51952.fb2 Die geheime Reise der Mariposa - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 30

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Ayudame! Hilf mir!

Sie beugten sich über das kleine Becken, schöpften mit den Händen Wasser und tranken und tranken und tranken. Sie betranken sich an dem klaren Wasser, tauchten ihre Gesichter hinein, bespritzten einander damit und lachten wie kleine Kinder. Und so viel sie auch davon tranken, es floss ständig neues Wasser aus dem Felsspalt. Es war wie ein Wunder.

Irgendwo am Grund des natürlichen Steinbeckens versickerte das Wasser wohl in der Erde, und jetzt sah Marit auch, wie viel grüner es im Umkreis der Quelle war, wie viel übermütiger und höher die Pflanzen sprossen. Sie sah, woran es lag, dass sie hier plötzlich Spuren erkennen konnte: Die Erde war nicht länger trocken und krümelig. Sie war durchdrungen von Feuchtigkeit.

Schließlich ließen José und sie sich auf jenen feuchten Boden fallen und lagen einfach da und sahen in die Baumwipfel hinauf.

»Wir werden überleben«, sagte José. »Auch nach der Regenzeit. Die Quelle hat genug Wasser, sie versiegt nicht so schnell.«

»Ja«, sagte Marit. »Wir werden überleben.«

Sie setzte sich auf und malte Linien in die feuchte Erde. Ein Schiff.

»Nach der Regenzeit …«, murmelte sie. »Was glaubst du, wann kommt das nächste Schiff vorbei, das uns mitnehmen kann?«

»Irgendwann«, murmelte José. »Sie … kommen nicht so nahe an die Insel heran … Vielleicht …«

»Vielleicht kommt gar kein Schiff«, sagte Marit. »Nie. So ist es doch, nicht wahr?«

»Ach Unsinn«, knurrte José. Und dann hieb er mit der Faust in den Schlamm, dass es spritzte. »Ist das nicht irre?«, sagte er. »Da segle ich los, um einen Schatz zu finden oder ein Nest von Spionen. Ich segle von Baltra los, einer Insel, auf der es tonnenweise Wasser in Flaschen gibt, und wozu das alles? Um Wasser zu finden!«

»Hättest du lieber eine Kiste voll Gold und Edelsteinen gefunden?«, fragte Marit sanft. »Und wärst jämmerlich mit deiner Kiste im Arm verdurstet?«

José schnaubte und stand auf. »Wenn wir eine Weile hierbleiben«, sagte er, »sollten wir uns einen Unterschlupf suchen. Wir ziehen in die Höhlen. Fürs Erste, allerliebste Schwester«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, »muss das reichen.«

»Fürs Erste reicht es, allerliebster Bruder«, sagte Marit.

José wanderte allein zum Strand zurück, um Kurts Oktopusvorrat zu holen.

Marit brach ein paar Zweige ab, band sie mit einer Kletterpflanze zu einer Art Besen zusammen und begann die größere Höhle – die mit der Bank – auszufegen. Dabei fand sie in den dunklen Schatten ganz hinten etwas Wunderbares: einen Topf und ein paar Glasscherben. Die Scherben konnte man womöglich als Messer benutzen. Der Topf war schwarz und dreckig und uralt, aber dicht. Marit säuberte ihn und holte Wasser, um das Becken in der Bank aufzufüllen. Sie besorgte Feuerholz und errichtete ein Lager aus Ästen und Blättern, auf dem sie weicher schlafen würden als auf dem bloßen Steinboden. Sie pflückte noch mehr Guaven. Ihre Hände arbeiteten rasch und sie summte dabei. Es war wie ein Spiel, das sie früher im Hof gespielt hatten, vor unendlich langer Zeit: damals, als selbst Richard noch klein gewesen war. Der Schuppen war ihr Haus gewesen und sie hatten Tische aus Holzscheiten errichtet und Betten aus alten Küchentüchern. Sie hatten Löwenzahnsuppe gekocht und Pudding aus Erde …

Doch der Holzschuppen war zu Asche verbrannt, mit all seinen Spielen und den schlurfenden Geistern darin.

Dies hier war Ernst. Marit lief die ganze Umgebung ab und fand zwei weitere Orangenbäume. Als sie mit ihrer Ausbeute zurückkam, saß ein rot-schwarzer Leguan auf der Steinbank und trank Wasser aus der Vertiefung darin.

»Uwe?«, fragte Marit ungläubig.

Uwe sah auf und schien zu nicken. Er fand es offenbar sehr bequem, dass er einmal kein Salz aus dem Meerwasser zu filtern brauchte. Hinten in der Höhle, wo die Schatten am kühlsten waren, entdeckte Marit einen Pinguin, der damit beschäftigt war, mit seinem Schnabel eine Guave zu bearbeiten. »Ich glaube nicht, dass Pinguine Guaven essen«, sagte Marit.

»Dann müssen wir ihm wohl einen Oktopus abgeben«, sagte José hinter ihr. Sie fuhr herum. Neben José saß Kurt, erschöpft von dem langen Fußmarsch. »Er wollte unbedingt mitkommen«, sagte José und seufzte. »Dein ganzer kleiner Zoo hat sich wieder eingefunden, was? Alle außer Chispa und Eduardo. Aber … was ist das?«

Oskar kam aus den Schatten gewatschelt, und neben ihm watschelte noch jemand: ein Vogel mit sehr großen blauen Füßen. Er musterte Marit, musterte José und verschlang dann einen Tintenfisch.

»Ein Tölpel!«, sagte Marit und ging in die Knie. »Ein Blaufußtölpel! Das waren Julias Lieblingstiere aus dem Buch von Mamas Professor! Ich dachte nicht, dass ihre Füße so blau sind.«

Der Tölpel betrachtete seine Füße ebenfalls und schien zufrieden mit ihrer Bläue.

»Nenn ihn Loco«, sagte José. »Der Verrückte. Er muss verrückt sein, wenn er freiwillig bei so einem wahnsinnigen Zoo einzieht.«

Als die Dunkelheit kam, loderte das Feuer hell in der Mitte der Höhle und der Geruch von bratendem Tintenfisch füllte sie aus. Es roch ein wenig nach verbranntem Gummi, aber Marit schien es an diesem Abend der schönste Duft der Welt.

Sie kochten in dem Topf Tee aus Blättern, von denen José behauptete, sie seien höchstwahrscheinlich ungiftig, und saßen auf der Steinbank und fütterten Carmen mit Orangenstückchen. Der Blaufußtölpel saß so nah am Feuer, wie es irgend ging, und schien im Schein der Flammen seine eigenen Füße zu bewundern.

»Ist das nicht seltsam?«, sagte Marit, als sie später auf dem notdürftigen Lager aus Zweigen und Blättern lagen, den schlafenden Zoo um sich versammelt. »Es ist, als wären wir ein altes Ehepaar mit einer Menge merkwürdiger Kinder.«

Da setzte José sich auf.

»Nein!«, sagte er mit unerwarteter Heftigkeit.

»Nein?«

»Eins musst du wissen«, fuhr José fort, etwas weniger heftig. »Wir haben alles geteilt auf unserer Reise und wir werden alles teilen auf dieser Insel. Aber du wirst immer meine Schwester sein. Nichts anderes.«

»Natürlich«, antwortete Marit überrascht, und dann begriff sie und lachte. »Das alte Ehepaar war nur ein dummer Witz«, sagte sie. »Keine Sorge! Ich habe nicht vor, dir einen Heiratsantrag zu machen. Ich kann gar nichts anderes brauchen als einen Bruder. Aber den, den brauche ich sehr.«

Am nächsten Morgen saß ein großer gelber Hund im Höhleneingang.

»Marit«, sagte José leise. »Ist das wieder so ein Tier, das dir zuläuft?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte Marit. »Woher kommt ein Hund auf einer unbewohnten Insel?«

»Es ist ein wilder Hund«, sagte José. »Die Piraten haben seine Vorfahren hergebracht. Genau wie die Rinder und die Ziegen auf den Inseln, die Schweine und Katzen …«

Marit stand auf und ging auf den Hund zu. »Möchtest du gezähmt werden?«, fragte sie.

Der Hund fletschte die Zähne und ein tiefes, heiseres Knurren drang aus seiner Kehle. Marit wich zurück. Er folgte ihr in die Höhle, noch immer knurrend.

Da stand José auf, klatschte in die Hände und schrie: »Verschwinde, Mistköter!«

Das half. Der Hund machte kehrt und floh aus der Höhle und der Wald verschluckte ihn wie einen Albtraum.

José schüttelte den Kopf. »Die Abuelita würde sagen, das war kein gewöhnlicher Hund«, sagte er. »Sie würde sagen: Das war ein Zeichen. Etwas wird geschehen … Aber die Abuelita redet gewöhnlich Unsinn.

Er reichte Marit eine Frühstücksorange und eine Glasscherbe, um die Orange zu schälen, und eine Weile saßen sie schweigend in der Morgensonne, die durch das Blätterdach fiel und grüne Muster auf die Erde vor der Höhle malte. Marit lutschte an ihrer Orange und folgte den grünen Mustern mit den Augen. Und plötzlich entdeckte sie noch eine andere Sorte von Muster.

»José«, flüsterte sie. »Siehst du das? Hier auf dem Höhlenboden?«

José nickte, und sie sah, wie er blass wurde. Es waren Spuren. Nicht die Spuren eines Hundes. Die Spuren von Menschen, kaum sichtbar auf der festgetretenen Erde, aber eindeutig vorhanden.

»Jemand war hier, José«, flüsterte Marit. »Jemand mit Schuhen ohne Profil. Es kann nicht so lange her sein. Vielleicht ist heute Nacht jemand hier vorbeigegangen. Während wir schliefen. Der Topf und die Glasscherben, sie sind nicht so alt, wie wir dachten. Und der Hund, José … wenn es kein wilder Hund war? Wenn er jemandem gehört?«

José holte tief Luft. »Es wird Zeit«, sagte er mit grimmiger Entschlossenheit, »dass wir herausfinden, was hier los ist. Wir brauchen nur den Spuren zu folgen.«

Marit nickte, obgleich ihr nicht wohl dabei war. »Folgen wir den Spuren.«

Doch die Spuren der profillosen Schuhe wurden nach zwei Metern von einem Teppich aus Laub verschluckt. Kurt, Uwe, Oskar, Carmen und Loco saßen aufgereiht im Höhleneingang, als Marit vom Boden aufsah. Es war, als fragten sie: »Seid ihr fertig damit, auf dem Boden herumzuschnüffeln? Und was habt ihr als Nächstes für seltsame Dinge vor?«

»Wir könnten in die ungefähre Richtung gehen, aus der sie kommen«, meinte José.

»Nein, warte«, sagte Marit. »Die Quelle! Wenn jemand hier ist, muss er irgendwann zur Quelle kommen, um Wasser zu holen.«

»Gut«, sagte José entschlossen. »Wir trennen uns. Ich gehe in die Richtung, aus der die Spuren kommen, und du versteckst dich bei der Quelle.«

Marit steckte Carmen in die Tasche und hob Oskar hoch.

»Nimm ihn mit«, sagte sie. »Es ist nicht gut, allein durch den Wald der Isla Maldita zu gehen.«

José grinste. »Mit einem so wehrhaften Wachpinguin ist es natürlich vollkommen sicher«, sagte er. »Genauso sicher wie mit deiner Kampfratte.« Gerade da flog Loco auf und setzte sich auf Marits Schulter. »Und mit einem Jagdtölpel.«

Marit nickte. »José, ist es wirklich klug, dass wir uns trennen?«, fragte sie.

Er grinste sein breitestes Grinsen. »Wir trennen uns ja nicht für ewig«, sagte er und streckte die Hand aus, und einen Moment dachte sie, er wollte ihr durchs Haar streichen. Doch er streichelte den Blaufußtölpel auf ihrer Schulter.

»Nein«, sagte sie und schluckte. »Wir trennen uns nicht für ewig.«

Und sie bemühte sich, ebenfalls zu grinsen. Aber sie hatte ein schlechtes Gefühl. Als wäre ihr letzter Satz eine Lüge.

José ging lange Zeit in die Richtung, aus der die Spuren kamen, ohne etwas zu finden.

Oskar saß auf seinem Arm und betrachtete die Bäume und Schlingpflanzen ringsum voller Verwunderung. Schließlich merkte José, dass er abwärtsging, und kurz darauf war er wieder am Strand. An einem anderen Stück Strand. Doch dieses Stück Strand war so unbewohnt wie jenes, an dem sie in der ersten Nacht geschlafen hatten. Er seufzte, setzte Oskar ab und sah zu, wie er über den Sand watschelte und ins Wasser tauchte.

Ein Dröhnen in der Luft ließ ihn zusammenzucken. Er hob den Kopf. Ein Flugzeug. Dort oben flog ein Flugzeug in einer schnurgeraden Linie durch den Himmel. Die metallenen Tragflächen fingen die Sonne ein, sie funkelten wie Juwelen, und José spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seinen Eingeweiden. Wie gern wäre er dort oben gewesen, hoch in der Luft! Wie gern hätte er die Maschine selbst durch das Blau gesteuert, frei wie die Fregattvögel … Würde er je nach Baltra zurückkehren, um zu fliegen?

Das Dröhnen des Flugzeugmotors wurde leiser und versickerte in der dunstigen Ferne. Und dann hörte José etwas anderes. Er hörte einen Schrei. Jemand schrie, irgendwo hinter ihm im Wald, weit entfernt. Er verstand die Worte nicht, doch es war ein hoher und angsterfüllter Schrei, und José merkte, wie die Haare auf seinen Armen sich aufstellten.

War es Marit, die geschrien hatte?

Er machte kehrt, ließ Pinguin Pinguin sein und rannte zurück, zwischen den kargen Büschen hindurch, auf die Bäume zu. Es schrie noch einmal, und diesmal verstand er die Worte: »Ayudame! Hilf mir!«

Die Quelle lag friedlich und einsam auf ihrer Lichtung. Nur eine der Riesenschildkröten saß neben den Felsen im Schatten der Bäume. Daraus, dass die Schildkröte am Tag zuvor noch nicht da gewesen war, schloss Marit, dass dieses Exemplar noch lebte, auch wenn es sich in seinem Panzer verborgen hatte.

Sie selbst verbarg sich hinter einem Vorhang aus rot blühenden Lianen, der zwischen den Stämmen hing. Lange saß sie so, reglos, wartend. Loco der Blaufußtölpel saß geduldig neben ihr und schien sich zu fragen, ob Marit hier nisten wollte. Bis auf ein paar andere bunte Vögel blieb die Lichtung leer. Auch die Schildkröte regte sich nicht, und nach einer Weile begann der Panzer, Marit bekannt vorzukommen. Er hatte einen Sprung. Konnte es sein, dass jemand den Panzer von der letzten Kurve des gekennzeichneten Weges hier heraufgeschleppt hatte? Aber warum?

Sie streckte die Hand aus, um den Vorhang aus roten Blüten und grünen Blättern zu teilen und nachzusehen, ob in dem Panzer eine Schildkröte steckte – da lief etwas wie ein Zittern durch die Hornplatten. Marit atmete auf. Es war einfach nur ein Panzer mit einem ähnlichen Sprung, ein Panzer einer ganz und gar lebendigen Schildkröte. Gleich würden sich vier Beine und ein faltiger Hals aus dem Panzer strecken … Marit machte einen Schritt nach vorn. Sie konnte ihr Versteckspiel genauso gut für den Moment aufgeben und an der Quelle einen Schluck Wasser trinken. Die herabhängenden Äste gaben ein feines Rascheln von sich, als sie ihr Versteck verließ. Und da rief jemand. »Felipe! Felipe!«

Loco zuckte zusammen und machte mit seinen blauen Füßen einen Satz in die Luft. Wer hatte gerufen und von wo? Es war eine hohe, durchdringende Stimme gewesen, die Stimme eines Kindes, ganz nah. Aber da war niemand. Niemand außer der Schildkröte.

»Felipe, bist du das, der da raschelt? Ich warte schon eine Ewigkeit!«

Jetzt war Marit sich sicher: Es war die Schildkröte, die rief. Die uralte, riesige Schildkröte rief mit der Stimme eines Kindes. Marit schloss die Augen, um klar denken zu können. Es half nichts. Sie öffnete die Augen wieder.

Und da kam ein brauner zerkratzter Kinderarm aus dem Schildkrötenpanzer, noch ein Kinderarm … ein Kinderkopf mit wildem blondem Haar … und schließlich ein ganzes Kind. Ein Mädchen in einem ziemlich mitgenommenen Kleid, unter dem es Hosen trug. Also war es doch der Panzer, den sie am Vortag weiter unten am Weg gesehen hatten. Das kleine Mädchen hatte ihn hier heraufgeschleift, um sich darin zu verstecken.

»Felipe?«, fragte die Kleine noch einmal, verunsichert jetzt. »Versteckst du dich? Ich habe mich auch versteckt! Ich wollte dich erschrecken …« Sie verstummte. »Vielleicht wollte er doch kein Wasser holen«, sagte sie laut zu sich selbst. »Vielleicht war er auf dem Weg nach woanders. Und ich warte und warte hier im besten Versteck aller Zeiten.«

Sie stampfte mit dem kleinen Fuß auf, an dem eine zu große Ledersandale hing, die aussah, als sei sie von jemandem gemacht worden, der sich weder mit Leder noch mit Sandalen auskannte.

Marit beschloss, dass dieses kleine Mädchen in keinem Fall gefährlich war, und trat durch die roten Blüten.

»Hallo«, sagte sie auf Spanisch. »Ich bin es, die geraschelt hat.«

Die Kleine fuhr herum, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, machte kehrt und rannte davon.

»Warte!«, rief Marit. »Ich tu dir doch nichts! Ich will nur wissen …«

Sie sprintete hinter dem Kind her durchs Gebüsch und merkte, dass sie sich auf einem schmalen Pfad befanden. Einem Pfad, der nicht mit Schildkrötenpanzern gekennzeichnet war, dafür aber offenbar häufig benutzt wurde. Die Kleine war schnell. Marit musste sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Über ihr flatterte Loco, und Carmen krallte sich in ihrem Ärmel fest.

»Warte!«, rief Marit noch einmal. Die Kleine führte sie den Berg hinauf und endlich, endlich holte Marit auf. Sie hatte trotz allem die längeren Beine. Ein letzter Satz vorwärts und sie bekam das Mädchen am Arm zu fassen. Es trat und kratzte wie ein wildes Tier und beinahe sah es auch so aus: Marit konnte sein Gesicht kaum sehen vor ungekämmtem Haar. Die Kleine versuchte zu rufen, während sie um sich schlug, aber ihre Rufe kamen eher als ein ärgerliches Keuchen heraus: »Mamaaaaa! Papa! Felipe!« Und dann, laut und gellend: »Ayudame!« Sie schaffte es, ihre Zähne in Marits Handgelenk zu versenken, und als sie es wieder losließ, zischte sie wütend: »Lass mich los!«

Marit erstarrte. Die letzten Worte hatte sie auf Deutsch gesagt. Und jetzt merkte Marit, dass sie die Stimme kannte. Die Kleine schüttelte sich das wilde Haar aus dem Gesicht, um Marit wutentbrannt anzustarren. Und die blauen Augen in diesem Gesicht kannte Marit. Das Gesicht selbst war älter geworden, seit sie es zum letzten Mal gesehen hatte, sonnengebräunter, dreckiger und magerer. Doch die blauen Augen und die beinahe weißen Brauen waren die gleichen geblieben.

»Julia?«, fragte Marit.

Sie träumte. Natürlich, das musste es sein. Sie war beim Warten an der Quelle eingeschlafen und träumte. Aber es war ein schöner Traum.

»Wer bist du?«, fragte die Kleine auf Spanisch. »Ich hab dich noch nie gesehen.«

»Oh doch«, sagte Marit und lachte. »Das war in der Wirklichkeit, nicht im Traum. Als du noch gelebt hast. In Hamburg. Es war Nacht. Bevor alles brannte. Du hattest den Teddybären mit der roten Seidenschleife im Arm.«

»Den Bären!«, rief Julia und ihre Augen wurden groß vor Sorge. »Ich habe ihn verloren. Papa ist später zurückgegangen, aber der Bär war nicht mehr da.«

»Papa ist … zurückgegangen?«, fragte Marit. Was für eine Sorte von Traum war dies? Oder war es vielleicht gar kein Traum?

»Wie heißt du überhaupt?«, fragte Julia.

»Marit«, sagte Marit.

»Wirklich?«, fragte Julia. »So hieß meine große Schwester auch.«

»Aber ich bin deine große Schwester!«, rief Marit verzweifelt.

»Unmöglich.« Julia schüttelte den Kopf und ihr verwildertes Haar flog dabei umher wie eine Mähne. »Meine Schwester ist tot. Mama sagt, sie ist im Himmel, aber ich weiß, dass es nicht stimmt. Sie ist einfach nur tot.« Sie stampfte wieder mit dem Fuß auf. »Und sie kommt nie, nie wieder, hörst du? Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du sie! Da war ein Feuer, ein großes Feuer, alles hat gebrannt, und sie ist so dumm gewesen, so dumm! Sie ist weggerannt. Ich träume dauernd, dass ich sie suche. Sie sagen, ich wandere im Schlaf in den Wald, und sie müssen mit Fackeln losgehen und mich wieder zurückholen. Aber Marit, die kann keiner zurückholen, keiner! Sie ist in der Nacht damals nicht mit in das Auto gestiegen. Sie kannte den Plan nicht, aber ich kannte ihn auch nicht, und ich bin mit Mama mitgegangen. Und das Haus ist eingestürzt und sie haben sie bestimmt nicht mehr in den Keller reingelassen. Papa hat gefragt, ein paar Tage später, und Richard hat ihm das gesagt. Dass sie tot ist.«

Sie sah Marit an und ihre blauen Augen blitzten. Es standen keine Tränen darin, nur blanke Wut. Da erfüllte etwas wie Stolz Marit, und sie wünschte mit aller Macht, dass sie nicht träumte.

»Julia«, flüsterte sie. »Sie haben mich in den Keller gelassen. Ich dachte, ihr wärt tot.«

Julia streckte ihre kleine Hand aus, eine sehr dreckige kleine Hand mit schwarzen Rändern unter den Nägeln, und legte sie auf Marits Wange.

»Du bist so braun und so dünn«, sagte sie. »Und so zerschrammt und so dreckig und du hast kurze Haare und Kleider wie ein Junge. Bist du dir sicher, dass du dich nicht irrst? Du siehst schon ein bisschen aus wie Marit.«

»Ich bin mir hundert Prozent absolut sicher, dass ich Marit bin und mich nicht irre«, sagte Marit.

Und dann zog sie Julia in ihre Arme und hielt sie lange fest, obwohl Julia sich sehr dagegen sträubte, umarmt zu werden. Keine von beiden vergoss eine einzige Träne.

Und tief in Marit zerbrach etwas mit einem lauten Klirren, das nur sie selbst hörte. Als sie Julia losließ, begriff sie, dass es die Traurigkeit war. Sie war so groß gewesen, dass sie beinahe allen Platz in Marit eingenommen hatte. Seit José sie aus dem Pazifik gefischt hatte, war sie jeden Tag ein wenig schwächer geworden, ein wenig dünnhäutiger. Doch sie war geblieben, wo sie war, groß und ausgedehnt zwischen Marits Eingeweiden.

Und jetzt, in diesem Moment, war sie zerbrochen. Zu tausend Scherben. Und da wusste Marit, dass sie nicht träumte. Dies war die Realität. Sie begriff es nicht, aber Julia lebte.

Julia führte sie weiter den Berg hinauf, auf dem schmalen Pfad. Sie fand, dass es zu schwierig war, die Dinge jetzt und hier zu erklären.

»Wenn wir da sind«, sagte sie, »dann erklären die das, das ist besser.«

»Wenn wir wo sind?«, fragte Marit. »Wer ist die

Der Pfad führte am Rand einer Wiese mit hüfthohem Gras entlang, und Marit erinnerte sich daran, dass sie diese Wiese schon einmal gesehen hatte, nachts, als José darin über sie gestolpert war.

»Die, das sind Mama und Papa und Felipe«, sagte Julia. »Felipe ist nicht mit uns verwandt.«

»Das … dachte ich mir«, sagte Marit.

»Er kommt aus Ecuador«, erklärte Julia, sah zum Himmel und lief dann in das Meer aus hohem Gras hinaus. »Komm!«, rief sie. »So geht es schneller! Man darf nicht über die Wiese am Tag, wegen der Flugzeuge, aber jetzt sind keine da.«

Sie hüpfte durchs Gras voran, wie sie in Hamburg mit ihrem Springseil durch den Hof gehüpft war. Über ihnen flog ein übermütiger Vogel waghalsige Spiralen und Kreisel und zeigte dem blauen Himmel seine blauen Füße.

»Gehört der zu dir?«, fragte Julia.

Marit nickte. »Das ist Loco. Aber er ist nur einer von vielen. In meinem Ärmel sitzt Carmen die Reisratte, und dann gibt es noch Chispa die Seelöwin und Kurt den Albatros und Oskar den Pinguin und Uwe den Wasserleguan … und den Flamingo, der verschwunden ist. Mit Oskar fing es an, ich habe seinen Flügel verbunden, und dann kamen all die anderen ganz von selbst … Wir haben einen kleinen Zoo mittlerweile.«

»Wer ist wir?«, fragte Julia. Sie hatten die Wiese überquert und tauchten wieder ins grüne Wirrwarr der Bäume.

»Oh, José und ich«, sagte Marit. Und dann war sie es, die zu erzählen begann. Sie erzählte Julia nur die schönen und die lustigen Dinge: von den honiggelben Planken der Mariposa und von den Sternbildern, die ihnen nachts den Weg gezeigt hatten. Von der Dosensuppe, die Eduardo gefiltert hatte, und vom Schwimmen mit den Delfinen. Und davon, wie José gedacht hatte, sie wäre ein Junge. Das fand Julia am allerlustigsten.

»Ich möchte auch einen Bruder haben«, sagte sie und seufzte so schwer, dass Marit lachen musste.

»Ja«, sagte sie. »Es hat schon was für sich. Wir helfen einander, und wir streiten uns, dass die Fetzen fliegen. Nur heiraten wird er mich nicht.« Sie lachte wieder. »Jedenfalls hat er das gesagt.«

»Dann heirate ich ihn vielleicht«, erklärte Julia mit großem Ernst. »Später.«

»Ja, mach das nur«, sagte Marit, »wenn ihr mich dann zum Tortenessen einladet.«

In diesem Moment teilte sich der Wald und sie traten auf eine weitere Lichtung hinaus. Aber dies war eine künstliche Lichtung, und es war auch gar keine richtige Lichtung, denn hoch oben zwischen den Bäumen wuchs ein loses Geflecht aus Ranken, sodass die Sonne wie durch ein Gitter schien. Julia folgte Marits Blick.

»Das ist auch für die Flugzeuge«, sagte sie. »Von oben sieht es aus, als wäre alles Wald. Schlau, was? So sehen sie das Haus nicht und die Veranda, weil wir hier doch gar nicht wohnen dürfen, weil … weil … Wie ist das? Die Ecuadorianer sind die Freunde der Amis und die Amis sind jetzt unsere Feinde, und irgendwie deshalb.«

»Das Haus … und die Veranda«, wiederholte Marit.

Auf der Lichtung wuchs kein Gras, dort waren Beete angelegt: lange Reihen von Tomaten- und Bohnenstangen, Salat und Ananas und Bananenstauden. Neben dem Haus stand eine kleine Gruppe von Orangenbäumen.

»Die Orangen, die waren schon da«, sagte Julia. »Die sind uralt, sagt Papa.«

Marit verstand immer noch nicht, wieso Julia dauernd von Papa redete. Sie folgte ihr benommen zwischen den Beeten hindurch, und am Ende des Weges hüpfte Julia die Stufen einer Veranda hoch, deren Dach mit einem Durcheinander aus violetter Clematis und weißer Passiflora bedeckt war. Genau wie das Haus dahinter. Von oben sah es vermutlich aus wie ein Felsen, den die Kletterpflanzen überwuchert hatten.

Auf der Veranda, unter den herabhängenden Blüten, standen ein Tisch und zwei Schaukelstühle, ein wenig windschief zusammengenagelt wie auch die Veranda selbst. Und auf dem Tisch stand ein Flamingo, den Schnabel tief in einen Topf versenkt.

»Der ist seit gestern hier«, erklärte Julia. »Er frisst Suppe, denk dir.«

»Nein«, sagte Marit. »Er filtert die Teilchen heraus. Er heißt Eduardo.«

Und dann vergaß sie den Flamingo. Denn in einem der Schaukelstühle saß ein Mann mit einer Brille und las in einem Buch. Der Mann sah auf und Marit erschrak. Die eine Seite seines hageren Gesichts sah seltsam aus, als wäre sie geschmolzen und wieder fest geworden, und Marit begriff, dass es die Narben einer Verbrennung waren. Das Auge auf dieser Seite des Gesichts war geschlossen und sah aus, als würde es für immer geschlossen bleiben. Doch das andere, offene Auge war blau wie der Himmel und voller Leben und der Mund des Mannes lächelte, und da erkannte Marit ihn.

Sie blieb auf den Stufen der Veranda stehen.

»Papa«, sagte sie.

»Guck, was ich gefunden habe!«, rief Julia, griff mit beiden Händen eine Hand von Papa und zog ihn aus seinem Schaukelstuhl. »Sie war einfach plötzlich da, und sie ist gar nicht tot, jedenfalls behauptet sie das, und sie ist auf einem honiggelben Schiff gekommen, und einen Zoo hat sie auch mitgebracht. Und einen Bruder, der in Wirklichkeit kein richtiger Bruder ist, weil später heirate ich ihn mit Torte.«

»Marit?«, fragte Papa.

Marit nickte. Sie fand sich in seinen Armen wieder, und sie ahnte, dass dies der Tag der Umarmungen war.

»Ich … ich verstehe gar nichts …«, murmelte Papa.

Er nahm Marit an der Hand und führte sie um das Haus herum und hinter dem Haus gab es ein Maisfeld. Es hatte nicht die viereckige Form eines Maisfelds, seine Grenzen waren völlig unregelmäßig. Und Marit begriff, dass auch das eine Maßnahme gegen die Flugzeuge war. Ein viereckiges Feld erkennt man von oben als Feld, ein Amöbenfeld nicht.

Mitten im Mais stand Mama. Sie trug ein altes graues Kopftuch und Männerkleider, und um sie herum war die Luft blau von tausend Schmetterlingsflügeln. Marit sah ein goldenes Glänzen dazwischen. Die Schmetterlinge hatten goldene Flecken auf den Flügeln.

Es war alles zu unglaublich.

»Er macht irgendwelche Zeichen«, sagte Ben. »Fahren wir näher an sie heran.«

Das Funkgerät der Albatros hatte sich nicht vom letzten Sturm erholt.

Seit dem Tag nach dem Vulkanausbruch fuhren die Roosevelt und die Albatros dicht nebeneinanderher, Militärgrau neben Federweiß. Aber auch gemeinsam hatten sie es nicht geschafft, die Besatzung der Mariposa aus den Wellen zu bergen. Es war still geworden auf den Schiffen, seit die Mariposa im Sturm gesunken war.

Ben Miller verfluchte seine eigene Dummheit in jeder Minute. Der Mann, der mit ihm an Bord der Albatros gegangen war, um José zurückzubringen, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Name war Señor Fernandez. José war sein jüngster Sohn gewesen.

Ben hatte es Lindsey erklärt – zu spät erklärt: wie er José am Hafen von Baltra getroffen hatte. Wie er gesagt hatte, er solle herausfinden, was auf der Isla Maldita geschah, dann würden sie ihn mit in die Luft nehmen. Nur so, zum Spaß. Er hatte doch nicht ahnen können, dass der Junge das Boot eines Toten stehlen würde, der nicht tot war. Und dass er seltsame Karten sammelte.

»Egal, was warum geschehen ist«, hatte Lindsey gesagt. »Casafloras Karte ist mit der Mariposa gesunken. Was mit Ihnen geschieht, Miller, das besprechen wir, wenn wir wieder auf Baltra sind.«

Lindseys und Parkers Mission war erfüllt. Sie waren losgefahren, um Casaflora und die Karte zu vernichten, ehe sie den Deutschen in die Hände fiel. Casaflora war tot und die Karte lag auf dem Grund des Pazifiks. Natürlich hatte es auch sie berührt, dass zwei Kinder mit ihr im Pazifik versunken waren. Aber immerhin hatte der Junge sich geweigert, Casaflora die Karte auszuhändigen. Vielleicht, dachte Lindsey, war er weniger Kind gewesen, als man gemeinhin von einem Dreizehnjährigen dachte. Vielleicht hatte er geglaubt, er könnte die Karte auf irgendeinem Umweg doch noch an die Deutschen verkaufen. Sie würden es nie herausfinden.

Jetzt verstand Ben, was Parker durch das Megafon rief: »Wir kehren um! Wir fahren zurück zur Isla Maldita! Wir haben einen Funkspruch erhalten. Ein Flieger hat am Strand der Insel jemanden gesehen! Einen Menschen!«

Ben sah, wie ein neues Licht in Fernandez’ Augen zu leuchten begann.

»Sie sind am Leben«, sagte er.

Auf der Roosevelt ließ Parker das Megafon sinken.

»Er macht sich Hoffnungen«, sagte er zu Waterweg, der neben ihm stand. »Aber ich denke nicht, dass es die Kinder sind, die wir auf der Insel finden werden. Gott, ich wünschte, er würde nicht hoffen. Es gibt nichts Schlimmeres als enttäuschte Hoffnungen.«

»Doch«, erwiderte Waterweg. »Es gibt etwas Schlimmeres. Gehasst zu werden, weil jemand nicht begriffen hat, auf welcher Seite man steht. Marit ist am Leben. Sie muss am Leben sein. Ich muss ihr endlich so vieles erklären. Worauf warten wir? Kehren wir um.«

Alles in dem kleinen Haus war ein wenig schief und provisorisch. Aber Marit konnte nicht aufhören zu denken, dass es das schönste Haus war, das sie je gesehen hatte. Sie trugen mehr Stühle auf die Veranda und Mama kochte Tee und stellte Blechteller mit Bananenkuchen auf den wackeligen Tisch. Marit hatte ihr die alte Schiebermütze wiedergegeben, und nun trug sie sie statt des Kopftuchs. Und während Marit sich ein wenig für den Hunger schämte, mit dem sie über den Kuchen herfiel, begannen endlich die Erklärungen.

»Vielleicht sollten wir am Anfang Folgendes klarstellen«, sagte Papa. »Keiner von uns ist tot.«

Alle nickten.

»Meine Maschine ist wirklich 1941 abgeschossen worden«, fuhr Papa fort. »Nahe der Grenze, auf französischer Seite. Aber ich habe den Absturz überlebt. Ein Bauer hat mich aus den schwelenden Trümmern des Flugzeugs gezogen, kurz bevor der Tank explodiert ist. Die Leute in seinem Dorf haben mich gepflegt. Sie sagten, ich solle bleiben, bis der Krieg vorüber wäre. Ich sagte, ich wolle nach Hause. Ich müsse nach Hause. Es war eine lange Reise. Eine Reise in falschen Kleidern unter falschem Namen. Dein Vater ist ein Deserteur geworden, Marit, einer, der vor dem Krieg weggelaufen ist. So einen hängen sie auf, wenn sie ihn erwischen.«

Marit lächelte. »Das mit den falschen Kleidern kommt mir bekannt vor«, sagte sie. »Waterweg und ich haben die gleiche Sorte Reise gemacht. Bis Spanien war ich noch Marit und von da an war ich eine lange Zeit Jonathan Smith.«

»Waterweg?«, fragte Mama. »Meinst du Tom? Meinen Bruder?«

Marit nickte.

»Er hat dich hergebracht? Das verstehe ich nicht. Er ist einer von ihnen. Ein Nazi.«

»Ja«, sagte Marit. »Und ein Spion. Deshalb ist er hier. Um eine Karte in Empfang zu nehmen, die jemand anders von der amerikanischen Militärbasis gezeichnet hat. Mir hat er erzählt, er würde mich herbringen, weil es dein Traum war, die Galapagosinseln zu sehen. Ich hasse ihn. Er hätte beinahe José getötet. Aber das erzähle ich alles später.« Sie legte eine Hand auf das Knie ihres Vaters. »Was ist dann geschehen?«

Papa nahm ihre Hand in seine. »Dann stand ich eines Nachts vor unserem alten Haus in Hamburg. Ein Deserteur ist ein Geschöpf der Nacht. Niemand darf ihn sehen. Mama hat mich im Holzschuppen versteckt. Es war gefährlich, viel zu gefährlich. Aber es war die einzige Möglichkeit. In der Wohnung war zu wenig Platz, und dort hätten sie auch zuerst gesucht, wenn sie Wind von der Sache bekommen hätten. Ihr durftet nicht wissen, dass ich da bin, Julia und du. Es war auch so riskant genug. Die Schuppenschlüssel des ganzen Hauses verschwanden auf einmal. Mama hat dafür gesorgt, dass sie verschwanden.«

»Unseren Schlüssel habe ich eine Weile im Hof versteckt«, sagte Mama. »Eine dumme Idee. Richard hat ihn gefunden. Von da an habe ich ihn immer bei mir getragen.«

»Weißt du noch, Marit, wie Richard den Schuppen aufschloss?«, fragte Papa. »Als du in den Schuppen kamst … Ich war dir so nah … Nur das Regal mit den Einmachgläsern stand zwischen uns. Und dann versuchte Richard, dich zu küssen. Ich hätte mich gern auf ihn gestürzt und ihn verprügelt. Aber wenn Richard mich gesehen hätte, wäre das mein Ende gewesen. Ich habe von hinten ein paar Gläser vom Regal gestoßen, das war alles, was ich tun konnte. Ich hatte schreckliche Angst, ich dachte, Frau Adam würde in den Schuppen kommen und mich finden. Aber ich hatte Glück. Ich hatte so oft Glück.«

»Was hast du die ganze Zeit gemacht, im Holzschuppen?«, fragte Marit.

»Gelesen«, sagte Papa. »Ich habe das Buch über Galapagos gelesen, das von Mamas altem Professor. Ab und zu hat sie es mir wieder abgenommen und euch daraus vorgelesen. Das Buch war wie eine geheime Verbindung zwischen euch und mir. Mama hat sich immer gewünscht, ich wäre so wie dieser Professor. Mutig genug, fortzugehen und auf irgendwelchen Inseln neu anzufangen …«

»Das ist nicht wahr«, sagte Mama. »Ich wollte nicht, dass du bist wie er. Ich wollte nur zu den Inseln.«

»Ja«, sagte Papa, »und eines Tages haben wir entschieden, dass wir es versuchen würden. Mitten im Krieg. Es war ein verrückter Entschluss. Aber in Frankreich hatte ich von der Mission Nachtfalter gehört, und als ich Mama davon erzählte, da schien der Entschluss nicht mehr ganz so verrückt.«

»Mission Nachtfalter«, wiederholte Marit leise. Alles ergab einen Sinn, nach und nach. Alles fügte sich ineinander wie ein riesiges buntes Puzzle. Ein blauer Schmetterling mit Goldflecken auf den Flügeln landete auf dem Bananenkuchen.

»Die wohnen im Mais«, sagte Julia, die auch einmal etwas sagen wollte. »Felipe sagt, sie sind eine Plage. Und Mamas komischer Professor, der wollte sie unbedingt finden und dachte, sie wären selten und alles …«

»Die Mission Nachtfalter an sich war natürlich auch verrückt«, sagte Mama. »Die Idee bestand darin, Leute während des Fliegeralarms aus den Städten zu holen. Niemand rechnet damit. Niemand achtet auf das, was nachts in Städten geschieht, in denen alle Menschen in Luftschutzkellern sitzen. Ein Netzwerk von Leuten hatte sich zusammengeschlossen, um diese Nächte zu nutzen. Die meisten, denen sie geholfen haben, waren versteckte Juden. Aber es gab auch ein paar andere Leute, wie Papa und uns. Also packte ich unsere Sachen ein wenig gründlicher als gewöhnlich. Und ich wartete auf den nächsten Fliegeralarm. Ich sehnte ihn herbei. Ich lag nachts in meinem Bett und wünschte mir, dass die Sirenen losgingen. Und hoffte, das Auto wäre da. ›Wenn es beim nächsten Alarm nicht da ist, dann beim übernächsten‹, hatten sie gesagt, ›oder bei dem danach …‹ Und dann kam die Nacht mit dem Alarm, und das Auto war da, ich sah es am Ende der Straße, aber niemand hatte ahnen können, dass gerade diese Straße getroffen würde. Ich hatte keine Zeit zu überlegen. Ich zog Julia an der Hand mit und wir rannten. Aber in der anderen Hand trug ich den Koffer. Ich hätte ihn loslassen sollen. Ich hätte dich an die Hand nehmen sollen … Es ging alles zu schnell. Das Auto fuhr mit uns fort, mitten durchs Feuer.« Sie stand auf und legte einen Arm um Marit. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Ich wollte dich nie dalassen! Sie brachten uns aus der Stadt, zu jemandem, der uns eine Weile versteckte, uns drei zusammen. Papa ist noch einmal zurückgegangen, um nach dir zu fragen. Ich wusste nicht, dass er zurückging. Er hat es mir erst hinterher gesagt. Es war viel zu gefährlich. Wie überhaupt alles. Richard hat ihm erzählt, du hättest den Angriff nicht überlebt. So sind wir zu dritt weitergereist, von Ort zu Ort, mit Leuten der Mission oder mit Leuten, die Leute kannten. Und irgendwann waren wir auf einem Schiff, das über den Atlantik fuhr, wochenlang. Wir kamen im Dezember in Ecuador an und da waren die Amerikaner plötzlich über Nacht unsere Feinde geworden. Deutschland hatte den USA den Krieg erklärt. Deshalb sind wir heimlich zur Isla Maldita gefahren. Ein holländisches Schiff hat uns mitgenommen und hier abgesetzt, mit all unserem Gepäck. Dem Saatgut aus Ecuador … Wir verstecken uns vor den Flugzeugen, damit sie uns nicht zurück nach Deutschland schicken. Felipes Familie hat uns in Ecuador schon geholfen, und er hat beschlossen mitzugehen. Ich habe ihm von dem Buch erzählt … und von den Inseln … all den Tieren … Vielleicht lag es daran.«

Ein großer gelber Hund kam auf die Veranda gesprungen, warf Marit einen misstrauischen Blick zu und legte sich schließlich unter den Tisch. Nach dem Hund kam ein junger Mann, und als er Marit sah, machte er ein sehr verwirrtes Gesicht.

»Wir reden gerade von dir«, sagte Mama auf Spanisch. »Setz dich.«

»Aber wer … wer ist das?«, fragte Felipe.

»Das ist Marit«, sagte Mama, beiläufig, als stellte sie jemanden vor, der zum Tee vorbeigekommen war. »Unsere ältere Tochter. Nimm doch ein Stück Bananenkuchen.«

»Wo… woher kommst du?«, fragte Felipe. »Bist du vom Himmel gefallen?«

»So ähnlich«, sagte Marit und grinste. Und dann erzählte sie ihre Geschichte noch einmal, in der längeren Version, und Julia redete dauernd dazwischen und der gelbe Hund wurde abwechselnd von allen mit Kuchen gefüttert.

»Casaflora«, sagte Mama am Ende. »Marit, hast du den Namen mal ins Deutsche übersetzt?«

»Nein«, sagte Marit. »Es ist nur ein Name. Namen übersetzt man nicht.« Sie dachte nach. »Oder doch. Casa flora. Blumenhaus.«

»Blumenhaus«, sagte Mama. »Sein Schiff hieß Mariposa. Schmetterling. Und er war schon ein paar Jahre auf den Inseln unterwegs, lange genug, um so zu sprechen, dass man ihn für einen Ecuadorianer hielt. Er hatte natürlich dunkles Haar, das hat geholfen …«

»Dein Professor«, sagte Papa. »Du glaubst, Casaflora war Professor Blumenhaus? Der, der das Buch über die Inseln geschrieben hat? Dein Vorbild?«

»Ja«, sagte Mama und plötzlich klang sie traurig. »Mein Vorbild hat sich verwandelt. In den Zeichner einer lebensgefährlichen Karte. In einen deutschen Spion. In einen verbitterten alten Mann. Oder vielleicht war er immer so. Ich wusste es nur nicht.«

Marit streichelte den gelben Hund, auf dessen Kopf sich Carmen gerade zu einem Nickerchen einrollte. Loco stand mit seinen großen blauen Füßen schon eine Zeit lang auf dem Tisch und pickte Kuchenkrümel auf.

»Er hat sich vielleicht zurückverwandelt«, sagte Marit leise. »Dein alter Professor. Ganz am Ende. Er hat uns gerettet, weißt du. Vor dem Vulkanausbruch. Als er gestorben ist, war er wieder ein Vorbild.«

Mama nickte. »Und das andere Schiff … das Schiff von Tom … hieß noch einmal wie?«

»Mariposa Nocturna«, antwortete Marit. »Nachtfalter.«

Sie sah von Papa zu Mama und zurück.

»Mission Nachtfalter«, murmelte Papa. »Die Mission hatte eine Menge Mitarbeiter. Nicht jeder wusste, was der andere tat. Könnte es sein, dass Tom nicht das war, was wir dachten?«

»Vielleicht nicht«, sagte Marit. »Aber ich fürchte, er ist genauso tot wie Casaflora. Er hat zu spät gemerkt, dass der Vulkan ausbricht. Als wir losgesegelt sind, lag sein Nachtfalter-Schiff noch immer vor Anker.« Und sie legte ihre Arme ganz schnell um Loco und drückte ihn an sich, weil das vielleicht gegen die Traurigkeit half. Sie wollte nicht mehr traurig sein. Sie war genug traurig gewesen. Gab es denn nie ein Ende der Traurigkeit?

Dann fiel ihr etwas ein und sie sprang auf. »José!«, rief sie. »Mein Bruder! Ich muss ihm alles erzählen! Ich habe ihn beinahe vergessen. Er weiß nicht, dass ich aus Deutschland komme. Er hasst alle Deutschen. Vielleicht können wir ihm erklären, wir wären aus London?«

Papa schüttelte langsam den Kopf. »Einen Bruder kann man nicht ewig belügen«, sagte er. »Denk an Thomas, den Bruder deiner Mutter. Du siehst, was dabei herauskommt, wenn Geschwister sich belügen. Hol deinen José her. Hol ihn her und erklär ihm alles.«

Marit verbarg ihr Gesicht im Federkleid des Blaufußtölpels. Vielleicht, dachte sie, würde dies das Schwerste auf ihrer ganzen Reise werden.

Schließlich stand sie auf und hob Loco hoch. »Ich weiß nicht, ob du das kannst«, flüsterte sie ihm zu. »Aber wir versuchen es. Hol José her. José, hörst du? Meinen Bruder José. Hol ihn hierher.« Damit warf sie Loco in die Luft, so wie sie es einmal vor langer Zeit bei einem Falkner und seinem Falken gesehen hatte. Loco war kein Falke und strampelte verwundert mit den blauen Füßen, doch dann breitete er seine Schwingen aus und stieg in den fußblauen Himmel empor. Er flog eine Runde über dem Bougainvillea-überwucherten Haus und strich über die Baumwipfel davon.

José hatte nichts und niemanden im Wald gefunden. Auch Marit war nicht mehr bei der Quelle gewesen. Nur der leere Panzer einer Riesenschildkröte hatte dort in der Sonne gelegen, ein Panzer, der zuvor nicht da gewesen war.

Schließlich war José zur Piratenhöhle zurückgekehrt und nun saß er dort seit einer ganzen Weile allein und machte sich Sorgen. Es war besser, dachte er, bei der Höhle zu bleiben, falls Marit zurückkam, damit sie sich nicht am Ende gegenseitig suchten und aneinander vorbeirannten. Er war sich inzwischen fast sicher, dass er sich die Schreie eingebildet hatte, genau wie die Männer mit den Fackeln nachts.

Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als etwas vor seinen Füßen landete. Etwas mit sehr blauen Füßen. Loco.

Kurt, Oskar und Uwe hatten mit José gewartet, und nun beäugten auch sie verwundert den Tölpel, der einen seltsamen Tanz auf der Stelle vollführte. Er stampfte mit den blauen Füßen auf den Boden, legte den Kopf in den Nacken und reckte den Schnabel zum Himmel, wankte hin und her, breitete die Flügel aus und faltete sie wieder zusammen …

»Loco«, sagte José streng. »Hör auf damit. Bist du betrunken?«

Da flog der Tölpel auf, flog auf José zu und riss mit dem Schnabel an seinem Hemd. Danach flatterte er in die Bäume. Kurt und Uwe schienen sich anzusehen und folgten ihm in den Wald. José schüttelte den Kopf.

»Ihr meint, ich soll ihm ebenfalls folgen?«, fragte er.

Und plötzlich hatte er es eilig. Immerhin hatte Marit Loco mitgenommen. Vielleicht war ihr etwas passiert. Vielleicht lag sie irgendwo im Wald und brauchte Hilfe und Loco würde ihn zu ihr führen. Er ballte die Fäuste. Gab es doch Deutsche auf der Isla Maldita? Hatten sie Marit eingefangen wie ein wildes Tier? Und was hatten sie mit ihr angestellt?

Wie er sie hasste! Diese Deutschen, die den Krieg begonnen hatten. Die die ganze Welt besitzen wollten. Sie waren alle gleich.

Sie saßen lange auf der Veranda und warteten darauf, dass Loco wiederkam. Niemand von ihnen sagte, dass es vermutlich nicht funktionierte, weil ein Tölpel eben kein Falke ist.

Und dann kam ein riesiger weißer Vogel aus dem Wald auf die Lichtung hinausgewatschelt.

»Ein Albatros«, sagte Mama verwundert.

»Kurt!«, rief Marit und sprang auf. Nach Kurt kam Uwe der Wasserleguan. Und nach Uwe trat José aus dem Wald, im Arm den Pinguin Oskar, auf seiner Schulter den Blaufußtölpel. Marit lief ihm entgegen.

»José!«, rief sie. »Ein Glück, dass Loco dich gefunden hat! Es ist alles so unglaublich! So unglaublich unglaublich!«

Julia kam ihr nachgerannt. »Hallo, José!«, rief sie und, über die Schulter, auf Deutsch: »Mama, Papa! Wollt ihr nicht Marits Bruder Hallo sagen?«

José war zwischen den Beeten stehen geblieben. Marit konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Sie blieb ebenfalls stehen, plötzlich unsicher. Als sie sich umdrehte, standen Mama und Papa hinter ihr. Felipe war auf der Veranda geblieben.

»Das«, sagte Marit, »sind meine Eltern. Sie sind es, die hier wohnen. Nur sie. Sie sind gar nicht verbrannt, damals, bei dem Bombenangriff …«

»In London«, sagte José, und sie hörte, dass er es nicht länger glaubte. Julia hatte deutsch gesprochen.

»In Hamburg«, sagte Mama sanft. »Es war Hamburg, in Deutschland. Wir müssen eine Menge erklären. Komm doch und setz dich zu uns auf die Veranda.«

José sah von Marit zu ihren Eltern, zu Julia und zurück zu Marit. »Deutsche«, sagte er dann. Er spuckte ihr das Wort vor die Füße wie einen Schluck Gift. »Ihr seid Deutsche. Du hast mich belogen. Die ganze Zeit.«

»Ich …«, begann Marit. Aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es musste etwas geben, irgendetwas, das richtig war, doch es fiel ihr nicht ein, und so hob sie nur hilflos die Arme.

»Die Funkstation der Deutschen ist hier«, sagte José. »Wie ich gesagt habe. Und dein Vater betreibt sie.«

»Nein!«, rief Marit. »Was für ein Unsinn!«

»Wir haben eine Farm, José«, sagte Papa. »Oder den kläglichen Beginn einer Farm. Mais und Gemüse. Ein paar Hühner. Das ist alles. Wir haben nichts mit dem Krieg zu tun. Ich bin vor dem Krieg weggelaufen. Die Deutschen würden mich töten, wenn sie es wüssten.«

José trat einen Schritt zurück.

»Nein«, sagte er, »nein, das glaube ich nicht. Ich bin die ganze Zeit belogen worden. Warum sollte mir jetzt jemand die Wahrheit sagen? Marit hat mir erzählt, Sie wären tot, und ich habe ihr geglaubt. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich Idiot.«

»Aber ich dachte doch, sie wären tot!«, rief Marit verzweifelt. »Ich dachte es bis vor ein paar Stunden! Es ist alles so kompliziert, ich …« Und endlich fiel ihr ein, was sie sagen musste. Die Worte, die José dazu bringen würden, mit auf die Veranda zu kommen und sich alles in Ruhe anzuhören.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus. »Mein dummer Bruder«, sagte sie. »Es ist doch ganz egal, ob ich Engländerin bin oder Deutsche oder Chinesin. Ich bin deine Schwester.«

José starrte ihre Hand an. Er nahm sie nicht. Er schüttelte den Kopf.

»Du bist nicht meine Schwester«, sagte er und ging noch einen Schritt rückwärts. »Ich dachte einmal, du wärst es. Aber du bist es nie gewesen.«

Damit drehte er sich um und rannte in den Wald. Das grüne Dunkel nahm ihn auf, und Marit sah nicht, welche Richtung er einschlug. Sie stand zwischen den Beeten der wunderbarsten kläglichen Farm der Welt, zusammen mit Julia und Mama und Papa. Und dennoch fühlte sie sich so allein wie noch nie.