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Der Vulkan«, sagte Ben Miller fassungslos. »Er hat die Insel in eine Flamme verwandelt. Wenn sie wirklich dort waren … Wir hätten schneller sein müssen. Wir hätten früher losfahren müssen. Es ist alles meine Schuld. Diese unsinnige Wette am Hafen … Ich habe gesagt, wenn er es schafft, die Isla Maldita zu erreichen und herauszufinden, was dort geschieht, dann würden wir ihn mitnehmen, mit in die Luft ……Ich …«
»Ich weiß«, sagte der Mann neben ihm. Seine Stimme klang brüchig, zermürbt. »Das haben Sie mir schon ein Dutzend Mal erzählt. Ich wünschte, der alte Silvio wäre mitgekommen, statt uns nur sein Schiff zu geben. Vielleicht hätten wir sie rechtzeitig erreicht, wenn er die Albatros gesteuert hätte.«
Er sprach gepresst. Ben sah, wie sehr er sich zusammenriss, um nicht vor ihm zu weinen. Ein Mann von den Inseln weinte nicht. Nicht einmal, wenn zwei Kinder im Feuer starben.
»Warten Sie«, sagte Ben, »da – ist sie das nicht? Ist das nicht die Mariposa?«
Er sah, wie sich die Schultern des anderen Mannes strafften.
»Das ist sie«, sagte er. »Und dort, dort hinten ist das andere kleine Boot. Und die Roosevelt. Warum ist die Roosevelt hinter ihnen her? Ich verstehe das nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Ben. »Aber ich ahne etwas. Es gab Gerüchte um die Mariposa. Das Militär hatte schon länger ein Auge auf ihren Besitzer. Wir sollten hinfahren. Zur Roosevelt. Ich … ich habe keinem von denen etwas über mein Gespräch mit José erzählt. Ich dachte, wir könnten ihn zurückholen und niemand müsste etwas davon erfahren. Aber ich werde es meinen Leuten ohnehin sagen müssen. Ich kann es genauso gut jetzt tun.«
»Nein.« Der andere schüttelte den Kopf, sehr bestimmt. »Wir verlieren zu viel Zeit. Wir müssen die Mariposa einholen.«
»Wenn wir nur ein Funksignal hereinbekämen!«, meinte Ben. »Dann könnten wir mit den anderen Kontakt aufnehmen. Aber der Sturm hat die Anlage ruiniert.«
»Das Meer«, sagte der andere Mann, »ruiniert alles. Nach und nach, unerbittlich. Sie hat es immer gesagt: Lasst eure Finger von den Tauen und Steuerrädern der Schiffe. Sie hatte recht.«
»Wer?«, fragte der jüngere Mann. »Wer hat das gesagt?«
Doch er bekam keine Antwort. Denn in diesem Moment begann es Asche zu regnen. Die beiden sahen auf. Der Wind trieb die Reste von Marchenas Wald heran, in winzigen schwarzen Stückchen.
Ein paar Meilen weiter landeten die Rußpartikel auf dem Deck der Roosevelt. Eine kleine Jacht lag jetzt längsseits ihrer Wand. Teile des kleineren Schiffs waren verbrannt. Es sah schlimm aus. Am Heck waren gerade noch die Worte MARI NOCTURNA lesbar. Jeff Lindsey zog Waterweg an Bord, mitten im schwarzen Regen. Und das war das Ende der Mari Nocturna. Sie war zu nichts mehr zu gebrauchen.
»Parker«, sagte Lindsey. »Lösen Sie die Taue. Lassen Sie den Nachtfalter frei.«
»Zu Befehl, Sir.«
Lindsey seufzte. Dann wandte er sich Waterweg zu. »Sie haben lange gewartet. Wir dachten, Sie schaffen es nicht mehr.«
Waterweg schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht gewartet. Es war seltsam, ich konnte mich auf einmal nicht mehr rühren. Es war das Feuer. Es hat mich an das Feuer in Deutschland erinnert. Es war alles wieder da … Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können …«
Lindsey und Parker hatten keine Zeit für Erinnerungen aus einem Land, in dem sie nie gewesen waren. »Was ist mit Casaflora? Ist er auf der Mariposa?«
Waterweg verneinte. »Er ist dortgeblieben. Auf Marchena. Wir sind ihn los.«
»Und die Karte? Ist sie mit ihm verbrannt?«
Waterweg lachte bitter. »Ich wünschte, sie wäre es! Aber ich bin mir nicht sicher. Ich fürchte, der Junge hat sie. Er hat behauptet, er hätte sie irgendwo versteckt, aber vermutlich hat er sie geholt, ehe sie losgesegelt sind.«
»Der Junge? Welcher Junge?«
»José«, sagte Waterweg. »Marits selbst gewählter Bruder.«
»Wer zum Teufel ist Marit?«, fragte Lindsey ungeduldig.
»Meine Nichte«, antwortete Waterweg. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie auf der Mariposa ist. Es ist ein Zufall. Sie hat nichts mit alldem zu tun. Sie weiß von nichts.«
Parker tauchte hinter ihm auf und hob die Hände, ärgerlich, hilflos. Ich bekomme sie über Funk nicht rein, sagte er zu Lindsey.
Lindsey nickte. »Waterweg, haben Sie eine Ahnung, wer auf diesem Schiff dort ist? Die Albatros. Sie gehört einem Ecuadorianer. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er an Bord ist.«
Parker lachte. »Jetzt verfolgen wir mit zwei Schiffen eine winzige Jacht. Man hätte sie leicht aus der Luft erledigen können. Genau das sollten wir tun.«
Waterweg starrte ihn an. »Haben Sie nicht zugehört? Meine Nichte ist auf dem Boot dort vorn. Sie ist dreizehn! Sie ist ein Kind!«
»Im Krieg«, sagte Parker, »gibt es keine Kinder. Das Leben des Einzelnen zählt nicht genug. Wir werden keine deutschen U-Boote durch den Panamakanal lassen – nur weil Ihre Nichte versehentlich dafür sorgt, dass eine verdammte Karte in deutsche Hände gerät.«
»Mister Lindsey, Sir …«, begann Waterweg, denn es war Lindsey, der an Bord die Befehle gab.
Doch Lindsey nickte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber wenn es notwendig wird, die Mariposa aus der Luft abzuschießen, wird es geschehen. Und wenn es notwendig ist, dass nichts von der Mariposa übrig bleibt, nicht die kleinste Schraube – dann wird nichts von ihr übrig bleiben.«
Marit saß im Dunkeln und lauschte. Das Atmen von der anderen Bank war schwer und gleichmäßig. Wer immer dort lag, er schlief. Sie ging im Kopf die Möglichkeiten durch, wer es sein konnte. Casaflora? Waterweg? Aber wie waren sie auf die Mariposa gekommen? Und wenn es jemand Drittes war, jemand, von dessen Existenz sie noch nichts wusste?
Sie zwang sich aufzustehen. Leise, ganz leise tastete sie sich um den winzigen Tisch herum … da erwachte der Schlafende und richtete sich halb auf. Sie konnte noch immer nichts erkennen.
»Wer … wer sind Sie?«, flüsterte sie.
Sie erhielt keine Antwort. Nur ein seltsames Schnaufen drang aus der Dunkelheit zu ihr. Dann rollte der andere von der Bank und landete mit einem dumpfen Aufprall vor ihren Füßen.
Marit war mit einem Satz bei der Tür, riss sie auf und schrie Josés Namen.
»Himmel!«, sagte José. »Du kannst einen erschrecken! Was ist passiert?«
»In … in der Kajüte … da ist etwas … jemand!«, stammelte Marit.
José schob sie sanft beiseite, um die Tür zur Kajüte sehen zu können. Und auch Marit drehte sich noch einmal um.
Aus dem Dunkel der Kajüte streckte sich eine braun behaarte Schnauze. Lange Schnurrhaare zitterten und zwei schwarze Knopfaugen blinzelten ins Licht.
»Ein Seelöwe!«, sagte Marit.
»Eine Seelöwin«, verbesserte José.
»Das … oh«, sagte Marit. Und dann, plötzlich verärgert: »Was tut ein verdammter See... eine verdammte Seelöwin auf der Mariposa?«
José zuckte die Schultern. »Ich bin nicht der von uns, der reiselustige Tiere sammelt«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Hast du schon einen Namen für sie?«
Sie nannten die Seelöwin Chispa, denn Chispa bedeutete »Funken«, und sie war mit ihnen aus dem Funkenregen des Vulkans geflohen.
»Aber sie hat keinen Funken Verstand«, sagte José, »wenn sie sich auf ein so verrücktes Schiff wie das unsere wagt. Ein schwimmender Zoo ohne Motor, mit zwei mächtigen Seglern auf den Fersen. Eine schwarze Arche.«
Asche bedeckte die ehemals goldenen Planken der Mariposa, Asche bedeckte die beiden Sitzbänke, das Kajütendach, die Stufen, die unter Deck führten. Und als Marit in ihre Haare griff, da wusste sie, dass sie nicht länger blond waren, sondern grau von der Asche. Sie holte Casafloras alte Kleider als Lappen aus der Kajüte, fand einen Eimer und sogar eine Bürste und begann das Deck zu schrubben. José betrachtete sie eine Weile kopfschüttelnd. Dann glänzte das erste freundliche Honiggold durch die schwarzen Schlieren, und da half er Marit, obwohl dies sicher keine Aufgabe für einen echten Mann war.
Gemeinsam schrubbten und wischten sie wie zwei Besessene: Und mit jedem Eimer schwarzen Wassers, den sie über die Reling kippten, kippten sie auch ihre Angst über Bord. Schließlich strahlte die Mariposa wieder hell wie ein Fleck aus Sonnenlicht.
Gegen Mittag regnete es. Sie fingen das Wasser in jedem Gefäß auf, das sie finden konnten, und tranken sich satt daran. Alles hätte zur Abwechslung in Ordnung sein können.
Doch hinter ihnen näherten sich die beiden großen Schiffe. Gegen Abend waren sie so nah, dass man nicht mehr über sie schweigen konnte.
José seufzte. »Siehst du den Strich dort am Horizont? Das ist die Isla Maldita. Wir haben es beinahe geschafft. Noch ein Tag mit gutem Wind …«
Marit versuchte die Entfernung zu den Schiffen zu schätzen. »Ich gebe ihnen noch eine Stunde«, sagte sie. »Was, wenn wir ihnen einfach sagen, dass die Karte verbrannt ist?«
José hatte ihr erklärt, was es mit Casafloras Karte auf sich gehabt hatte – dass sie den deutschen und japanischen U-Booten den Weg an der Patrouille der Amerikaner vorbei gezeigt hätte und auch die genaue Lage der Militärbasis auf Baltra, ausreichend genau, um sie aus der Luft zu beschießen. Was es mit seiner eigenen Karte auf sich hatte, hatte er ihr nicht erklärt. Denn er wusste es immer noch nicht.
»Sie werden uns nicht glauben, dass Casafloras Karte verbrannt ist«, sagte José. »Und vielleicht wissen sie von der zweiten Karte. Der Karte, die ich habe und die nichts mit Piratenschätzen zu tun hat.«
»Was, glaubst du, ist dann auf der Isla Maldita?«, fragte Marit.
»Ich … habe einen Verdacht«, antwortete José. »Vielleicht sind die Deutschen auf der Insel. Vielleicht haben sie eine Funkstation dort aufgebaut, von der niemand etwas weiß. Vielleicht sind ihre U-Boote längst durch den Panamakanal zu uns in den Pazifik gekommen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis es ganz in der Nähe eine Seeschlacht gibt.«
Marit schüttelte den Kopf. »Es ist, als würde sich der ganze Krieg plötzlich um die Galapagosinseln drehen.«
In diesem Moment fuhr ein Windstoß ins Segel der Mariposa und stellte sie von einer Sekunde auf die andere auf ihre Leekante wie ein Spielzeug. Weder Marit noch José hatten gemerkt, wie schnell sich der rote Abendhimmel verdüstert hatte. Sämtliche Tiere an Deck verloren den Halt, fielen übereinander und versuchten die Kajüte zu erreichen.
»Verdammt!«, rief José. »Das ist der nächste Sturm! Wir müssen die Segelfläche verringern! Das Großsegel … Halt sie dicht am Wind!«
Er war schon auf dem Weg nach vorn, um das Fall zu lösen, und Marit betete stumm, dass es diesmal nicht klemmte. Sie stemmte sich gegen das Steuer und versuchte gleichzeitig, mit den Füßen Halt auf den abschüssigen Planken zu finden. In ihrem rechten Ärmel spürte sie Carmens kleinen warmen Körper. Und sie spürte ihr ängstliches Zittern.
Das Großsegel löste sich mit einem Knall, José griff mit beiden Händen hinein und zerrte es herunter. Er stand in Metern von weißem Segeltuch, die der Wind hin und her schlug, als wollte die Mariposa ihn abschütteln. Selbst jetzt noch, nur durch das Vorsegel getrieben, schoss sie über die Wellen dahin wie von Furien gehetzt. Die Schaumkämme der Wellen waren unwirklich weiß, weißer noch als das Segel. Die Isla Maldita war hinter den Wellenbergen nicht mehr zu sehen. Nichts war mehr zu sehen, nur noch aufspritzende Gischt. Der Wind heulte in der Takelage und riss an Tauen und Tampen, und Marit dachte, dass sie all dies schon einmal erlebt hatte. Sie sah den Ozean über die Leereling hereindringen, genau wie damals.
»Der Motor!«, hörte sie José schreien. »Wirf den Motor an und –« Er verstummte und starrte sie durch die spritzende Gischt hinweg an, an den Mast geklammert, seine Augen groß vor Entsetzen. Marits Lippen formten Worte, und José verstand sie, denn offenbar dachte er dieselben Worte im selben Moment: Wir haben keinen Motor.
Eine Weile sahen sie sich einfach an, gelähmt. Die Mariposa pflügte durch den Pazifik, ihre Leeseite halb unter Wasser. Marit wünschte sich Juan Casaflora zurück. Er hätte eine Lösung gefunden. Aber Casaflora war tot.
Marit sah, wie José den Mast losließ, um einen Satz nach vorn zu machen. Er hatte offenbar beschlossen, die Fock trotz allem herunterzunehmen. Doch gerade, als er seinen Griff vom Mast löste, fuhr der Wind in eine Falte des schlaffen Großsegels, blähte es auf und schlug José den Stoff ins Gesicht. Marit sah, wie er von den Füßen gerissen wurde.
Einen schrecklichen Moment lang suchte er Halt … und dann griff das Meer nach ihm und zog ihn über Bord.
»José!«, schrie Marit. Sie sah seinen Kopf auf den Wellen, sah ihn zurückbleiben und gleichzeitig riss die Kraft des Windes ihr das Steuerruder aus den Händen. Der segellose Großbaum schlug herum, sie sah ihn auf sich zukommen, versuchte sich zu ducken – und spürte den Aufprall. Der Baum fegte sie einfach über Bord. Mitten hinein in das Chaos aus kaltem Wasser, Wellen und Gischt. Dunkle Strudel zwangen sie tiefer und tiefer, und etwas befreite sich mit winzigen Krallen aus ihrem Ärmel.
Marit tauchte wieder auf, schnappte nach Luft und sah in der Ferne vor dem unheilvoll dunklen Abendhimmel die Mariposa. Sie schien kleiner zu sein als sonst. Nein, dachte Marit dann. Nein, das ist sie nicht. Ihr Mast ist nur niedriger.
Sie sinkt.
Ja, die Mariposa sank. Sie war ganz voll Wasser gelaufen und der Grund des Pazifiks rief sie mit Macht. Sie schickte noch einmal ihr honiggoldenes Leuchten über das schwarze Meer. Das Letzte, was aus dem Wasser ragte, war ihr Mast, schließlich die Mastspitze und dann – gar nichts mehr.
Etwas kam wieder hoch, etwas, das sich aus den Angeln gelöst hatte: die Tür der Kajüte. Marit sah, wie eine Welle die Tür auf sie zutrieb, streckte die Arme aus und bekam sie wie durch ein Wunder zu fassen. Kurz darauf kletterte noch etwas auf das schaukelnde Stück Holz, etwas Kleines, Braunes mit langen triefenden Schnurrhaaren: Carmen.
»José!«, rief Marit. Sie bekam einen Schwall Wasser in den Mund, hustete und spuckte. »José?«
Er war nirgendwo zwischen den Schaumkämmen der Wellen zu entdecken. War er da? Ganz in der Nähe? Oder hatte das Meer auch ihn auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?
Als José die Mariposa sinken sah, war es, als würde sein Herz mit ihr versinken.
Honigboot, dachte er, Schmetterlingsschiff. Goldarche.
Er hatte sie so geliebt.
Sie war das erste Schiff gewesen, das er ganz allein gesteuert hatte, und er hatte sie in den Untergang gesteuert. Er ließ sich von den Wogen beuteln und untertauchen, ohne sich zu wehren – er fühlte, wie sich auf seinem Gesicht Tränen mit dem Wasser des Ozeans vermischten, und er schämte sich dafür, aber niemand sah ihn weinen. Nur die Abuelita keifte in seinem Kopf. Jetzt reiß dich aber zusammen! Das ist keine Beerdigung, sondern ein Sturm! Und du hast jetzt keine Zeit zum Heulen! Willst du, dass die Unaussprechlichen dich zu ihrem Sklaven machen, dort, am Grunde des Meeres? Schwimm!
Da schwamm José, und als er etwas Hölzernes auf sich zutreiben sah, griff er danach und packte es. Es war eine der Heckbänke der Mariposa. Und darauf saß schon jemand. Uwe der Leguan. Es war ein merkwürdiges Bild, dieser kleine urzeitliche Drache mitten im Sturm auf einer losgerissenen Holzbank, aber José sah das Bild nicht lange, denn die Wellen überspülten Drache und Floß und ihn selbst jetzt unermüdlich. Während er mit dem Wasser kämpfte, dachte er in regelmäßigen Abständen einen Namen, obwohl es ihm nichts nützte, ihn zu denken. Marit!, dachte er, Marit! War sie da? Ganz in der Nähe? Oder hatte das Meer auch sie auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?
Irgendwann legte sich der Sturm. Irgendwann legt sich jeder Sturm. Die Nacht breitete sich sanft und schwarz über den Pazifik, und er rollte mit langen Atemzügen alles, was sich auf seiner Oberfläche befand, nordwestwärts: Tang, Träume, Treibholz.
Zwei Stücke Treibholz waren von rechteckiger Form und das Licht einer schmalen Mondsichel kratzte ihre Umrisse ins Wasser wie Linien in schwarzes Kohlepapier. Etwas hing an diesen Treibholzstücken, etwas saß darauf, etwas klammerte sich daran. Etwas, das sich kaum noch regte. Schließlich hob es den Kopf und da war es ein Mensch. Ein Mensch, der auf dem beinahe glatten Wasser das andere Stück Treibholz sah.
»José?«, flüsterte Marit und griff nach seiner Schulter, um ihn zu schütteln.
José sah auf und blinzelte. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich bin es.«
Da grinste Marit. »Ist das nicht unglaublich?«, fragte sie. »Wir leben. Und sieh nur, dort!«
Sie zeigte voraus in die Nacht. Dort kam etwas Großes, Weißes herangepaddelt, und etwas Kleineres, das rosa gewesen wäre, hätte das Licht für Farben gereicht: ein Albatros und ein Flamingo. Kurz darauf tauchte vor ihnen ein Pinguin auf. Er ließ sich auf die Tür heben und sah sich etwas verwundert um.
»Nur die Seelöwin fehlt«, stellte José fest.
»Nein«, sagte Marit. »Dreh dich um.« Hinter José blinzelten zwei glänzende Augen aus einem runden Gesicht ins Mondlicht. Chispa paddelte näher und zog sich neben José auf die schmale Bank. Dort rollte sie sich auf die Seite und schlief unverzüglich ein.
Einen Augenblick wurde Marit warm und leicht ums Herz. Doch dann sah sie den Ozean in der Nacht liegen, unendlich und weit, und sie fühlte das Gleiche wie in jener Nacht, als sie von der Isabelita aus ins Wasser gefallen war: die Unmöglichkeit zu überleben.
Damals war José vorbeigekommen und hatte sie herausgefischt. Und jetzt?
»Was werden wir jetzt tun?«, flüsterte sie. »Wir sind meilenweit weg von jeder Insel. Marchena liegt einen Tag hinter uns und die Isla Maldita einen Tag vor uns, und ich weiß nicht einmal, in welcher Richtung …«
»Die Schiffe«, sagte José. »Die Roosevelt und … das andere Schiff. Sie müssen noch immer in der Nähe sein. Ist es nicht ein Glück, dass wir verfolgt werden?«
Marit sah sich um. »Ich sehe sie nicht.«
»Wenn der Morgen kommt«, sagte José, »dann wirst du sie sehen. Und sie werden uns sehen. Wer immer sie sind, sie werden uns herausfischen. Ich werde ihnen die Karte von der Isla Maldita geben.«
»Du hast die Karte noch?«, fragte Marit verblüfft.
José nickte. »Sie steckt in meiner Tasche, klein zusammengefaltet. In der wasserdichten Hülle, in der Casafloras Karte einmal war. Vielleicht erkauft sie uns den Weg auf die Roosevelt.«
Und dann wurde es Morgen, ein Morgen von der Farbe der Mariposa, hell und golden und leuchtend. Und Marit sah die Schiffe. Sie sah, wie weit weg sie waren. Sie fuhren nicht auf sie zu. Sie fuhren in der Ferne an ihnen vorbei, dicht nebeneinander jetzt. Marit und José schrien und winkten, doch sie wussten, dass es keinen Zweck hatte.
»Sie kommen schon noch«, sagte José. »Wenn sie die Mariposa nicht mehr sehen, wissen sie, dass wir irgendwo hier im Wasser schwimmen.«
Die Schiffe wechselten tatsächlich den Kurs. Aber diesmal fuhren sie auf der anderen Seite an ihnen vorbei, und noch immer war die Entfernung viel zu groß.
»Marit!«, sagte José plötzlich. »Ich weiß es jetzt! Woher ich das andere Schiff kenne! Es ist die Albatros! Die Jacht des alten Silvio, der mich nach Baltra mitgenommen hat. Ich weiß nicht, warum er uns verfolgen sollte … vielleicht hat er das Schiff jemand anderem geliehen … aber die Albatros ist ein gutes Schiff. Die Albatros wird uns finden. Bestimmt.«
Marit lag auf dem Rücken auf ihrer Tür, die Beine angezogen, Carmen auf dem Bauch. Ihre Kleider trockneten langsam und die Sonne brachte die Wärme in ihren Körper zurück. Doch die Schiffe brachte sie nicht zurück. Gegen Mittag wechselten sie zum dritten Mal den Kurs.
Was sie suchten, war zu klein, war vernichtend winzig im riesigen Blau des Pazifiks. Seine sanften Wellen waren noch immer zu hoch, sie verbargen das willenlos dahintreibende Spielzeug des Meeres gut.
Gegen Mittag fiel ein leichter Regenschauer, und Marit und José ließen das Süßwasser mit geschlossenen Augen über ihre Gesichter laufen und versuchten, so viel wie möglich davon zu trinken. Es nahm die sengende Hitze der Sonne fort und kühlte auf wunderbare Weise. Als der Regen nachließ, öffnete Marit die Augen. Und da sah sie, wie die beiden Schiffe abdrehten und davonfuhren. Sie hatten ihre Suche aufgegeben.
»Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Marit bitter. »Ganz allein mit der Sonne und dem Ozean. Und einer Handvoll Tieren, die uns auch nicht helfen können.«
»Nein«, sagte José. »Wir sind nicht allein. Wir sind zu zweit. Vergiss das nie.«
Wie viele Bücher hatte Marit über Schiffbrüchige gelesen! Über die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Über die Wasserknappheit. Den Hunger auf den Rettungsbooten. Den Kannibalismus, der letztlich ausbrach. Den Mut, den die Schiffbrüchigen bewiesen. Es war alles gelogen.
Marit wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, eines der Tiere aufzuessen, die mit ihnen unterwegs waren. Die Tür, auf der sie lag, schaukelte auf eine seltsam unstete Weise, und wenn Marit irgendetwas in ihrem Magen spürte, dann Übelkeit. Sie konnten auch keinen Mut beweisen, denn es gab nichts, was sie hätten tun können. Das einzig Wahre, was in den Büchern gestanden hatte, war die sengende Sonne. Sengend. Erst jetzt begann sie das Wort zu begreifen.
Es war die hellste Art, hell zu sein, die heißeste Art, heiß zu sein, die unausweichlichste Art, unausweichlich zu sein. José zog sein Hemd aus, um damit seinen Kopf zu schützen, wie damals auf der Mariposa. Und Marit stellte voller Erstaunen fest, dass sie noch immer eine karierte Mütze in der Tasche hatte. Wenn sie gegen Wind und Regen in Europa half, warum sollte sie nicht gegen die Sonne des Pazifiks helfen?
Sie half nicht. Die Sonne durchbohrte den Stoff mit ihren Strahlen und dörrte die Körper auf dem Ozean aus, sie spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberfläche und stach in die Augen, stach ins Gehirn. Und dann kam die Nacht und mit der Nacht kam die Kälte.
»José«, flüsterte Marit. »Diese Nacht … überleben wir nicht.«
»Sei still«, sagte José. Sie hatten ihre Fahrzeuge, die Tür und die Bank, mit Streifen ihrer Kleidung zu einem einzigen Floß zusammengebunden, und nun drängten sie sich eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Kurt deckte sie mit seinem weißen Federkleid zu. Und die Nacht ging vorüber und sie lebten noch, und die Sonne kehrte wieder, brennend heiß, und alles begann von vorn.
In dieser Mittagsstunde regnete es nicht. Das Meer war weiß wie ein Stück Papier, weiß wie Schnee, weiß wie das flüssige Gestein im Innern eines Vulkans … Und dann tauchte etwas aus dem Weiß auf. Eine riesige Flosse, auch sie an ihrer Unterseite reinweiß.
»José«, flüsterte sie. »Da! Sieh nur!«
»Ein Wal«, antwortete José heiser. »Ein Buckelwal.«
Der Wal blieb eine Weile verschwunden und tauchte ein Stück weiter noch einmal auf, nur um mit einer Krümmung seines riesigen, seepockenbedeckten Rückens wieder zu verschwinden. Er klatschte mit seinen Flossen auf die Wasseroberfläche, es knallte wie Schüsse und Marit und José zuckten zusammen. Doch offenbar war dies die Art des Wals zu spielen. Er schwamm eine ganze Weile neben ihnen her, und wenn er an die Oberfläche kam, sahen sie die Wasserfontäne, die er aus seinem Blasloch stieß.
José hob den Kopf ein wenig von der Bank, auf der er lag. »Wenn du diesen Wal … behalten willst«, sagte er schwach, »dann rechne nicht damit, dass ich zustimme.«
Marit lächelte, doch das Lächeln tat weh, denn die Trockenheit hatte tiefe blutige Risse in ihre Mundwinkel gegraben. »Ich kann ihn nicht … behalten«, flüsterte sie mühsam, stockend. »Er ist … zu groß. Einen so großen Namen kann ich mir … niemals ausdenken.«
Da verließ der Wal sie endgültig. Marit hielt ihr Gesicht ins Wasser, um ihm nachzublicken, doch statt des Wals fand sie eine Gruppe von Wasserschildkröten dort. Sie sah das feine Netz aus hellgelben Linien, an denen ihre dunklen Panzerplatten zusammenstießen, sah ihre grazilen Flossen und ihre aufmerksam glänzenden Edelsteinaugen …
»Wie schön sie sind!«, wisperte Marit. »Wir werden nie jemandem erzählen können, wie schön sie sind.« Sie wusste nicht, ob José antwortete. Sie hörte nichts mehr. Und dann, dann hörte sie wieder, hörte im Traum.
Sie hörte, wie sich die Haustür einer Hamburger Wohnung öffnete, mitten in der Nacht. Sie hörte Schritte im Flur vor ihrem Zimmer. Die Angst krallte sich um ihr Herz wie eine eisige Zange. Sie tappte im Nachthemd über den Dielenboden und öffnete leise die Tür zum Flur. Es war dunkel dort, aber in der Küche brannte Licht. Sie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Der Wasserhahn lief.
Jemand summte eine Melodie und die eisige Zange um Marits Herz zerbrach. Es war Mama. Aber von wo kam Mama um diese Zeit? Wo war sie gewesen? Warum summte sie?
In Marit begann etwas zu keimen, was keine Angst war. Eine Kreuzung aus Misstrauen, Trauer und Wut. Sie schob die angelehnte Küchentür auf und ging hindurch. Die Fliesen waren kalt unter ihren Fußsohlen. Mama saß am Küchentisch vor einem Glas Wasser. Als Marit hereinkam, ließ sie etwas in ihrer Tasche verschwinden. Ein Stück Papier. Ihr Füllfederhalter lag noch auf dem Tisch. Sie hatte etwas geschrieben.
»Marit«, sagte sie jetzt. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.
»Wo warst du?«, fragte Marit.
»Ich … ich war nur im Hof unten. Ich habe …« Mama zögerte, sah sich um und zeigte auf den Schrank. »Ich habe mir die Nachtfalter angesehen. Da, siehst du?« An der Kante des Küchenschranks saß ein brauner Schmetterling mit schwarz-gelb gemusterten Flügeln. »Ist er nicht schön? Er saß am Holzschuppen. Ich habe ihn mit heraufgebracht. Ich wollte nachsehen, welche Sorte es ist.«
Marit trat näher an den Falter heran. Er rührte sich nicht. »Ist er tot?«
Mama lachte. »Aber nein. Er wundert sich nur, was er in unserer Küche soll. Ich bringe ihn zurück, sobald ich seinen Namen in meinem Buch gefunden habe.«
Marit sah auf. »In diesem Fall solltest du das Buch aus dem Wohnzimmer holen.«
»Oh«, sagte Mama. »Ja. Ja, das sollte ich wohl.«
War sie wirklich im Hof gewesen, um einen Nachtfalter zu bestimmen? Es war so … unsinnig. Aber manchmal tat Mama unsinnige Dinge. Vor allem in letzter Zeit. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Andererseits … Es konnte genauso gut sein, dass der Nachtfalter vollkommen zufällig in der Küche saß: eine Ausrede, sonst nichts.
»Schreibst du einen Brief?«, fragte Marit.
Mama schüttelte den Kopf. »Ich wollte aufschreiben, wie … wie er aussieht, weißt du? Der Falter.«
»Das ist doch alles gelogen«, sagte Marit. »Du hast dich mit jemandem getroffen. Mit einem Mann.«
»Vielleicht.«
Marit merkte erst, dass sie mit den Fäusten auf Mama losgegangen war, als Mama sie festhielt.
»Marit«, flüsterte sie. »Marit, hör auf! Das Leben, verstehst du … das Leben muss weitergehen.«
»Papa ist vielleicht gar nicht tot!«, zischte Marit. »Vielleicht hat er den Absturz seiner Maschine überlebt und … und liegt verwundet irgendwo in Frankreich und wartet darauf, dass der Krieg zu Ende geht und er nach Hause kommen kann. Und du rennst mitten in der Nacht weg … und triffst dich mit einem anderen! Du willst wohl, dass Papa nicht wiederkommt, wie? Du willst, dass er tot ist!«
Mama hielt sie auf Armeslänge von sich ab, und Marit dachte, sie würde ihr eine Ohrfeige geben für das, was sie da gesagt hatte. Doch Mama musterte sie nur für einen Moment, dann zog sie Marit an sich und drückte sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb.
»Geh zurück ins Bett«, flüsterte sie. »Schlaf noch ein wenig.«
Am nächsten Morgen fand Marit den Nachtfalter auf dem Fensterbrett und ließ ihn hinaus. In der Tasche von Mamas Jacke, die am Haken hing, steckte ein Briefumschlag. Marit sah es, als sie zur Schule ging. Sie nahm den Umschlag heraus. Es war keine Briefmarke darauf, es gab keine Adresse. Vielleicht würde Mama den Umschlag selbst irgendwo einwerfen. In den Briefkasten eines Mannes, der nicht Papa war, dachte Marit bitter. Nur eine Zeile stand säuberlich in der Mitte des zugeklebten Umschlags:
Forschungsprojekt: Nachtfalter.
Auch José erinnerte sich. Er erinnerte sich, halb im Traum, daran, was auf Santiago geschehen war, ehe die beiden Amerikaner ihn bewusstlos gefunden hatten.
Er erinnerte sich, wie er sein Gewehr anlegte, wie er zielte und abdrückte. Und jetzt endlich sah er, auf wen er gezielt hatte: Es war kein Mensch gewesen. Es war ein junger Bulle.
Eines der verwilderten Rinder der Inseln, die hier keine natürlichen Feinde hatten und sich unkontrolliert vermehrten. Schon als sich der Schuss löste, wusste José, dass es Unsinn war, was er tat. Er konnte keinen ganzen Bullen auf die Mariposa schleppen. Er konnte sein Fleisch auch nicht an Land zerlegen. Es hätte ewig gedauert, und was wollte er hinterher damit anfangen? Zu Hause hatten sie das Fleisch der Bullen eingepökelt, aber hier hatten sie weder mehrere Kilo Salz noch die notwendige Zeit.
Aber er hatte abgedrückt und nun war es zu spät. Ehe der Schuss traf, trat Josés Opfer einen Schritt zur Seite, und so streifte die Kugel ihr Ziel nur. Der Bulle warf den Kopf zurück und brüllte seinen Ärger und seinen Schmerz in den Wald hinaus. Dann rannte er quer über die Lichtung auf seinen Angreifer zu. José schoss ein weiteres Mal. Er hatte keine Wahl mehr. Er musste den Bullen töten, sonst würde der Bulle ihn töten. Diese Kugel traf, doch auch sie verletzte das Tier nur und machte es noch ärgerlicher. José sprang zur Seite, der Bulle stürmte an ihm vorbei, brach krachend ins Unterholz – und kehrte um. Als José zum dritten Mal durchlud und zielte, hatte das Tier den Kopf gesenkt und kam in gestrecktem Galopp zurückgerast. José sah das Blut an seinem Hals und seiner Brust hinabrinnen. Er sah die dunklen Flecken auf seinem Fell. Und er sah die unbändige, rot geäderte Wut in den Augen des Tiers.
Der Schuss, der sich aus seinem Gewehr löste, löste sich zu spät. José sah nur noch einen Wirbel aus rasender, brodelnder Wut, ein Huf traf ihn am Kopf – und er erwachte aus seinem Erinnerungstraum, keuchend vor Schmerz.
»Ein … ein Bulle«, flüsterte er. »Es war nur ein Bulle. Und wir haben die ganze Zeit über gedacht …«
Der Schmerz hinter seiner Schläfe war noch immer da, er war zu real, um aus seiner Erinnerung zu stammen. Und dann merkte er, dass jemand mit einem kleinen harten Gegenstand an seine Schläfe hämmerte. Er versuchte die Augen zu öffnen und schaffte es nur mit Mühe. Die Wellen mussten über ihn geschwappt sein, ohne dass er es gemerkt hatte: Das Salz hatte seine Wimpern verklebt und verkrustet. Er blickte aus schmalen Schlitzen in das Gesicht – eines Flamingos. Hatte Eduardo beschlossen, der erste menschenfressende Flamingo zu werden? Jetzt bog er den Hals zur Seite und vollführte ein paar komplizierte Bewegungen mit seinen Flügeln. José folgte seinem Blick. Und da begriff er mit einem Schlag, was der Flamingo ihm sagen wollte. Es ging um Marit.
Sie war ins Wasser gerutscht, nur ihre Arme befanden sich noch auf der ehemaligen Kajütentür. Und sie rutschte weiter. Auch sie hatte die Augen geschlossen. José griff nach ihrer Hand und versuchte sie hochzuziehen, zurück auf die Tür. Aber er hatte keine Kraft mehr. Er, der ein Mann hatte sein wollen, war so schwach geworden wie ein Kind. Alles, was er tun konnte, war, Marits Hand nicht loszulassen.
»Marit!«, wollte er rufen, doch er flüsterte ihren Namen nur. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und verstummte, um zu lauschen. Ihre Worte waren leise wie der Wind am anderen Ende der Welt, doch nach einer Weile verstand er Fetzen von dem, was sie sagte.
Da war das Wort »Nachtfalter« und das Wort »Telefon«. Sie wiederholte ihren Satz, und schließlich verstand José: »Sie hat es auch am Telefon gesagt. Nachtfalter. Es geht um die Nacht-falter … Mission Nachtfalter … einen Tag bevor alles brannte …« Träumte Marit? Ihre Sätze ergaben keinen Sinn. »Das Schiff!«, flüsterte sie jetzt. »Waterwegs Schiff! Wie hieß es?«
Mari Nocturna, dachte José. Die Nächtliche Maria. Nein. Plötzlich verstand er, warum das a am Namen Maria fehlte. »Mari« war eine Abkürzung: die Abkürzung von »Mariposa«. Auch Waterwegs Schiff trug den Namen Mariposa. Mariposa Nocturna. Der Nachtfalter.
Aber wer hatte das Wort am Telefon gesagt? Und wo? In London? Eine Welle überspülte das Floß, riss an Marit – riss ihre Hand aus Josés Hand.
»Nein!«, schrie er. Wollte er schreien. Er schrie nicht. Es war ein stummes Nein.
Er sah Marit versinken, wie er die Mariposa hatte versinken sehen. Er wollte den Kopf heben, um zu sehen, ob ein Wunder geschehen und eines der Schiffe wiedergekommen war. Ob alles in letzter Sekunde noch gut würde. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Kopf sank zurück auf das Holz der Bank und er schloss die Augen wieder.