51952.fb2 Die geheime Reise der Mariposa - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 28

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La cruz negra Das schwarze Kreuz

Marit lag in ihrem Bett, zu Hause in Hamburg, und hörte den Fliegeralarm. Sie lag ganz still da. Sie wusste, sie musste aufstehen, den Koffer nehmen und mit Mama und Julia hinunter in den Luftschutzkeller gehen. Nein. Sie würde einfach hier liegen bleiben, bis alles wieder still war. Es würde nichts passieren. Es gab so oft Alarm. Es passierte nie etwas.

»Marit! Wach auf!« Das war Mama. Sie musste direkt neben Marits Bett stehen. Und dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sagte: »Dies ist die Nacht. Beim nächsten Alarm, haben sie gesagt, ist es an uns, mit den Nachtfaltern zu fliegen.«

Marit rieb sich die Augen. »Was?«

Sie sah Mama lächeln, obwohl es doch dunkel war. »Später. Später erkläre ich es dir«, sagte sie. »Beeil dich jetzt. Ich kümmere mich um Julia.«

Marit schlüpfte in ihre Sachen. Etwas streifte ihre Wange – vielleicht war es einer der nächtlichen Schmetterlinge. Sie beeilte sich, das Hemd über den Kopf zu ziehen, aber sie war zu verschlafen und zu verwirrt: Sie verhedderte sich darin, fand die Ärmel nicht, fand den Kragen nicht, steckte fest, konnte nicht mehr atmen … Verzweifelt schlug sie um sich, rang nach Luft und schluckte Wasser. Und endlich begriff sie, dass es kein Hemd war, das sie festhielt: Es war der Ozean. Sie bekam einen Stoß vor die Brust, einen an die Schulter, etwas schubste sie nach oben: Marit tauchte auf, spuckte Wasser und füllte ihre Lungen mit Luft. Da waren Körper um sie herum, große, geschmeidige Körper, dicht an dicht, die sie vorwärtsstießen, spielerisch, übermütig.

Die Körper von Seelöwen.

Die Benommenheit wich von Marit, und sie sah sie jetzt deutlich: ihre blitzenden Knopfaugen, ihre runden Köpfe, die zitternden Schnurrhaare. Und dann sah sie die Felsen. Ihre Spitzen ragten aus dem Wasser, schwarz und feucht glänzend, bewachsen mit Algen und Seepocken. Die Seelöwen schubsten ihr menschliches Spielzeug durch ein Labyrinth aus scharfem Stein, und als Marit den Kopf hob, sah sie das Ufer einer Insel. »Ist … ist sie das?«, flüsterte sie. »Die Isla Maldita?«

Gleich darauf spürte sie Sand unter sich, zog sich auf einen Strand und blieb dort liegen. Die Seelöwen scharten sich um sie und beäugten sie voller Neugier. Eines der Tiere rieb seinen Kopf an Marits Kopf und da erkannte sie die Seelöwin.

»Chispa«, flüsterte sie. »Sie ist es, nicht wahr? Die Insel, zu der José wollte. Aber wo ist er? Habe ich ihn verloren, dort draußen auf dem Meer? Für … immer?«

Chispa sah zurück zum Wasser und Marit folgte ihrem Blick. Dort trieb ein seltsames Gefährt heran, ein Floß, bestehend aus einer Kajütentür und einer Schiffsbank. Das Floß fand den Weg durch das steinige Labyrinth langsam von selbst, verkantete sich manchmal zwischen den Felsen, löste sich wieder und wurde weiter von der Dünung des Meeres herangetragen. Ein Albatros und ein Flamingo schwammen dahinter auf dem Wasser, ein Wasserleguan. Und war das ein Pinguin? Auf dem Floß jedoch lag eine reglose Gestalt mit braun gebrannter Haut und schwarzem Haar.

Da war es, als kehrte die Kraft in Marits Körper zurück, und sie schaffte es, aufzustehen und ins Wasser zurückzuwaten.

»José!«, rief sie heiser. »José, hörst du mich?«

Er hatte die Augen geschlossen. Eine weiße Salzwasserkruste verklebte seine Lider. Jetzt, jetzt war das Floß ganz nah. Marit packte seinen Rand und zog es auf den Strand. Die Tiere, die das Floß begleitet hatten, kamen an Land, und als der Albatros sein weißes Gefieder schüttelte, fiel etwas Kleines, Braunes heraus: Carmen.

Marit beugte sich über José. Er lag auf dem Bauch, und sie konnte nicht sehen, ob er atmete.

»José!«, sagte sie noch einmal, verzweifelter.

Da hob er den Kopf und sah sie an.

»Sieh mal einer an«, wisperte er. »Du bist ja noch am Leben.«

In diesem Moment begann es zu regnen.

Der Regen wusch ihnen das Salz von der Haut, wusch ihnen die Hitze aus dem Kopf und die Erschöpfung aus dem Herzen. Sie lagen nebeneinander im Sand, hielten ihre Gesichter den Tropfen entgegen und spürten, wie das Leben in sie zurückkehrte.

Schließlich fielen die letzten Tropfen in den Sand. Auf den regennassen Klippen sah Marit wieder rote Strandkrabben umherlaufen, übermütig wie Kinder, die in Pfützen springen. Kurt watschelte mitten zwischen sie, balancierte seinen wuchtigen weißen Körper über die Felsen und begann die feuerroten Meeresgeschöpfe zu fangen. Er fraß sie nicht, sondern legte sie neben José und Marit in den Sand, mehr und mehr, gepackt von plötzlicher Sammelleidenschaft.

»Ein Feuer«, sagte Marit. »Wir brauchen ein Feuer, José. Wir können sie braten.«

»Damit der Rauch uns verrät?«, fragte José. »An die, die vielleicht hier auf der Insel sind?«

»Nicht, damit der Rauch uns verrät«, erwiderte Marit. »Damit wir nicht verhungern.«

Sie sah zu, wie José die Krabben mit einem Stein tötete, sie zuckte bei jedem Schlag zusammen.

»Ich töte sie nicht, um ihnen wehzutun«, sagte José ernst, »sondern damit wir nicht verhungern.«

Marit sammelte Holz hinter dem Strand, und nach einer Menge Versuchen und Flüchen gelang es José, aus zwei kleinen Steinen einen Funken zu schlagen. Während die Flammen in den Himmel loderten und sie mit den Schalen der Krabben kämpften, war es dunkel geworden. Ihre Kleider waren an ihnen getrocknet und hoch über ihnen blinkten die Sterne.

»Hier sitzen wir also auf der Isla Maldita«, sagte José bitter. »Wir haben es geschafft. Wir sind da. Aber wir besitzen nichts mehr. Nichts außer der Karte. Kein Schiff, kein Gewehr, nicht einmal ein Messer.«

Marit griff in ihre Hosentasche und zog ein zerknülltes Stück Stoff hervor. »Ich habe die alte Mütze meines Vaters«, sagte sie. »Und ich habe eine Reisratte in meinem Ärmel.«

Aber natürlich hatte José recht. Sie hatten nichts mehr. Sie waren der Isla Maldita ausgeliefert. Ihr und ihrem Geheimnis.

José griff ebenfalls in seine Tasche. Er holte eine mehrfach gefaltete Plastikhülle hervor, zog ein Stück Papier heraus und glättete es.

»Die Karte«, wisperte Marit. Jetzt sah sie sie zum ersten Mal. Casafloras Hülle hatte an einigen Stellen das Wasser durchgelassen und dort waren die Linien auf der Karte verschmiert und unkenntlich. Abgesehen davon bestand sie aus dem Umriss der Insel und einer Menge konzentrischer Kreise. Oder eher Ovalen, ineinandergeschachtelten Ovalen. In der Mitte dieser Ovale gab es je einen Stern.

»Höhenlinien«, sagte Marit. »Das sind Höhenlinien, José. Die kleinen Zahlen sind die eingezeichneten Höhenmeter. Geschätzten Höhenmeter, würde ich sagen. Der höchste Punkt ist der Stern.«

»Natürlich«, sagte José, aber sie hörte, dass er nicht daran gedacht hatte. »Allerdings ist der Stern nicht der höchste Punkt. Er ist der tiefste. Der Krater des ehemaligen Vulkans. Alle Inseln haben Vulkane. Alle Inseln sind Vulkane. Aber darum geht es nicht. Siehst du das Kreuz dort?«

Marit nickte. Es war winzig und schwarz, auf eine gewisse Weise schwärzer als der Rest der Zeichnung.

»Es führt ein Weg hin«, sagte José. »Hier, die gestrichelte Linie.«

Die Linie begann am Strand neben etwas, das aussah wie ein Felsen im Wasser: eine Spitze, die aus einer Wellenlinie hervorbrach.

»Vielleicht sind das die Klippen, genau hier, am Rand der Bucht«, sagte Marit.

José schüttelte den Kopf. »Die Klippen sind unter Wasser. Zum größten Teil. Es muss noch etwas am Strand geben, etwas Großes, das aus dem Wasser ragt. Und das müssen wir finden. Von dort aus folgen wir dem gestrichelten Weg. Morgen.«

»Falls es den Weg noch gibt«, sagte Marit. »Die echte Karte, die dein Vater als Kind abgezeichnet hat, wie alt war die? Hundert Jahre? Ich fürchte, das Reisebüro dieser unbewohnten Insel hat nicht daran gedacht, den alten Piratenweg jedes Jahr freizuschneiden.«

José knurrte. »Wer weiß«, sagte er, »ob sie so unbewohnt ist, wie sie scheint.«

Und dann begann die erste Nacht auf der Isla Maldita, und sie gehörte zu den langen Nächten, die niemals zu enden scheinen. Wie viele solche Nächte hatte es gegeben, seit sie unterwegs waren! Nächte im Sturm, Nächte voller Misstrauen, Nächte, in denen sie eingesperrt gewesen waren … Nächte, in denen José nicht gewusst hatte, wer wer war und wem er trauen konnte.

Diese Nacht war voll von den wispernden Geistern aus den Geschichten der Abuelita.

José lauschte den Stimmen im Busch und sagte sich, dass es nur die Stimmen von Tieren waren. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Dies ist die Isla Maldita, flüsterte die Abuelita. Wer weiß, ob der, der dort einschläft, je wieder erwacht! Hast du nicht gesehen, dass der Wald hier tiefer und dunkler ist als auf den anderen Inseln? Sie lauern darin, sie schleichen sich näher, gerade in dieser Minute schleichen sie sich an …

»Wer denn?«, murmelte José schlaftrunken.

»Ich weiß nicht«, flüsterte Marit. »Aber sie kommen näher!«

Er fuhr hoch. Marit hatte seinen Arm umklammert und starrte in die Dunkelheit. Der Mond war abhandengekommen, die schmale Sichel des letzten Tages hatte sich nun ganz aufgelöst. Im fahlen Licht der Sterne sah José, was Marit meinte: Etwas kam aus dem Wald, etwas Geducktes. Menschen, die auf allen vieren näher krochen. Ein ganzes Dutzend. José schüttelte sich. Nein. Es waren keine Menschen. Maschinen, dachte José. Es war eine seltsam plumpe Sorte von Maschinen, die sich über den Strand bewegte, etwas, das die Deutschen erfunden hatten, aber wozu? War dies das Geheimnis der Isla Maldita? Er stand auf, näherte sich einer von ihnen, vorsichtig, Schritt für Schritt. Doch seine Schritte waren unstet und müde. Und so stolperte er im Dunkeln und schlug der Länge nach hin. Er wollte nicht schreien, es war dumm zu schreien, aber er schrie. Er war zu erschöpft und die Nacht war zu dunkel, und er hatte zu viele Geschichten über die Isla Maldita gehört und über die Deutschen und ihren Krieg.

Dann blickte er in ein uraltes Gesicht, das sich über ihn beugte. Ein Gesicht auf einem faltigen Hals, ein Gesicht mit seltsam menschlichen Augen. Josés Anspannung löste sich und er brach in ein hysterisches Lachen aus. »Es ist … Es sind … Schildkröten!«, sagte er.

Da lachte auch Marit. Die Schildkröte vor José zog den Kopf ein Stück ein. Vermutlich war sie noch nie Wesen begegnet, die so abnorme Geräusche von sich gaben.

»Ich hatte es vergessen«, sagte Marit. »Dass es sie gibt. Dass sie so unglaublich groß sind. In Mamas Buch stand, ein Mensch könne sich im hohlen Panzer einer toten Schildkröte verstecken. Und dass sie absolut friedlich sind.«

José knurrte. »Natürlich. Es gibt sie auch auf Isabela. Aber ich bin ihnen nie nachts begegnet. Warum schlafen sie nachts nicht? Schildkröten haben nachts zu schlafen.«

»Vielleicht schlafwandeln sie«, meinte Marit. »So wie ich manchmal.«

»Nein«, sagte José ärgerlich. »Das Biest, vor dem ich im Sand gelandet bin, war wach. Es hat mich angesehen. Und ich glaube, es hat gegrinst.«

Er legte sich wieder in den Sand, schloss die Augen und schlief endlich fest ein.

Als er das nächste Mal erwachte, geschah es, weil Uwe an seinem bloßen Unterarm kratzte.

»Marit«, murmelte er. »Ich glaube, dein Leguan kann nicht schlafen. Marit?«

Aber der Platz neben ihm war leer. José setzte sich auf und versuchte ganz wach zu werden. Er starrte den Abdruck im Sand an und hatte das seltsame Gefühl, wieder auf Santiago zu sein. Dort hatte er einen ähnlichen Abdruck angestarrt – in jener Nacht, in der er herausgefunden hatte, dass Casaflora für die Deutschen arbeitete.

Vielleicht schlafwandeln sie, hörte er Marit wieder sagen. So wie ich manchmal … Er sah sich um. Hielt einer von Marits Träumen sie gefangen? Er musste sie finden. Sie war dazu imstande, direkt in das schwarze Wasser zurückzulaufen. Wie seltsam, dachte er. Mal war sie eine jüngere Schwester, um die man sich kümmern musste, und mal eine ältere, die sich um ihn kümmerte. Aber die Träume, die sie träumte, waren stets die gleichen.

»Ich wünschte«, wisperte er Uwe zu, »ich könnte sie an ihrer Stelle träumen. Vielleicht wäre ich dann wirklich ein Held.«

In dem Moment, als er das sagte, sah er sie. Sie war zwischen den niedrigen Büschen unterwegs ins Innere der Insel.

Er sprang auf und lief über den Strand, vorbei an zwei Riesenschildkröten, die jetzt in ihren Panzern zu schlafen schienen.

»Marit!«, rief José leise, doch sie drehte sich nicht um. »Marit, bleib stehen!«

Er arbeitete sich durch Dornen und Äste voran, aber es war seltsam: Er kam ihr nicht näher. Der Abstand zwischen ihnen schien immer gleich zu bleiben. Oder bildete er sich das ein? Marits Schatten vor ihm bewegte sich durch höheres und höheres Gestrüpp, schließlich sah er den Schatten nur noch von Zeit zu Zeit auftauchen. Wie lange folgte er ihr schon über die Insel? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er wusste nur, dass er Marit nicht aus den Augen verlieren durfte. Und plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke: Was, wenn sie es gar nicht war?

Wenn er jemand anders folgte? Jemandem, der gekommen war, damit er ihm folgte?

José blieb stehen. Der Wald war dicht und undurchdringlich hier. Würde er zurückfinden, wenn er es versuchte? Wie dunkel es war! Er hielt den Atem an und lauschte. Etwas raschelte zu seiner Rechten. Etwas Großes. Es ist nur ein wilder Bulle, dachte José, ein Bulle wie auf Santiago … Er hörte jetzt deutlich Schritte. Menschliche Schritte. Als José weiterging, schienen sich die Schritte parallel zu ihm zu bewegen. Wer immer dort war, wusste er, dass José hier war? José blieb wieder stehen. Und da sah er den Feuerschein. Er tanzte durch die Stämme der Bäume zu seiner Rechten, tanzte jetzt auf ihn zu und verwandelte den Wald in ein bewegliches Schattengebilde. José erkannte nicht, wer das Feuer trug, aber eines war sicher: Es war kein Tier.

Und diesmal auch keine Schildkröte. Es war ein Mensch. José besaß nichts, um sich zu verteidigen.

Er drehte sich um, um zu fliehen, da kam ihm aus der anderen Richtung ein ähnlich unstetes Flackern entgegen. Fackeln, dachte er. Sie tragen Fackeln. Aber wer waren sie?

Und wo war Marit?

Hab ich es dir doch gesagt, flüsterte die Abuelita, es ist keine gute Idee, die verfluchte Insel zu betreten. Über die Schildkröten hast du gelacht, ja, aber nun hast du nichts mehr zu lachen, nun ist es aus mit dir …

Der Feuerschein zur Rechten bewegte sich an José vorbei, und dann rief jemand: »Señor? Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!« Es war die Stimme eines Mannes. José hatte sie noch nie gehört. Kurz darauf trafen sich die beiden Fackelträger irgendwo vor ihm im Busch. Er atmete auf. Sie waren an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken. Jetzt flüsterten sie wieder. Er verstand nur Wortfetzen:

»… arme Kleine, allein hier zwischen …«

»… sie nicht gefunden … der Wald ist voller …«

»… schon früher … auf dem Schiff und …«

Marit, dachte José. Sie sprechen über Marit.

»… die Erinnerung«, sagte jetzt eine der beiden Stimmen. »… die Träume … stets die gleiche Nacht … sie sieht die Stadt brennen … dass ihre Schwester tot …« Und dann, zuletzt: »… muss ein Ende haben.«

Danach entfernten sich die Schritte, begleitet vom Fackelschein. José stand einen Moment wie gelähmt. Woher wussten die dort in der Dunkelheit, wovon Marit träumte? Wer waren sie? Er folgte ihnen zögernd, schlich dem Schattentanz der Äste nach, holte ein Stück auf … und endlich erkannte er wenigstens so etwas wie zwei Schemen: einen kleinen, schmächtigen und einen großen, breitschultrigen. Der große trug eine leblose Gestalt über der Schulter. Verglichen mit seinem hünenhaften Körper wirkte sie winzig und zerbrechlich, als hätte die Nacht sie schrumpfen lassen: Marit. Wie merkwürdig, dachte José. Er hatte die gleiche Situation schon einmal erlebt, nur umgekehrt: im Busch auf Santiago. Damals war er es gewesen, der über der Schulter eines Fremden weggetragen wurde. Und Marit war ihnen gefolgt. Marit hatte Steine geworfen, sie abgelenkt, ihn befreit. Hier gab es keine praktischen Felsen in der Nähe, von denen aus er etwas werfen könnte.

Wenn er nur gewusst hätte, was mit Marit geschehen war! War sie verletzt?

Die Männer traten aus dem Wald auf eine freie Fläche hinaus und wateten nun durch hüfthohes Gras wie durch Wasser. José blieb einen Moment zwischen den Bäumen stehen. Schließlich holte er tief Luft und sprintete los. Er würde mit seinen bloßen Händen kämpfen. Er musste es versuchen.

Er kam nicht weit.

Nach ein paar Metern stolperte er über etwas, das im hohen Gras lag, und fiel der Länge nach hin, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Als er diesmal aufsah, war es keine Riesenschildkröte, die sich über ihn beugte. Es war Marit.

»José?«, flüsterte sie und blinzelte, eben erst erwacht. »Was … was ist passiert? Wo sind wir?«

Er öffnete den Mund, doch er war unfähig zu antworten. Er verstand nichts.

»Bin ich wieder im Schlaf gewandert?«, wisperte Marit. Dann nickte sie und antwortete sich selbst. »Ja, das bin ich wohl. Und du bist mir gefolgt, damit ich nicht in irgendeinen Vulkankrater falle.«

Da fand José endlich Worte, doch sie ergaben wenig Sinn. »Wie … wie kannst du hier sein?«, flüsterte er. »Du hingst eben noch über der Schulter dieses Mannes.« …

Er stand auf und half Marit auf die Beine. Die weite, hügelige Pampa war leer. Da war nur hohes Gras. Keine Gestalten, die jemanden wegtrugen. Marit legte eine Hand auf seinen Arm, eine warme Hand in der kalten Nacht. »Kann es sein«, fragte sie leise, »dass auch du bisweilen dumme Träume träumst?«

Den Rest der Nacht verbrachten sie am Strand, dicht nebeneinander, als müssten sie sich gegenseitig wärmen. Doch die Kälte, die José spürte, kam von innen. Er hatte ein Stück seines Hemds abgerissen und Marits rechtes Handgelenk an sein linkes gebunden. Er hatte keine Lust, noch einmal aufzuwachen und den Platz neben sich leer vorzufinden. Er wusste nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit war. Die Isla Maldita ließ die Grenzen verschwimmen.

Vielleicht, dachte er, ehe er einschlief, war es das: Vielleicht war sein Urgroßvater einfach verrückt geworden. Vielleicht gab es gar nichts Besonderes auf dieser Insel – keine herumgeisternden Piraten, keine deutschen Spione. Vielleicht wurde einfach nur jeder hier verrückt. Aber was lag dann an der Stelle verborgen, an der in der Karte das schwarze Kreuz eingezeichnet war?

Als sie wieder neben José im Sand lag, fragte sich Marit, was sie geträumt hatte. Ihr Traum war unterbrochen worden, und sie wusste, dass sie ihn zu Ende träumen musste. Sie fühlte den Stoffstreifen um ihr Handgelenk und lächelte in der Nacht.

»Mein dummer Bruder«, flüsterte sie, weil sie wusste, dass er schlief und sie nicht hörte. »Glaubst du, ein Streifen Stoff könnte die Dinge ändern? Die Geschichte wird so enden, wie sie enden soll, und wenn das bedeutet, dass ich in den Busch gehe und dort jemanden treffe, dann werde ich in den Busch gehen und jemanden treffen.«

Plötzlich wusste sie wieder, was sie geträumt hatte, als José über sie gestolpert war.

Sie hatte im Hof gestanden, zu Hause … und sie schloss die Augen und stand abermals dort. Sie trug den Küchenabfalleimer, aus dem es nach fauligem Gemüse roch. Es war Abend, ein Abend, nicht lange nach der Sache mit dem Nachtfalter. Im Hof hopste Julia auf und ab und schwang ein Springseil. Sie redete mit jemandem, während sie hopste.

»Und dann habe ich …« – ein Hopser – »sie wieder gehört, die …« – ein Hopser – »Schritte. So schlurfend …« – ein letzter Hopser – »wie von einem mit einer Eisenkette am Bein.«

Sie war stehen geblieben und sah zu den Mülltonnen, und da entdeckte Marit die Gestalt, die zwischen den Tonnen an der Mauer lehnte. Richard.

»So, so«, sagte Richard langsam. »Soo, soo.«

»Was machst du hier?«, fragte Marit.

»Ich rede mit deiner kleinen Schwester«, sagte Richard und löste seine lange Gestalt aus dem Schatten. »Was dagegen?«

»Julia, geh rein und wasch dir die Hände«, sagte Marit. »Wir essen gleich.«

Julia zog eine Schnute, hopste aber gehorsam ins Haus, und gleich darauf hörte Marit, wie sie die Treppe hinaufrannte.

»Weißt du, was sie mir erzählt hat?«, fragte Richard und trat noch einen Schritt näher. Nur der stinkende Mülleimer in Marits Armen befand sich noch zwischen ihr und Richard. Sie hielt ihn fest wie einen Schild.

»In eurem Holzschuppen spukt es.« Richard bemühte sich um ein theatralisches Flüstern.

»Wenn du Julia fragst, spukt es überall«, antwortete Marit. »Unter ihrem Bett, im Kleiderschrank …«

»Wollen wir mal nachsehen, ob es im Schuppen wirklich spukt?«, fragte Richard und hielt etwas hoch, über den Mülleimerschild. Einen Schlüssel. Marit erkannte ihn. Es war der Schuppenschlüssel. Mamas Schuppenschlüssel mit dem roten Anhänger.

»Woher hast du den?«, fragte sie. »Wir suchen ihn seit Tagen.«

»Gefunden«, antwortete Richard. »Unter der Mülltonne, ganz hinten. Ihr solltet besser darauf aufpassen.« Er ging vorwärts und zwang Marit rückwärtszugehen, auf die Tür des Holzschuppens zu.

»Kommst du mit?«, flüsterte er. »Ist sicher dunkel dort. Wahrscheinlich hast du zu viel Angst, oder? Dass es wirklich spuken könnte.«

»Unsinn«, sagte Marit und stellte den Mülleimer ab. »Gib den Schlüssel her.«

Richard schob sie beiseite, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Schuppentür öffnete sich mit einem rostigen Quietschen nach innen.

»Na?«, fragte Richard. »Trauste dich da rein?«

Marit sah seinen abschätzigen Blick, er musterte sie von oben herab, grinsend. Sie wusste, dass sie den Schlüssel aus der Tür ziehen, den Müll in die große Tonne kippen und einfach verschwinden sollte. Aber sein Blick ärgerte sie.

Sie machte einen Schritt in den dunklen Holzschuppen. Es roch nach Holz und nach Ratten. Direkt hinter der Tür stand ein hohes Regal voll staubiger Einmachgläser. Das Regal verbarg den Blick auf den Rest des Schuppens. Sie lauschte einen Moment und wurde sich bewusst, wie unsinnig das war. Natürlich gab es im Holzschuppen keine schlurfenden Schritte von Geistern mit Eisenketten an den Füßen.

»Hier ist niemand.«

Als sie sich zu Richard umdrehte, war er noch näher als zuvor. Ihre Nase berührte beinahe seinen Hals. Er schob die Schuppentür mit dem Fuß zu, sodass nur noch etwas Dämmerlicht durch die Ritze drang, und stützte seine Hände links und rechts von Marit auf die Regalbretter.

»Hier ist niemand?«, wisperte er. »Doch. Hier sind wir. Das reicht.«

Dann beugte er seinen Kopf und versuchte seine Lippen auf ihren zu platzieren, aber Marit drehte sich zur Seite, und der missglückte Kuss landete auf ihrer Wange: warm und feucht und ungeschickt.

»Was soll das?«, zischte sie. »Hör auf damit!«

Richards Hand packte ihr Kinn und drehte es zu sich. »Ich weiß nicht, was du hast«, wisperte er. »Sieht uns doch keiner!«

Sein Gesicht kam wieder näher, und sie ballte die Fäuste, um zuzuschlagen, aber in diesem Moment machte Richard wohl eine unkluge Bewegung, denn eine Kaskade von leeren Einmachgläsern fiel mit einem lauten Krachen vom Regal.

»Was ist denn da los?«, rief jemand. Frau Adam. Richard ließ Marit los. Über den Hof näherten sich Schritte und Frau Adam riss die Schuppentür auf. »Was macht ihr hier?«

»Wir … wollten etwas nachsehen«, murmelte Richard, während er die Gläser zurückstellte. Sie waren nicht kaputtgegangen. »Julia hat gesagt, es spukt hier, und …«

»So, so. Spukt«, sagte Frau Adam und zog Richard am Kragen aus dem Schuppen, obwohl er zwei Köpfe größer war als sie. »Und das glaubst du?«

»Nein«, sagte Richard und wand sich. »Ich …«

Marit schloss die Schuppentür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. »Und du?« Frau Adams Zeigefinger pikte sie in die Brust. »Wolltest du auch nachsehen, ob es spukt, junge Dame?« Sie schüttelte den Kopf. »Übrigens wohnst du ein Haus weiter, Richard. Da habt ihr einen eigenen Schuppen. Geh und guck dort nach, ob du einen Geist findest.«

Marit sah ihr nach, wie sie über den Hof davonschlurfte. Vielleicht, dachte sie, war es nur Frau Adam gewesen, die Julia im Schuppen hatte herumschlurfen hören. Als Richard gegangen war, hob sie den Abfalleimer auf und kippte seinen Inhalt in das gierige Maul der großen Metalltonne: Zwiebelschalen, verfaultes Gemüse, ein paar zerrissene Putzlumpen, starr vor Dreck. An einem der Putzlumpen war ein Knopf. Ein Hemdknopf. Sie sah genauer hin und entdeckte noch einen Knopf. Vielleicht waren es keine Putzlumpen. Marit überwand ihren Ekel, griff in die Mülltonne und zog ein Stück Stoff aus dem Durcheinander. Es sah aus, als wäre es einmal eine Hemdtasche gewesen. Auf dem Stoff prangte ein großer dunkler Fleck. Bräunlich rot. Blut.

Sie ließ den Fetzen fallen. Jemand hatte all diese Kleider sehr sorgfältig in Stücke gerissen, damit niemand sie als Kleider erkannte. Nicht sorgfältig genug. Sie hielt sich mit einer Hand die Nase zu, griff mit der anderen noch einmal in den Müll, tiefer jetzt, und stopfte die Kleiderfetzen tief zwischen die anderen Abfälle hinein, ehe sie den Deckel der Mülltonne schloss.

Als sie die Treppe hinaufging, zitterten ihre Knie. Hatte jemand vom Fenster aus gesehen, wie sie in der Tonne gewühlt hatte? Sie könnte sagen, sie hätte etwas gesucht, etwas versehentlich Weggeworfenes … In Marits Kopf hämmerte ein Wort: Nachtfalter, Nachtfalter … Mission Nachtfalter … Wo war Mama neulich Nacht gewesen? Brachte sie in der Dunkelheit Leute um? Würde sie Marit antworten, wenn sie sie fragte? Nein, dachte sie dann. Sie würde nicht fragen. Es war besser, die Antwort nicht zu wissen.

Sie spürte Richards Lippen noch auf ihrer Wange, als sie aufwachte. Nein. Es war etwas anderes. Etwas Feuchtes, Merkwürdiges, das nicht aus ihrem Traum stammte. Sie setzte sich auf, griff danach und schrie auf. Etwas Kleines, Glibberiges lag in ihrer Hand. Jemand lachte.

»Ein Tintenfisch«, sagte José hinter ihr. »Es ist ein Tintenfisch.«

»Oh«, sagte Marit. Jetzt sah sie, dass eine ganze Reihe von kleinen braunen Tintenfischen neben ihr im Sand lag. Daneben saß Kurt der Albatros und sah sehr stolz aus. Die Tintenfische hingegen sahen sehr tot aus.

»Er hat sie gefischt«, erklärte José. »Heute Nacht.«

Marit drehte sich um. Offenbar war José schon eine Weile wach. Er hatte sein Hemd ausgezogen und trug es in der Hand, und etwas befand sich darin; etwas Schweres.

Und als er die Zipfel des Hemds öffnete, ergoss sich ein Wasserfall an Orangen in den Sand. »Ich habe einen ganzen Baum voll gefunden«, sagte er.

Marit nahm eine Orange in die Hand. »Das«, sagte sie, »sind die schönsten Orangen, die ich jemals gesehen habe. Vielleicht liegt es daran, dass sie uns das Leben retten. Solange wir Orangen haben, werden wir nicht verdursten.«

»Fragt sich, wie lange sie ausreichen«, sagte José. »Na, verhungern werden wir auch nicht.« Er fuhr Kurt über den großen weißen Federkopf. »Solange jemand Tintenfische für uns fängt. Wir können sie grillen. Aber zuerst werde ich versuchen, diese Spitze zu suchen, die vor der Insel aus dem Wasser ragt. Die, die auf der Karte eingezeichnet ist. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich auch den Weg auf der Karte finden. Am Ende dieses Wegs ist das schwarze Kreuz. Vielleicht waren die Männer gestern Nacht nur Einbildung. Aber vielleicht waren sie es nicht. Vielleicht begreife ich, wer sie waren, wenn ich die Stelle mit dem Kreuz finde.«

»Warum sagst du ›ich‹?«, fragte Marit. »Du sagst die ganze Zeit ›ich‹! Willst du denn ganz allein suchen?«

»Ich dachte, du findest es vielleicht lächerlich und dumm, wenn ich suche.«

»Natürlich.« Marit setzte die zerknitterte karierte Mütze ihres Vaters auf. »Es ist lächerlich und dumm. Du wirst keinen Piratenschatz finden und auch keine deutsche Funkstation. Du wirst gar nichts finden. Aber wenn es das ist, was dir wichtig ist – dann helfe ich dir, es zu suchen.«

José ging am Wasser entlang in die eine Richtung und Marit in die andere. Sie hatten beschlossen, sich bei ihrem Lagerplatz wiederzutreffen, wenn die Sonne am höchsten Punkt stand. Die Mitglieder ihres kleinen Zoos schienen ebenfalls die Insel zu erkunden. Chispa war mit den anderen Seelöwen davongeschwommen.

Marit wanderte eine ganze Weile durch die Hitze und ihr Mund klebte vom Saft der Orangen. Der Durst kam schneller wieder, als sie gedacht hatte. Bald, dachte Marit, bald ist die Regenzeit endgültig zu Ende und irgendwann wird es keine Orangen mehr geben.

»Dir reicht der Tau auf den Blättern«, sagte sie zu Carmen, die als Einzige bei ihr geblieben war und in ihrem Ärmel saß. »Aber wir werden jämmerlich vor die Hunde gehen. Und es gibt noch nicht mal Hunde hier.« Sie ließ sich resigniert in den Sand fallen. »Es gibt auch keine Spitze von irgendetwas, die aus dem Meer ragt.« In diesem Moment kam etwas aus dem Wasser und robbte auf sie zu.

»Chispa?«, fragte Marit.

Anstelle einer Antwort schnappte die Seelöwin Marit die Mütze vom Kopf und robbte damit wieder zum Wasser zurück.

»He!«, rief Marit und sprang auf. »Warte! Gib die Mütze her!«

Chispa drehte sich um. »Hol sie doch!«, schien sie zu sagen. »Na los! Du dachtest, ich hätte euch verlassen, aber ich bin zurückgekommen, um mit dir zu spielen.«

Jetzt entdeckte Marit die anderen Seelöwen im Wasser, und sie sah hilflos zu, wie sie begannen, ihre Mütze hin und her zu werfen. Schließlich schwammen sie mit der Mütze zwischen den Zähnen vom Strand weg, albern wie kleine Kinder.

»Nein!«, rief Marit. »Jetzt ist das Spiel zu Ende! Kommt zurück!«

Sie streifte ihre Sachen ab, hörte Carmen im Hemdsärmel empört quieken und rannte den Seelöwen nach, ins Wasser hinein. Es war wunderbar kühl nach der brennenden Sonne. Doch Marit dachte nicht an die Kühle. Sie musste die Seelöwen einholen. Sie hatten den einzigen Gegenstand, der sie mit der Vergangenheit verband. Plötzlich erschien es ihr, als wäre diese alte Schiebermütze das Wichtigste im Leben. Als könnte sie ohne die Mütze niemals herausfinden, wie die seltsamen Stücke ihrer Erinnerung zusammenhingen und welches Geheimnis sie verbargen. Denn etwas verbargen sie, da war Marit sich inzwischen sicher.

Sie sah die Seelöwen untertauchen – und da tauchte auch sie. Unter ihr lag ein Labyrinth aus zerklüfteten Felsen, bewachsen mit Korallen und mit Algenwäldern, die in den Wellen hin und her schaukelten. Bunte Fische schossen dazwischen umher, schwebten reglos im Wasser, schlängelten sich als glänzende Streifen durch das Algengrün … und dann sah sie das Schiff zwischen den Klippen. Es war nur noch die Erinnerung an ein Schiff: ein Grab aus Balken, Tauen und Brettern. Es war um ein Vielfaches größer als die Mariposa, doch es teilte ihr Schicksal. Marit tauchte auf, um Luft zu holen. Josés Urgroßvater fiel ihr ein, der Abuelito, der zur Isla Maldita gefahren und nie zurückgekehrt war. War dies sein Schiff gewesen? Oder das Schiff eines anderen Seefahrers, das auf die Klippen aufgelaufen und gesunken war, in lächerlich geringer Entfernung zum Land?

Es war schwer zu glauben, aber Marit wusste, dass eine Menge der Seeleute damals nicht hatten schwimmen können. Irgendwo hier hatte jemand um sein Leben gekämpft und vielleicht verloren. Und sie machte sich Sorgen um eine dumme Mütze.

Sie sah sich nach den Seelöwen um, und da waren sie, verspielt wie zuvor. Marit folgte ihnen in einem weiten Bogen zurück an Land. Dort ließ einer von ihnen Marits Mütze in den Sand fallen. Sie hätte sich die ganze Mühe sparen können.

Aber als sie die Mütze auswrang, wusste sie es plötzlich. Sie wusste, was die Spitze bedeutete, die auf Josés Karte aus dem Wasser ragte. Das gesunkene Schiff war lange gesunken, ehe Josés Großvater die Isla Maldita erreicht hatte. Es war schon gesunken, ehe die Karte gezeichnet worden war. Damals hatte das Wrack noch aus den Wellen geragt.

Hier, genau hier begann der Weg zum schwarzen Kreuz auf Josés Karte.

»Bist du sicher, dass es hier war?«, fragte José zwei Stunden später.

Marit nickte. »Aber schwimm ruhig raus und sieh dir die Reste des Wracks selbst an.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass uns lieber die Reste des Weges finden.«

Sie gingen von der Stelle aus, an der Marit das gesunkene Schiff entdeckt hatte, auf einer möglichst geraden Linie landeinwärts. Dort, wo die niedrigen Büsche begannen, saß eine stumme Riesenschildkröte. Sie hatte Kopf und Beine eingezogen und schien zu schlafen.

»Vielleicht ist das ein Zeichen«, meinte José mit einem nervösen Lachen. »Sie bewacht den Anfang des Weges.«

Marit kniete sich hin und sah sich die Schildkröte genauer an. »Der Panzer ist leer«, sagte sie. »Diese Schildkröte ist seit Jahren tot. Oder seit Jahrzehnten. Vielleicht ist es tatsächlich ein Zeichen.«

José hielt sich die Karte dicht vor die Augen. »Hier steht eine Zahl. Zweihundert. Nach der Zahl biegt der Weg links ab. Zweihundert Meter?«

»Wer auch immer die Karte gemalt hat«, sagte Marit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit einem Maßband unterwegs war. Versuchen wir es mit zweihundert Schritten.«

Sie kam sich lächerlich vor, während sie sich laut zählend mit José durchs Gebüsch kämpfte. Bunte Vögel flogen kreischend auf, gelbe Landleguane verschwanden raschelnd im Unterholz.

»Sie müssen uns für völlig verrückt halten«, murmelte Marit. »Hundertneunundneunzig … zweihundert. Hier müssen wir abbiegen. Ist hier irgendetwas? Etwas, das die Abbiegung kennzeichnet?

Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Zweihundert Schritte waren nicht das Gleiche wie zweihundert Schritte. Sie konnten sich in der Schrittlänge geirrt haben. Oder ein wenig von der Richtung abgewichen sein …

»Da!«, sagte José. Marit folgte seinem Blick.

Ein Stück entfernt lag ein weiterer Schildkrötenpanzer. Und sie brauchte sich nicht davorzuknien, um zu wissen, dass er leer war. Sie bogen bei dem Panzer nach links ab, der Boden stieg jetzt an und eine weitere winzig hingekritzelte Zahl schickte sie mehrere Hundert Schritte aufwärts. Dort gab es noch einen Panzer, noch eine Zahl … und endlich führte die Karte sie zwischen glatten, abschüssigen Felsen hinauf. Der Weg mit seinen Biegungen ergab einen Sinn, zur Rechten und zur Linken hätte es keine Möglichkeit gegeben weiterzukommen.

»Jemand hat sich eine Menge Mühe gemacht, diesen Weg zu kennzeichnen«, flüsterte José. »Aber es ist keine besonders unauffällige Kennzeichnung.«

»Nein«, sagte Marit nachdenklich. »Und keine besonders nette. Er hat eine Menge Schildkröten getötet.«

Sie wanderten schweigend von Panzer zu Panzer, es war, als besuchte man einen Schildkrötenfriedhof, weit verteilt über die Insel. Sie wanderten lange, lange. Der Wald umschloss sie jetzt von allen Seiten mit seinen dichten grünen Mauern, Lianen woben sich ins Unterholz und große weiße und violette Blüten verströmten ihren Duft in schwindelnder Höhe. Die Sonne brannte nicht mehr auf sie herab, doch die Luft stand still und feuchtwarm zwischen den Stämmen. Marit sah auf ihre nackten Füße, die Josés Füßen durchs Unterholz folgten, weiter und weiter … und schließlich, nach einer Ewigkeit, blieben diese Füße stehen.

»Sieh nur!«, sagte José. »Hier sind auf der Karte zwei Kringel. Ich dachte, es wären die Nullen einer Zahl. Aber es sind keine Nullen.«

Marit hob den Kopf: Zur Linken des Weges klafften zwei annähernd runde schwarze Löcher im Fels.

»Höhlen«, sagte José. »Piratenhöhlen.«

Sie nickte. Ihre Augen vermochten das schwarze Dunkel in den Höhlen nicht zu durchdringen. Ein muffiger, dumpfer Geruch strömte ihnen von dort entgegen, der Geruch von Erde und Kälte und Vergangenem.

»Ein guter Unterschlupf«, sagte José. »Man hätte ein Dach über dem Kopf. Und schau, da steht ein Guavenbaum.«

Marit nahm die runde grüne Frucht, die er ihr reichte: eine Guave. Sie hatte noch nie eine Guave gegessen. Die dunkelgrüne Kugel verströmte einen seltsam heimeligen Geruch nach Gallseife und Kiefernwald. Marit biss hinein. Sie schmeckte auch nach Gallseife und Kiefernwald. Sie aß sie dennoch, dankbar für die wenige Flüssigkeit in ihrem festen grünen Fleisch. Und dann entdeckte sie eine Nische in der Wand der ersten Höhle, mit grobem Werkzeug vor langer, langer Zeit behauen: eine kühle steinerne Bank.

Am einen Ende der Bank war eine Vertiefung in den Stein geschlagen worden, etwas wie ein flaches Becken. Ein flaches Becken, das das Regenwasser fing. Marit war mit zwei Schritten bei dem Becken und streckte die Hand hinein – es war leer. Vielleicht war Wasser darin gewesen und die Hitze des Tages hatte es verdunsten lassen oder ein Tier hatte es getrunken. Sie ließ sich auf die Bank fallen. Es war, als hätten die Hoffnung auf Wasser und die Enttäuschung ihr die letzte Kraft genommen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, sie könnte nie, nie wieder von dieser Steinbank aufstehen.

José stand über die Karte gebeugt. »Wenn dies hier also keine Nullen sind«, sagte er zögernd, »dann … dann sind es noch hundert. Hundert Schritte geradeaus, danach rechts und noch einmal fünfzig Schritte. Dann sind wir dort, wo auf der Karte das schwarze Kreuz ist.« Er musterte Marit. »Soll ich allein gehen? Willst du hier warten?«

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, ich gehe mit. Ich habe die ganze verdammte Reise nur gemacht, um dir zu helfen, dieses Kreuz zu finden.«

José zog sie hoch. »Komm«, sagte er. Aber sie gingen jetzt langsam. Und es lag nicht nur an ihrer Erschöpfung.

Es war ein seltsames Gefühl, so nahe am Ziel zu sein. Da segelte man tage- und nächtelang über den Pazifik, floh vor dem Feuer, überlebte Stürme, ließ sich auf einem Floß ans Ufer treiben – und plötzlich sollte das Ende der Reise nur noch wenige Schritte entfernt sein.

Der letzte leere Schildkrötenpanzer besaß einen Sprung wie eine Schale, die jemand hatte fallen lassen. Als sie sich bei dem Panzer nach rechts wandten, standen sie noch immer in dichtem Wald. Aber dieses Stück Weg schien Marit breiter. Als würde es noch benutzt. Sie sah keine Spuren, die Erde war trocken und krümelig, und doch –

»José«, flüsterte sie. »Warte! Was … was glaubst du, was ist es? Das Ziel? Das schwarze Kreuz?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht ist es nur eine Stelle, an der man graben muss. Vielleicht ist es eine Erklärung dafür, weshalb man auf der Isla Maldita Stimmen hört und Fackeln sieht. Vielleicht treten dort irgendwelche Dämpfe aus der Erde. Oder vielleicht … vielleicht finden wir trotz allem einen Funkmast der Deutschen.«

»Den«, sagte Marit, »hätten wir inzwischen wohl über die Bäume gesehen.«

Die allerletzten Schritte machten sie so langsam, als trügen sie Schuhe mit Blei in den Sohlen.

Marit merkte erst, dass sie sich an den Händen gefasst hatten, als sie das Zittern in Josés Hand spürte. Und dann traten sie aus dem Wald auf eine winzige Lichtung, auf der spärliches Gras wuchs. Der Boden war ausgetreten von Hufen und Pfoten, Marit sah die Abdrücke hier deutlich. Aber es war nichts da. Ein paar Felsen hatten sich am anderen Ende der Lichtung versammelt wie versteinerte Riesenschildkröten. Sie gingen zu den Felsen hinüber. Die Felsen säumten etwas. Ein Versteck.

Erst als sie ganz nahe standen, sahen sie, was es war:

Zwischen den Steinen lag eine blanke, spiegelglatte, glänzende Fläche. Nur an einer Stelle störte eine Bewegung ihre Glätte. Dort rann etwas den Felsen hinab, rann aus einem Spalt weiter oben.

»Wasser«, sagte José verblüfft. »Es ist Wasser. Das schwarze Kreuz auf meiner Karte … ist eine Quelle.«