dann? Würde er dann ins Meer zurückkehren, in den Tod, zurück zu seiner Familie? Er war sich nicht mehr sicher.
Er kletterte wieder an Deck, kontrollierte den Kurs und kam sich beinahe schon vor, als könnte er tatsächlich segeln. Oskar, Eduardo und Carmen beobachteten ihn, während er José mühsam seinen nassen Kleidern entwand.
Einen Moment lang betrachtete er den Körper vor sich. Von Nordwesten zogen Wolken herauf wie in den Nächten zuvor, doch noch schien der Mond. Auf Josés Oberkörper prangten mehrere dunkle Blutergüsse. Was war auf Santiago geschehen? Wer hatte ihn – und womit – verprügelt? Wie still er dalag! Jonathan legte eine Hand auf seine Brust, spürte Josés Herzschlag und atmete auf. Eine Weile ließ er die Hand dort liegen. Es tat gut, das Leben zu fühlen, das warme Leben eines anderen Menschen in der weiten, stillen Nacht. Beinahe fror Jonathan nicht mehr. Aber auf Josés Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet und er zitterte im Schlaf. Jonathan beeilte sich, ihm die trockenen Kleider überzuziehen. Dann schleifte er ihn die Stufen hinunter, bettete ihn auf eine der Bänke und breitete die Wolldecke über ihn. Es war ein Wunder, dass er von all dem Geziehe und Gezerre nicht aufwachte.
Jonathan hängte Josés nasse Kleider über den Tisch und beschwerte sie zur Sicherheit mit dem schläfrigen Oskar. Der Flamingo Eduardo leistete ihm bereitwillig Gesellschaft und Carmen kringelte sich zum Schlafen in Josés Armbeuge zusammen. Jonathan kehrte allein zurück an Deck, unter dem Arm das Bündel alter Kleider. Sie rochen nach Fäulnis und Tabak.
»Die Kleider eines Toten«, flüsterte er.
Aber es waren trockene Kleider. Der Saum des Hemds fehlte, er hatte sich in Oskars Verband verwandelt. Jonathan schlug die Ärmel und die Hosenbeine mehrfach um und fand einen Strick, den er als Gürtel benutzte.
Als er das Steuer wieder losmachte und sich umsah, sah er hinter der Mariposa plötzlich ein anderes Schiff. Es war weit weg, zu weit, um Genaues erkennen zu können. Aber es kam Jonathan vor, als wäre dies ein kleineres Schiff, kleiner als die Roosevelt. Das Mondlicht wich, der Himmel verdunkelte sich und er fand das Schiff nicht wieder. Hatte er sich getäuscht? War es am Ende gar kein Schiff gewesen, sondern nur die weiße Gischt auf den Wellen? Die weiße Gischt, dachte Jonathan. Überall war jetzt weiße Gischt.
Der Wind hatte zugenommen. Die Wolken bedeckten den Himmel als dichte Wand. Sekunden später fielen erste Regentropfen. Die Mariposa legte sich schräg und Jonathan vergaß jeden Gedanken an das andere Schiff.
»José!«, rief er. »José, wach auf! Was soll ich tun? Was…?«
Das Prasseln des Regens verschluckte seine Worte beinahe. Und natürlich hörte José ihn nicht, von dort, wo er unter Deck schlief. Niemand hörte ihn. Niemand. Er war vollkommen allein.
Die Wellen, die die Mariposa durchkämmte, spuckten salzige Fontänen, und die Leereling an der windabgewandten Seite tauchte ins Wasser ein – es schwappte an Bord und leckte an Jonathans Füßen. Er kletterte auf die Luvreling. Die Segel der Mariposa waren straff und windgefüllt wie nie zuvor. Sie schoss nur so dahin – aber schoss sie noch in die richtige Richtung? Jonathan konnte den Kompass nicht mehr sehen. Das Regenwasser lief ihm in die Augen. Er klammerte sich am Steuer fest. Was tat man, wenn der Wind zu stark wurde? Hatte José etwas darüber gesagt? Er musste etwas tun. Er konnte nicht segeln. Er konnte ein Steuer halten, aber er konnte verdammt noch mal nicht segeln! Panik stieg in ihm auf, machte seine Kehle eng und ließ in seinem Kopf einen hohen Ton entstehen wie das Heulen einer sich nähernden Rakete.
Und dann wusste er es.
Er konnte nicht segeln. Er würde nicht segeln.
Die Mariposa hatte einen Motor. Er hatte ihn gesehen, er wusste, wo der Anlasser war … Es wäre ganz einfach. Aber zuerst musste er die Segel herunterbekommen, und das war nicht einfach. Er stellte das Steuer fest, obwohl er wusste, dass es der Wind diesmal nicht zuließ. Welches war das Großfall, das er lösen musste, damit das Großsegel herunterkam? Er probierte verschiedene Taue durch – und schließlich fand er das richtige. Die Spitze des Segels löste sich und rutschte ein Stück den Mast hinunter. Doch das Segel lief in einer Nut im Mast, und darin klemmte es fest, es würde nicht von selbst herunterkommen. So kletterte er auf der windzugewandten, erhobenen Luvseite die Reling entlang, über die Kajüte nach vorn, mitten im peitschenden Regen. Das Schiff lag so schräg, dass er sich mit den Füßen auf der seitlichen Kajütenwand abstützen konnte. Dann war er beim Mast, griff mit beiden Händen ins Segel und zog. Es ließ sich kaum bewegen. Der Wind straffte es noch immer, die Mariposa schoss noch immer durch die Wellen dahin … Jonathan kämpfte mit seinem Gleichgewicht – er würde es nicht schaffen. Er konnte es nicht schaffen. Tränen der Wut und der Angst vermischten sich auf seinem Gesicht mit dem Regen.
Und dann rutschten seine bloßen Füße auf dem glatten Deck ab. Er verlor den Halt, schlug der Länge nach hin, schlitterte zur Leeseite hinunter und hing mit beiden Händen am Mast, die Arme gestreckt, die Füße bereits unten im Wasser, während die Mariposa ihre wilde, wahnsinnige Fahrt fortsetzte, herrenlos – ein Totenschiff, ein Todesschiff.
Jonathan schloss die Augen und betete. Er betete zu dem Gott, der verloren gegangen war. Er betete: Natürlich gibt es dich nicht, und es hat dich nicht gegeben, aber hilf uns. José glaubt an dich, und er liegt unter Deck und schläft, und vielleicht wacht er davon auf, dass die Mariposa sinkt. Lass ein Wunder geschehen! Nimm den Wind weg! Tu, was du für richtig hältst, aber tu etwas!
Als er »etwas!« dachte, erhob sich über Jonathan ein ohrenbetäubendes Geknatter, und zuerst dachte er, es wäre Gewehrfeuer. Aber es konnte kein Gewehrfeuer sein, hier, mitten auf dem Pazifik, nicht wahr? Er merkte, dass die Mariposa wieder gerade lag. Sie wurde noch immer von den Wellen hin und her geworfen, doch er rutschte nicht mehr auf ihrem Deck nach unten. Er sah auf, dorthin, woher das Knattern kam. Es waren die Segel. Beide Segel schlugen jetzt wild hin und her. Jonathan spürte, dass der Wind von vorn kam. Die Mariposa hatte ihre Nase in den Wind gedreht. Er zog sich am Mast hoch, griff wieder ins Segel – und diesmal, ohne den Druck des Windes, ließ es sich herunterziehen, Stück für Stück. Die Fock, das Vorsegel, ließ sich mittels eines Seils um das Vorstagsegel wickeln, um jenes Drahtseil, das die Mastspitze mit dem Bug verband. Aber er wusste nicht, mittels welchen Seils. So drehte er das Vorstag-segel mit den Händen, bis sich die Fock ganz darumgerollt hatte. Er fand ein Bändsel, wickelte es drum herum und verknotete es, damit sie sich nicht wieder ausrollen konnte. Dann atmete er tief durch und ließ sich aufs Deck fallen. Einen Moment saß er einfach nur so da.
Und dann hörte Jonathan durch das Prasseln des Regens hindurch ein anderes Geräusch, und er merkte, dass der Wind nicht mehr von vorn kam. Das Geräusch war das des Motors. Hatte er vorhin am Anlasser gezogen?
Er sah nach hinten, und dort stand jemand am Steuer, ein Schemen zwischen Regen und Dunkelheit. José war aufgewacht. Ein Glück!
»Was muss ich mit dem Großsegel tun?«, rief Jonathan. Das Segel lag in unordentlichen Falten auf dem Baum, in die der Wind wieder hineinfuhr. Er erinnerte sich daran, dass José es beim Ankern ebenfalls mit einem Tau umwickelt hatte. Doch José schien seine Frage nicht gehört zu haben. Jonathan schnappte sich das erstbeste Tau und schlang es um Segel und Baum. Vorerst würde es halten. Seine Knie zitterten, als er an der Kajüte vorbei zurück zum Heck kletterte. Er musste auf jeden Schritt achten, um nicht danebenzutreten und noch einmal zu stürzen.
Erst als er ganz hinten war, sah er auf. Das Steuerruder stand festgehakt, wie er es verlassen hatte. José war nirgends zu sehen. War er überhaupt da gewesen? Auf einmal kam es Jonathan vor, als wäre die Person, die er am Steuer gesehen hatte, größer gewesen als José. Kein Junge: ein Mann. Ein Mann, dem die Kleider gepasst hätten, die jetzt, getränkt vom Regen, an Jonathans zu schmächtigem Körper klebten.
Ein Toter.
Was hatte José gemurmelt, halb im Traum schon? »Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod.« Wer war dieser Casaflora gewesen? Liebte er die Mariposa wirklich so sehr, dass er sie nicht verlassen konnte? Oder gab es etwas anderes an Bord, das er bewachte?
»Unsinn«, flüsterte Jonathan. »Fange ich etwa an, daran zu glauben, dass ein Geist hier an Bord umgeht? Die Mariposa hat ganz allein ihren Kurs geändert, es lag am Wind. Und am Anlasser des Motors muss ich selbst gezogen haben. Ich war nur durcheinander.«
Zitternd hockte er sich neben das Steuer. Jetzt gab es wirklich keine trockenen Sachen mehr an Bord. Die Nacht war lang, und die Mariposa warf sich gegen die Wogen des offenen Meeres an wie ein trotziges, winziges Kind. Jonathan kämpfte mit dem Schlaf.
Als endlich die Sonne aufzog, fanden seine müden Augen am Horizont einen kleinen Punkt, der ein Schiff hätte sein können, das ihnen folgte. Von dorther kamen ein paar Möwen angesegelt, umkreisten die Mariposa eine Weile, merkten, dass es hier nichts zu holen gab, und strichen wieder davon. Eine der Möwen ließ etwas fallen, und erst dachte Jonathan, sie hätte einen erbeuteten Fisch verloren. Doch was er kurz darauf aus dem Wasser fischte, war ein Stück braunen, zotteligen Stoffs. Vermutlich hatte die Möwe gerade erst gemerkt, dass man es nicht essen konnte. Jonathan sah sich das Stoffstück genauer an. Es war kein Stoffstück. Es war ein kleiner alter Teddybär. Ein Bär, den Jonathan kannte. Zuletzt hatte er ihn auf der Isabelita gesehen, bei Waterwegs Gepäck. Dem Bären fehlte etwas. Eine rote Schleife. Sie befand sich in seiner Hosentasche.
Julias Bär.
Wie kam er hierher?