51952.fb2 Die geheime Reise der Mariposa - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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Mentira y verdadLüge und Wahrheit

José!, sagte die Abuelita. Wach endlich auf! Es ist höchste Zeit! Du hast alles verschlafen, mein Junge: Die Unaussprechlichen haben den Wind stärker gemacht. Die Hand eines Toten hat die Mariposa gelenkt, und an der Horizontlinie hängt ein Schiff, das einen auffallend ähnlichen Kurs segelt wie ihr. Obwohl es nicht das Schiff ist, dessen Taue Jonathan gekappt hat. Und es hat geregnet …

»Geregnet?«, fragte José laut. Er hörte etwas zuschlagen wie eine Tür oder eine Klappe, ganz nah, und setzte sich abrupt auf. Nein, die Kajütentür stand offen – ein wenig Sonnenlicht fiel auf den Boden und beleuchtete eine einzelne rosafarbene Flamingofeder.

Der zugehörige Flamingo schien sich draußen zu befinden, denn José sah einen Flamingofuß auf der Treppe. Er stand auf und stieß die Tür ganz auf. Der Flamingo stand tatsächlich auf der untersten Stufe, hatte den langen Hals gestreckt und den Kopf bequem auf die Decksplanken oberhalb der kleinen Treppe gelegt. So befand sich sein Kopf auf Höhe von Carmen, die dort auf dem Fußboden saß. Die beiden sahen aus, als wären sie in ein stummes Zwiegespräch vertieft. Hinter ihnen saß Jonathan am Steuer, auf dem Schoß Oskar, den Pinguin.

José schüttelte den Kopf. »Ich wache auf und bin in einem wahnsinnigen Zoo«, sagte er.

Jonathan zuckte zusammen und fuhr hoch. »José«, sagte er. »Ich muss eingenickt sein.«

»Es hat geregnet«, sagte José, »nicht wahr? Hast du das Wasser in einem Kanister aufgefangen?«

Jonathan sah ihn an. »Das Wasser … in einem Kanister?«

»Ja, Wasser.« In José stieg der Ärger auf. »Dieses nasse Zeug, das von oben kommt. Man braucht es zum Überleben. Wir haben ein paar leere Kanister unter Deck. Wenn es regnet, muss man sie füllen. Wer weiß, wann es wieder regnet! Und was macht der Flamingo hier auf der Treppe? Er ist im Weg.«

»Eduardo«, verbesserte Jonathan ihn. »Er heißt Eduardo.«

José drängte sich an Eduardo vorbei und ließ sich auf die Bank gegenüber von Jonathan fallen. Er nahm ihm das Steuer ab und sah auf den Kompass. Der Kurs stimmte nicht mehr ganz. Er korrigierte ihn schweigend.

»José«, sagte Jonathan.

José sah auf. Jonathan griff über Bord, tauchte eine Hand ins Wasser und fuhr sich damit durchs Gesicht.

»Weißt du«, fragte Jonathan, »was ich in der letzten Nacht alles getan habe?«

Erst da merkte José, wie müde Jonathan aussah. Er konnte die Augen kaum offen halten. Zwei breite Schrammen liefen über seine linke Wange, und er steckte in viel zu großen Kleidern, die José noch nie gesehen hatte. Sie machten ihn schmächtiger. Er trug die alte karierte Schiebermütze wieder, die seinem Vater gehört hatte. Und mit einer Hand hielt er einen braunen Stofffetzen umklammert. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest war sein Griff um das Stück Stoff, und seine Hand zitterte. José legte eine Hand auf Jonathans Arm, und plötzlich tat es ihm leid, dass er ärgerlich gewesen war. »Was ist passiert?«

»Alles«, sagte Jonathan. »Du hast sehr, sehr fest geschlafen.«

Während José auf dem Gaskocher Kaffee kochte, hörte er Jonathan zu. Und schließlich bekam er eine Reihenfolge in die Ereignisse. Er blies in seine Blechtasse und betrachtete nachdenklich die Wellen im Kaffee. Die Mariposa fuhr wieder unter Segel, wenngleich mit verringerter Segelfläche. Es war sehr still ohne das Motorengeräusch.

»Am merkwürdigsten ist die Sache mit dem Anlasser«, sagte er. »Dass sich die Mariposa von selbst in den Wind gestellt hat, kann ich mir vorstellen. Aber dass du den Motor angeworfen hast, ohne es zu merken – die Abuelita hätte ihren Spaß gehabt letzte Nacht.«

»Wer?«, fragte Jonathan.

»Meine Urgroßmutter. – Eduardo, das ist Kaffee. Den kann man zwar filtern, aber nicht, wenn man ein Flamingo ist. Nimm deinen Schnabel aus meiner Tasse. – Die Abuelita ist ziemlich alt und erzählt gern Gruselgeschichten. Mit Vorliebe über Geister von Toten.«

José setzte Eduardo auf den Boden, damit er die Krabbensuppe aus der dort befindlichen Schale zum Frühstück filtern konnte. Oskar fischte die Stückchen heraus. Zum Glück hatte Juan Casaflora vor seinem Tod einen ausreichenden Vorrat an Krabbensuppe angelegt. Hatte er damit gerechnet, einen Flamingo auf der Mariposa zu beherbergen? Immerhin war er Forscher gewesen. Angeblich, hatte der Ami auf Baltra gesagt. Aber wenn er kein Forscher gewesen war, was dann?

Der Wind hatte seit der Nacht nachgelassen, doch er schob sie noch immer stetig über das Wasser voran. Das Boot, das am Horizont geklebt hatte, war nicht mehr zu sehen.

»Glaubst du an das, was deine Großmutter erzählt?«, fragte Jonathan. »An die Geister?«

»Natürlich nicht«, sagte José. »Sie erzählt trotzdem. Du wirst jetzt sagen, ich bin verrückt, aber … sie redet manchmal in meinen Gedanken.«

»Du bist verrückt«, sagte Jonathan und grinste.

José seufzte. »Sie weigert sich, mich in Ruhe zu lassen, die störrische Alte. Ihr Vater war der, der vor uns zur Isla Maldita gefahren ist.«

»Vielleicht spricht sie deshalb mit dir. Sie hat Angst, dass du auch verschwindest.«

José schüttelte sich. »Ich verschwinde nicht. Keiner verschwindet. Stattdessen tauchen Dinge auf. Teddybären fallen vom Himmel. Oder wie war das?«

Jonathan nickte. Er hatte den Bären die ganze Zeit über festgehalten und nun streckte José zögernd seine Hand nach ihm aus. Das braune Fell, über das er fuhr, war fadenscheinig und abgegriffen. Doch in den schwarzen Knopfaugen des Bären schien ein Geheimnis zu glänzen. Er wusste mehr, als er verriet.

»Meinst du, die Möwe hat ihn den ganzen Weg von der Isabelita hierhergebracht?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Da war dieses Boot. Wir sehen es jetzt nicht mehr, aber ich könnte wetten, es folgt uns. Die Möwen kamen aus dieser Richtung. Es ist das Boot, von dem Julias Bär stammt. Die Möwe hat ihn dort aufgesammelt und für etwas Essbares gehalten.«

»Hm«, machte José. Konnte es sein, dass Jonathan Dinge sah, die es nicht gab? Bilder, aus Angst und Müdigkeit entstanden? Tote? Schiffe? Aber der Bär war ganz eindeutig da und er war vorher nicht da gewesen. Julias Bär, hatte Jonathan gesagt.

»Du sprichst es komisch aus«, sagte José. »Ich dachte, die Engländer sagen Dschulia

»Ja«, sagte Jonathan. »Es liegt daran … dass … unsere Mutter, weißt du, sie ist … sie war … sie stammte aus Holland. Die meisten in England haben natürlich Dschulia gesagt.« José sah zu, wie er dem Bären das rote Band wieder umband. »Manchmal wünschte ich, der dumme Bär wäre mitverbrannt«, sagte Jonathan. »Er erinnert mich an die Nacht, in der sie gestorben sind. Als würde es nicht reichen, dass ich davon träume.«

José zuckte die Schultern. »Wirf ihn über Bord.«

Jonathan stand auf, streckte den Arm aus und ließ den Bären an einem Bein über die Reling hängen. Dann drückte er ihn plötzlich an sich wie ein Kind. »Ich kann es nicht. Er und ich, wir sind die Einzigen der Familie, die jene Nacht überlebt haben.«

José nickte. »Erzähl mir«, sagte er leise. »Erzähl mir, was in der Nacht geschehen ist. Vielleicht wird die Erinnerung dann leichter.«

Jonathan streichelte mit einem Finger Carmen, die neben ihm saß und am letzten Rest eines trockenen Brotkantens nagte. Er schwieg so lange, dass José schon dachte, er würde nichts erzählen.

»Wir hatten jeder einen Koffer«, sagte er dann unvermittelt. »Mit unseren wichtigen Sachen. Er stand neben der Haustür. Man brauchte ihn nur zu greifen, wenn Bombenalarm war. Sogar Julia hatte ihren Koffer. Es gab dauernd Probealarm. Dann mussten wir alle hinüber, zum Nachbarhaus, Nummer 21. Es war wie ein Spiel. Der ganze Krieg war wie ein Spiel. Eine Zeit lang. Und dann …«

»Ja?«

»Dann erfuhren wir, dass Papa vermisst wurde. In Frankreich. Er ist nicht zurückgekommen. Vermutlich … liegt er dort irgendwo in einem Massengrab. Eine Weile hat Mama fast nicht mehr mit uns gesprochen. Mit gar niemandem. Und dann fing sie wieder von den Galapagosinseln an. Wie schön alles wäre, wenn wir dorthin gegangen wären, ehe der Krieg anfing. Sie holte die alten Bücher hervor, die wir uns so oft zusammen angesehen hatten. Sie sprach von ihrem Professor. Professor Blumenhaus.« Er biss sich auf die Zunge. Hatte José gemerkt, dass Blumenhaus ein deutscher Name war? Nein, offenbar nicht. »›Der hat es richtig gemacht‹, hat Mama gesagt«, fuhr er rasch fort. »›Er ist rechtzeitig aus … England … verschwunden. Sicher‹, sagte sie, ›ist er irgendwo auf den Galapagosinseln und sucht nach seinem blauen Schmetterling mit den Goldflecken. Er ist frei.‹ Und immer, wenn sie unsere Koffer ansah, seufzte sie. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut es gewesen wäre, diese Koffer auf ein Schiff über den Pazifik zu tragen. Aber selbst Julia war klar, dass Mama nur träumte. Dann fielen die ersten Bomben auf die Stadt. ›Jetzt dauert es nicht mehr lange‹, sagte Mama, ›und sie fallen auch auf unsere Straße. Lasst sie nur alles kaputt machen. Soll doch alles brennen!‹ Sie wollte es. Verstehst du? Sie wollte, dass unser Haus brannte. Es war verrückt. Sie sehnte sich nach dem nächsten Fliegeralarm. Sie lachte über die unsinnigsten Dinge. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr lange lachen könnte. Und dann kam diese Nacht im Mai. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Koffer oben auf der Treppe stehe. Mama ruft nach mir. Ich renne … dann stehe ich draußen. Der Mond scheint. Er bescheint Julia und ihren Teddybären. Und Mamas Gesicht. Sie lächelt. Sie trägt Papas alte Mütze. Ihr Haar ist so hell, hell wie der Mond. Sie zerzaust mein Haar, als wäre ich noch klein.

Sie nimmt Julia an der Hand. ›Halt deinen Bären gut fest‹, sagt sie, ›denn jetzt rennen wir.‹ Und dann höre ich die Flugzeuge, fast direkt über uns. Ich höre, dass ein Haus in der Nähe getroffen ist. Ich renne. So, wie sie es gesagt hat. Ich höre die Sirenen. Irgendwo prasseln Flammen. Da ist noch ein Geräusch, ein Motorengeräusch. Wie von einem Auto. Aber natürlich fährt keiner Auto bei einem Bombenangriff, nicht wahr? Ich drehe mich nicht um, ich renne. Mama und Julia sind irgendwo hinter mir. Ich stolpere Stufen hinunter … hämmere gegen die Tür des Kellers … jemand öffnet sie, zerrt mich hinein und wirft sie sofort wieder zu. Das Heulen der Sirenen wird leiser.« Er sah auf, sah José an, schwer atmend. »Und als ich mich umgedreht habe, waren Mama und Julia nicht da. Ich wollte die Tür noch einmal öffnen. Richard hat mich festgehalten. Er war schon achtzehn. Er war verantwortlich für den Luftschutzkeller.

»Er … er hat sie draußen an die Tür hämmern lassen und ihnen nicht geöffnet?«

Jonathan schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich habe kein Klopfen gehört. Aber es war alles so laut … Kurz danach wurde der Häuserblock getroffen. Und am nächsten Tag fand ich den Bären und die Mütze vor dem Eingang zum Luftschutzkeller. Sie müssen die Sachen verloren haben. Ich denke, sie sind zurück ins Haus gerannt. Drinnen ist alles verbrannt, alles …« Jonathan sah zu Boden. »Nein«, murmelte er leise. »Es wird nicht besser, wenn man es erzählt.«

José legte einen Arm um ihn wie um einen kleinen Bruder und eine Weile saßen sie schweigend so. Seltsam, dachte José, aber etwas an Jonathans Geschichte stimmte nicht. Er konnte den Finger nicht darauflegen, aber etwas war falsch. Er fragte sich, ob Jonathan log oder ob er selbst gar nicht gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er würde noch daraufkommen, dachte José, wenn er nur oft genug die gleiche Geschichte in seinem Kopf abspielte … Jonathans Vater … die Koffer … die Sirenen … die Nacht … der Teddybär …

Der Wind hatte nachgelassen, als dächte auch er über Jonathans Geschichte nach.

»Vielleicht haben sie nicht an die Tür des Kellers geklopft«, flüsterte Jonathan. »Vielleicht waren sie gar nicht hinter mir, Mama und Julia – das ist es, was mich am meisten erschreckt. Vielleicht ist Mama einfach auf der Straße geblieben. Mitten auf der Straße. Seit Papa tot war, war alles so anders. Als hätte das Leben keinen Wert mehr. Vielleicht hat sie Julia mitgenommen, in den Tod. Nur mich, mich hat sie hiergelassen.«

»Nein«, sagte José langsam. »Das … das glaube ich nicht. Sie hätte dich nicht dagelassen. Eine Mama lässt keine Kinder da. Mama Carmelita, meine Mutter – sie würde mich windelweich prügeln, wenn sie wüsste, dass ich allein aufs Meer hinausgesegelt bin.«

Er schob den Gedanken an seine Mutter beiseite. Er würde doch jetzt nicht anfangen, Heimweh zu bekommen wie ein dummes Kind. Er ließ seinen Blick über das Wasser gleiten.

»Jonathan«, sagte er und sprang auf. »Sieh nur! Dort! Sie kommen her.«

Jonathan hob den Kopf. »Wer?«, fragte er erschrocken.

José lächelte. »Die Delfine. Vielleicht sind sie gekommen, um dich aufzumuntern.«

Ja, dachte Jonathan, vielleicht waren die Delfine tatsächlich gekommen, um ihn jene Nacht in Hamburg vergessen zu lassen, das Feuer, den Krieg und den Tod. Sie waren das Gegenteil von alldem. Ihre glänzenden Rücken tauchten aus dem Wasser wie Lichtblitze, und jetzt waren sie ganz nah, schwammen um die Mariposa herum, tauchten unter ihr hindurch und kamen auf der anderen Seite wieder hervor – sie sprangen übermütig durch die Luft, sorglos, verspielt. Der Wind war eingeschlafen und die Mariposa hing still auf dem unendlichen Wasser. Die Delfine kamen so dicht an die honigfarbenen Holzwände heran, dass Jonathan ihre langen, schnabelartigen Schnauzen mit den winzigen Zähnen erkennen konnte. Er zählte sieben Tiere. Eines versuchte das Schiff mit seiner Nase anzustupsen, und ein paar andere gaben übermütige schnatternde Laute von sich.

»Hör dir das an«, sagte José. »Sie lachen. Sie lachen über uns. Weil wir nicht vorankommen.«

Er rollte die Fock wieder ganz aus und vergrößerte die Fläche des Großsegels, doch es half alles nichts: Die Mariposa stand.

Jonathan dachte daran, was Mama über die Delfine erzählt hatte.

»Denkt euch«, hatte sie gesagt, »angeblich erlauben sie es manchmal, dass man sich an ihrer Rückenflosse festhält, und ziehen einen mit sich.«

»Das will ich machen!«, hatte Julia gerufen. »Ich will mit einem Delfin im Wasser planschen! Er soll mich ziehen, ganz weit, mitten durchs Meer …«

»José«, sagte Jonathan, »wenn wir sowieso nicht vorankommen – hättest du etwas dagegen, wenn ich eine Runde schwimme?«

José zögerte. »Das letzte Mal, als du ins Wasser gesprungen bist, wolltest du sterben«, sagte er leise. »Du fängst nicht wieder damit an, oder? Sterben zu wollen?«

»Vorerst nicht«, antwortete Jonathan ernst.

»Gut«, meinte José. »Dann spring ruhig rein. Sie warten auf dich.«

Es sah tatsächlich aus, als warteten die Delfine. Sie reckten erwartungsvoll die Hundeschnauzen aus dem Wasser und schnatterten wieder. Jonathan legte die Schiebermütze neben Julias Teddybären auf die Bank und stellte einen Fuß auf die Reling. Seine Lippen formten lautlose Worte auf Deutsch: Jetzt werde ich das tun, sagte er, was du wolltest, Julia. Ich werde mit den Delfinen schwimmen. Ich denke ganz fest an dich, und es wird sein, als wärst du bei mir. Bist du bereit? Eins, zwei …

»Warte!«, rief José. »Zieh die Kleider aus! Wir brauchen nicht noch mehr nasse Sachen an Bord.«

»Ich schwimme lieber mit den Sachen«, sagte Jonathan sehr entschlossen und sprang ins Wasser. Er wusste, dass José jetzt auf dem Schiff saß und den Kopf über ihn schüttelte. Sollte er nur den Kopf schütteln! Die Delfine stoben auseinander, als er zwischen ihnen im Meer landete. Doch sie kehrten zurück, nahmen ihn in die Mitte und schwammen tatsächlich mit ihm. Wie schnell sie waren! Sie warteten auf ihn, umkreisten ihn, tauchten unter ihm durch … Jonathan wurde schwindelig von ihrem Tanz unter und über Wasser, und dann glitt einer der Delfine ganz nah heran und er bekam seine Rückenflosse zu fassen. Der Delfin zog ihn durchs Wasser, genau so, wie es in Mamas Büchern gestanden hatte. Jonathan schloss die Augen. Und auf einmal war es, als ließe er alles hinter sich: die brennende Hamburger Nacht, die Reise mit Waterweg, José und die Mariposa. Da waren nur er und der Delfin und das Meer.

»Jonathan!«, hörte er José brüllen. »Komm zurück, du Idiot!«

Jonathan öffnete die Augen. Die Mariposa war schon ein ganzes Stück weit weg. Einen Moment lang zögerte Jonathan. Dann ließ er die Rückenflosse des Delfins los.

»Ich komme«, flüsterte er. »José, ich komme. Noch ist es nicht Zeit, dich und die Mariposa zu verlassen.« Er wandte sich den Delfinen zu, die sich noch immer um ihn im Wasser tummelten. »Ich habe ihm versprochen, ihn bis zur Isla Maldita zu begleiten«, erklärte er ihnen. »Danach komme ich vielleicht mit euch. Erst danach.«

Damit drehte er sich um und begann zurückzuschwimmen. Die Delfine folgten ihm nicht. Als Jonathan sich einmal umdrehte, waren sie in einer langen Bahn aus waghalsigen Sprüngen auf dem Weg hinaus in den Ozean, fort von ihm. Hatten sie verstanden, was er zu ihnen gesagt hatte? Die Mariposa war nicht mehr als ein Fleck aus goldgelbem Licht. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu einem Schiff wurde, und noch eine Weile, bis Jonathans ausgestreckte Hand ihren Rumpf berührte. Ein wenig war es wie Nachhausekommen.

»Du hirnverbrannter Blödmann!«, rief José. »Was sollte das denn jetzt wieder? Wolltest du, dass sie dich mitnehmen bis an den Horizont?«

Jonathan hielt sich an der Aluminiumleiter am Heck fest und atmete ein paarmal tief durch.

»Wäre interessant gewesen«, sagte er. »Vielleicht wäre ich dem Schiff begegnet. Dem, von dem Julias Bär stammt.«

»Es war der falsche Horizont«, sagte José. »Verkehrte Richtung. Komm jetzt raus da!«

Jonathan ließ die Leiter los und schwamm ein Stück zurück und plötzlich spürte er den Übermut der Delfine in sich. »Komm du doch rein!«, rief er. »Ist schön kühl!«

»Okay«, sagte José. »Dann komme ich eben, du Idiot.«

Damit streifte er Hemd und Hose ab, legte sie auf die Bank, wo Carmen in einen Ärmel schlüpfte, und sah sich um. Jonathan betrachtete seine tiefblauen Flecken, deren Herkunft er noch immer nicht kannte. Doch als José mit einem Kopfsprung neben ihm im Wasser landete, da wünschte er sich für einen Augenblick, genauso auszusehen wie er, ein paar blaue Flecken hin oder her. So kräftig und sonnenbraun, so … lebendig. Er wünschte, er hätte es ihm sagen können. Wenn mein Körper so aussehen würde wie deiner, würde ich nicht in meinen Kleidern schwimmen.

»Bitte, hier bin ich!«, erklärte José, schwamm auf ihn zu und tauchte ihn mit beiden Armen unter. Jonathan kam hoch und schüttelte sich.

»Wieso bist du eigentlich wieder so gesund?«, fragte er. »Was ist mit deiner Gehirnerschütterung?«

»Hat sich wohl zu Ende erschüttert«, meinte José und grinste. Und tauchte ihn ein zweites Mal unter. Er meinte es nicht böse, Jonathan wusste das; es war ein Spiel wie das der Delfine. Doch Jonathan war kein Delfin. »Es … es reicht«, keuchte er. »Hör auf. Du bist zu stark für mich.«

José musterte ihn besorgt. »Stimmt irgendwas nicht mit dir?«

»Nein«, meinte Jonathan, wassertretend und nach Atem ringend. »Doch. Ich bin nur … anders als du.« Er versuchte sorglos zu lachen. »Ich … habe eben nie auf einer Farm gearbeitet.«

»Hm«, sagte José, und dann sagte er. »Mierda! Die Mariposa!«

Jonathan sah sich um. Der Wind war zurückgekehrt. Plötzlich kräuselten leichte Wellen das Wasser und die Mariposa trieb sachte davon. Sie beeilten sich, ihr hinterherzuschwimmen.

»Herrenlose Schiffe stellen sich eigentlich in den Wind«, sagte José. »Aber ich habe das Steuer festgehakt, ich Esel. Komm, schnell.« Er streckte einen Arm aus und seine Finger berührten die Bordwand schon, da griff eine Böe in die Segel und schob das Schiff fort wie eine große Hand, ließ es schneller und schneller werden …

»Warte!«, schrie José. »Du dummes Honigboot, warte …«

Aber obwohl die Mariposa ein gutes Schiff war und obwohl sie eine Menge Dinge besaß wie Taue und Segel und einen Motor, so besaß sie doch keine Ohren. Jonathan sah einen rosa Hals, der sich über die Reling streckte, und einen Flamingokopf, der sich verwundert schief legte. Gleichzeitig merkte er, dass etwas neben ihm im Wasser schwamm. Etwas Schwarz-Weißes. Oskar. Er musste mit José ins Wasser gesprungen sein. Aber er hatte Schwierigkeiten beim Schwimmen.

»Armer kleiner Pinguin«, sagte Jonathan. »Du bist verletzt, schon vergessen?«

Er griff sich Oskar mit einer Hand und folgte José, der vorausschwamm. Und wie José schwamm! Seine Arme wirbelten durchs Wasser, er war ein Tornado aus weißen Tropfen, ein beweglicher Sprühregen, er war schnell … er war nicht schnell genug. Die Mariposa segelte auf und davon, an Bord eine Galapagos-Reisratte, einen Flamingo und eine Menge Dosen mit eingemachten Nahrungsmitteln. Und eine Karte, die es wert war, im Busch von Santiago jemanden dafür bewusstlos zu schlagen.

Warum hatte er das Steuer festgehakt? Warum war er ins Wasser gesprungen? Warum war er so ein gottverdammter, bescheuerter Dummkopf? Tausend Warum schossen durch Josés Kopf, während er versuchte, noch schneller zu schwimmen. Aber niemand konnte so schnell schwimmen wie eine Jacht in voller Fahrt, das wusste selbst der gottverdammteste Dummkopf auf dem Pazifik.

Die Mariposa wurde in der Ferne kleiner und kleiner. Sie war kaum mehr als ein weißer Punkt – und dann hörte sie plötzlich auf, kleiner zu werden. Oder bildete José sich das ein? Der Wind hatte nicht nachgelassen, doch die Mariposa schien jetzt nur noch seitwärtszutreiben, getragen von der Strömung der Wellen. José zwang sich, in langsamen und gleichmäßigen Zügen weiterzuschwimmen, um durchzuhalten. Es war eine verflucht weite Strecke, die er zu überwinden hatte, und die Wellen machten es nicht leichter. Aber wenn die Mariposa wirklich nur noch seitwärtstrieb, war es möglich, es zu schaffen. Einmal drehte er sich nach Jonathan um, Jonathan, der nicht einmal stark genug war, sich zu wehren, wenn jemand ihn ein wenig untertauchte. Er sah seinen Kopf zwischen den weißen Gischtkämmen der Wellen, streckte einen Arm aus dem Wasser und winkte. Er sah nicht, ob Jonathan zurückwinkte. Halte durch!, wollte er rufen, doch er rief nicht. Er brauchte die Luft in seinen Lungen zum Schwimmen.

Der hält schon durch, sagte die Abuelita in Josés Kopf. Stark ist er nicht, der kleine Europäer, aber zäh. Den kriegt so leicht keiner klein. Und glauben würde ich ihm auch nicht alles …

Ab und zu sah José auf, und jedes Mal war die Mariposa ein wenig näher, ein wenig größer, ein wenig greifbarer. Gleichzeitig fühlte er, wie die Kraft aus ihm wich, langsam, aber stetig. Unter ihm waren Meilen aus dunklem Wasser voller Geschöpfe, die darauf warteten, dass er aufgab. Er gab nicht auf. Und endlich, endlich lag die Mariposa vor ihm, und er versprach Gott, irgendwo irgendwann in irgendeiner Kirche eine Kerze anzuzünden.

Als José an Deck kletterte, merkte er, dass er am ganzen Körper zitterte. Das Steuerruder musste sich gelöst haben, zum Glück, und die Mariposa stand im Wind und trieb willenlos mit den Wellen. So, wie die Holländer sie damals gefunden hatten, mit einem Toten an Bord.

Jetzt waren nur ein Flamingo und eine Ratte an Bord. Sie sahen beide verstört aus vom Knattern der hin und her schlagenden Segel und hatten sich unter die Steuerbordbank geduckt. Minuten später wendete José sein Honigboot und steuerte es dorthin zurück, wo er Jonathan vermutete.

Zwischen den Wellen hier auf dem offenen Meer war es schwierig, einen Kopf auszumachen. Aber schließlich entdeckte er einen schwarz-weißen Fleck. Oskar.

»Jonathan!«, rief José. »Wo bist du? Du bist doch irgendwo hier?«

Da tauchte ein blonder Kopf aus den Wellen und eine Hand hielt Oskar fest. Jonathan sah zu José auf und grinste. »Wir … haben jetzt genug vom Schwimmen«, keuchte er. »Es war eine schöne Abkühlung, aber … könnten wir wohl wieder an Bord kommen?«

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, keine Unfälle zu haben. José hatte als Kapitän der Mariposa befohlen, dass für eine Weile niemand mehr schwimmen ging, niemand mit Waffen spielte … »und niemand sich an Land verprügeln lässt«, hatte Jonathan hinzugefügt.

José hatte eine Angel in seinem Rucksack, und als der Wind wieder einmal nachließ, spießte er ein Stück Dosenfleisch auf den Haken und fing tatsächlich einen Fisch. Oskar war nur schwer davon zu überzeugen, dass ihm dieser Fisch nicht allein gehörte.

Als José den Fisch abends über dem Gaskocher briet, tippte Jonathan ihm auf die Schulter und zeigte stumm hinter sie. »Das Schiff«, flüsterte er. »Das Schiff, das nicht die Roosevelt ist und uns trotzdem folgt. Es ist wieder da.«

José kniff die Augen zusammen. Ja. Da war ein weißer Punkt am Horizont. Vielleicht war es ein Schiff.

»Waterweg«, sagte Jonathan, und seine Stimme klang gequält.

»Wie bitte?«

»Es ist nur eine Vermutung … aber er könnte es sein. Julias Bär war zuletzt bei seinem Gepäck.«

»Wer ist Waterweg?«

»Mein Onkel. Ich meine, zurzeit heißt er natürlich Smith.«

»Natürlich.« José verschränkte die Arme und wartete auf eine Erklärung.

»Sein Name … er … kommt aus Holland, das hatte ich ja schon erwähnt … Aber auf der Reise hierher hat er so getan, als wäre er mein Vater, Mr Smith. Er sagte, es wäre einfacher.«

José nickte. Aber die Abuelita schüttelte den Kopf, er spürte es.

»Kann es sein, dass dein Onkel seinen Namen aus irgendeinem Grund … loswerden musste?«, fragte José. »Und wieso glaubst du, er würde uns folgen?«

Jonathan seufzte. Und dann sagte er zu Josés Überraschung: »Ich hasse ihn.«

»Du … hasst ihn?«

Jonathan nickte grimmig. »Ihn haben sie nicht in den Krieg geschickt. Er hatte gute Kontakte. Ihn hat niemand in Frankreich abgeschossen. Er weiß, wie man sich davor drückt, gefährliche Dinge zu tun …«

»Halt!«, sagte José. »Kontakte zu wem?«

»Zu den Nationalsozialisten.«

»In England gibt es Nationalsozialisten?«

»Nein«, sagte Jonathan. »Doch.« Er verhaspelte sich zusehends und die Abuelita hob misstrauisch einen Zeigefinger. »Er hat … er hatte … Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten. Vor dem Krieg. Deshalb haben Mama und er nicht mehr miteinander gesprochen. Er … er kann sogar Deutsch. Weißt du, ich bin mir nicht so sicher, warum er hergekommen ist. Vielleicht hat es nichts mit Mamas altem Traum zu tun. Er wollte jemanden treffen. Einen Freund, hat er gesagt. Auf Isabela. Wir haben gewartet. Er hat gewartet. Der, den er treffen wollte, kam nicht. Schließlich sagte Waterweg, wir sollten ihm besser entgegenfahren. Deshalb sind wir mit der Isabelita nach Baltra gefahren. Nach Baltra, wo der Militärstützpunkt der Amis ist.«

»Und … was schließt du daraus?«

»Das ist offensichtlich, oder? Er spioniert. Für die Deutschen.«

»Das ist verrückt. Ein Engländer? Für die Deutschen?«

»Ja«, sagte Jonathan. »Das ist verrückt. Der Krieg ist verrückt. Waterweg ist vielleicht nicht ganz so verrückt. Geld ist Geld. – Dein Fisch brennt an.«

José fluchte und wendete den Fisch in der kleinen Aluminiumpfanne.

»Diese Karte«, sagte Jonathan. »Kann es sein, dass auch Waterweg hinter der Karte her ist?«

»Vermutlich«, antwortete José düster.

»Was … was ist eigentlich darauf? Hast du sie dir angesehen?«

»Natürlich«, sagte José. »Der Umriss der Isla Maldita. Eine Menge Linien. Ein bisschen unlesbares Gekritzel. Und ein Kreuz.«

»Ein Kreuz?«

»Ja, ein verdammtes Hier-ist-der-Schatz-Kreuz. Sie sieht aus wie eine Karte aus einem Kinderspiel. Ich begreife nicht …«

»Und wenn es Tarnung ist?«, fragte Jonathan ernst. »Wenn es Absicht ist, dass sie aussieht wie eine Karte aus einem Kinderspiel?«

»Angenommen, sie hätte wirklich etwas mit dem Krieg zu tun«, sagte José. »Wie konnte mein Urgroßvater sie dann schon besitzen? Mein Vater hat gesagt, er habe sie von der alten Karte abgezeichnet, mit der mein Urgroßvater zur Isla Maldita aufgebrochen ist.«

»Ja«, sagte Jonathan. »Das hat er gesagt. Weißt du, ob es stimmt?«

»Du meinst … er hat mir diese Karte … untergejubelt? Warum?«

»Bei dir hätte niemand danach gesucht. Du hättest sie mit nach Isabela genommen, zu eurer Farm. Dein Vater konnte ja nicht wissen, dass du die Mariposa klaust.«

»Ich habe sie nicht geklaut!«, rief José ärgerlich. »Sie gehörte keinem. Jetzt gehört sie mir! Sie … sie hat sogar auf uns gewartet, heute Morgen. Und sie hat sich selbst aus den Felsen befreit. Es ist, als wollte sie mit mir zur Isla Maldita segeln. Mit … uns.« Er fuhr mit der Hand über das honigfarbene Holz der Reling. »Überhaupt, es ergibt keinen Sinn. Wenn mein Vater eine Karte besaß, die er vernichten wollte, dann hätte er das ebenso gut selbst tun können. Und weshalb besaß er sie überhaupt? Was ist darauf eingezeichnet? Was gibt es auf der Isla Maldita, das wichtig für den Krieg ist?«

Jonathan zuckte die Schultern. »Ich nehme an, das finden wir heraus, wenn wir da sind.«

José übergab ihm das Steuer und stand auf. »Sieh du dir die Karte mal an«, sagte er. »Vielleicht siehst du mehr darauf als ein Kinderspiel.«

Er ging in die Kajüte hinunter und griff in seinen Rucksack. Die Karte lag ganz unten, säuberlich gefaltet. Er hatte sie lange nicht mehr angefasst. Jetzt tastete er, fühlte den rauen Stoff des Rucksacks, aber keine Karte. Er holte seine Kleider aus dem Rucksack und drehte ihn um. Nichts. Hatte er sich geirrt? Hatte er die Karte in die kleine Seitentasche gesteckt, in der er auch die Pistole verwahrte? Nein. Die Seitentasche war leer. Es war keine Karte darin. Auch keine Pistole.

José schluckte. Er griff unter den Tisch, wo er sein Gewehr abgelegt hatte. Er war nicht wirklich erstaunt, den Platz dort leer vorzufinden.

Was habe ich dir gesagt?, wisperte die Abuelita. Du hättest ihn nicht an Bord nehmen sollen. Er erzählt Lügengeschichten. Die Geschichte von dem Toten in der Nachthast du die geglaubt?

Du bist es doch, die an Geschichten von Toten glaubt, entgegnete José stumm.

Das ist etwas anderes, sagte die Abuelita. Der da an Bord, der gerade am Steuer sitzt … der tut, als wäre er schwach und unschuldig, erzählt rührende Sachen über seine tote Familie …

José ging zurück an Deck, setzte sich auf die Bank Jonathan gegenüber und musterte ihn eine Weile schweigend. Ein hübscher Kerl, hatte die Abuelita gesagt. Es war wahr. Sein Gesicht war zerkratzt und zerschunden, doch es wirkte noch immer zerbrechlich, ebenmäßig, fein, wie aus Porzellan. Der Wind zerzauste sein helles Haar, und seine blauen Augen waren konzentriert auf den Kompass gerichtet. Schöne Menschen sind gefährlich, dachte José. Sie haben es leicht, einen für sich einzunehmen. Jeder denkt, schöne Menschen wären gute Menschen.

Die Narbe an Jonathans Stirn machte ihn nur noch sympathischer. Vielleicht war diese Narbe nicht einmal echt. José streckte die Hand danach aus und berührte sie.

Jonathan zuckte zurück. »Was soll das? Was ist mit der Karte? Wolltest du sie nicht holen?«

»Du weißt genau, dass ich sie nicht holen kann«, erwiderte José. »Weil sie nicht mehr in meinem Rucksack ist.«

Blitzschnell legte er einen Arm um Jonathans Hals und nahm ihn in den Schwitzkasten.

»Was … ?«, keuchte Jonathan.

»Hast du gedacht, ich merke es nicht?«, fragte José. »Es war alles gelogen, von vorn bis hinten. Du bist nicht schnell genug. Irgendwo in deiner Tasche ist die Pistole, nicht wahr? Aber du bist nicht schnell genug.«

Jonathan wand sich, doch José wusste, dass er stärker war. Er fuhr mit der freien Hand über die Narbe und Jonathan zuckte wieder zusammen. Womöglich war sie doch echt. Aber das hieß nichts. »Wo hast du sie?«, fragte José kalt. »Die Karte? Und wo hast du mein Gewehr versteckt? Oder hast du es über Bord geworfen? Wer bist du? Wieso bist du hier?«

»Das … das habe ich dir alles schon erzählt!«, keuchte Jonathan. »Bist du völlig übergeschnappt?«

»Nein«, knurrte José. »Ich bin zur Vernunft gekommen.« Er ließ Jonathan los, stieß ihn auf den Boden und hielt ihn dort fest. »Jetzt erzähl mir die wahre Geschichte. Nichts von toten Müttern und kleinen Schwestern und Pistolen, die du zufällig unter Deck findest.«

Er sah, dass in Jonathans blauen Augen Tränen standen. »Heul ruhig«, sagte er.

»Ich … heul nicht«, sagte Jonathan und schluckte. »Ich habe seit Jahren nicht geheult. Nicht einmal … damals. Ich weiß nicht, wo dein Gewehr ist. Ich weiß auch nicht, wo die Pistole ist. Und ich habe sie unter Deck gef… Vorsicht!«, schrie er.

José duckte sich instinktiv und der Großbaum fegte über ihn hinweg. Die Segel schlugen knatternd hin und her. Niemand hielt das Steuer fest. Die Mariposa stand einmal mehr im Wind.

José schluckte. Der Baum hätte ihn bewusstlos geschlagen, genau wie jemand es auf Santiago getan hatte.

»Danke«, murmelte er und ließ Jonathan los.

Er sah die Abdrücke seiner Finger dort, wo er Jonathans bloße Unterarme festgehalten hatte.

Jonathan rappelte sich auf und José brachte das Schiff schweigend wieder auf den richtigen Kurs.

»Was … was soll jetzt werden?«, fragte Jonathan schließlich leise.

»Ich weiß nicht«, sagte José. »Ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich dir nicht glaube. Aber ich werde zur Isla Maldita fahren, mit oder ohne Karte, und ich werde herausfinden, was dort vor sich geht. Und wenn ich eines Tages mit einer Kugel im Kopf aufwache, die du hineingejagt hast, dann habe ich es wenigstens versucht.«

Sie aßen den Fisch schweigend, und José sah, wie Oskar sich an Jonathan drängte, der seinen durchweichten Verband gewechselt hatte. Der Pinguin sah José beinahe vorwurfsvoll an. Auch Carmen und Eduardo schienen von ihm abgerückt zu sein. Es war, als hätte Jonathan sich mit der Tierwelt gegen ihn verschworen. Aber wieso kümmerte es José eigentlich, was ein paar dumme Tiere dachten?

Sie teilten die Nacht in mehrere Wachen ein. José übernahm die erste, während Jonathan unten in der Kajüte schlief. Die Sternbilder zogen über José durch die samtene Schwärze, und die Abuelita murmelte vor sich hin, von Toten und Geistern, aber José hörte ihr nicht zu. Er rollte die Gedanken in seinem Kopf hin und her und versuchte Ordnung hineinzubringen. Schließlich nahm er die Segel herunter und warf den Motor an. Er wollte nicht noch ein Unglück riskieren, wenn Jonathan das Steuer übernahm. Noch hatten sie genug Treibstoff. Noch. Als er in die Kajüte hinunterstieg, lag Jonathan auf dem Rücken, den alten Teddybären fest an die Brust gepresst wie ein Kind. Zu seinen Füßen hatte sich der kleine Zoo der Mariposa versammelt.

»Wach auf«, sagte José, und seine Stimme klang rau. »Du bist dran mit Steuern.«

Jonathan blinzelte. »Woher weißt du, dass ich die Mariposa nicht in die völlig falsche Richtung steuere?«, fragte er bitter. »Wenn du mir nicht mehr traust?«

José ließ sich auf die andere Bank fallen. »Steure sie, wohin du willst«, sagte er. »Ich bin zu müde, mich darum zu scheren.«

Das Nächste, woran er sich später erinnerte, war der Geruch von Tabak. Er blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen. Wie lange hatte er geschlafen? Der alte Motor dröhnte noch immer ruhig und gleichmäßig und die Mariposa glitt sacht aufwärts und abwärts durch die nächtliche Dünung des Ozeans.

»Wach auf«, sagte jemand. Es war nicht Jonathan.