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Später dachte Marit, dass alles anders gekommen wäre, wenn …
Wenn sie José nicht nachgegangen wären. Wenn sie ihm Zeit gelassen hätten. Wenn sie einfach gewartet hätten. Wenn sie auf Felipe gehört hätten.
»Lasst ihn«, sagte Felipe, der noch immer auf der Veranda stand. »Der kommt wieder. Wenn nicht heute, dann morgen. Und wenn nicht morgen, dann irgendwann.«
»Aber wann ist irgendwann?«, rief Marit. »In einer Woche? In einem Monat? Was ist, wenn ihm etwas passiert? Wenn er irgendetwas Dummes tut?«
»Irgendwann ist irgendwann«, sagte Felipe. »Du brauchst nur zu warten, kleine Marit.«
Aber in dem Moment, als der Wald José schluckte, war sie zu verzweifelt, um sich auf die Veranda zu setzen und zu warten.
»Ich gehe ihn suchen«, sagte sie, und so kam es, dass sie letztendlich alle fünf losgingen, sogar Felipe, der doch mit nichts etwas zu tun hatte.
Nur Marits privater Zoo blieb auf der Veranda sitzen. Selbst Carmen schien diesmal genug von Abenteuern und Hin-und-her-Geschaukle in Ärmeln zu haben.
Irgendwo verloren sie die Spur aus umgeknickten Ästen, die José hinterlassen hatte.
»Wir hätten den Hund mitnehmen sollen«, sagte Papa.
Aber der große gelbe Hund war oben beim Haus angebunden, um auf die Farm aufzupassen. Mama hatte Marit erklärt, dass es wilde Esel auf der Insel gab, die gern die neu gepflanzten Sprösslinge fraßen.
»Wir brauchen den Hund nicht«, sagte Marit plötzlich. »Ich weiß, wo José ist. Bei den Piratenhöhlen. Er kann nur dort sein.«
Es war ein langer Marsch zu den Höhlen, und als sie dort ankamen, waren sie leer. Marit betrachtete die Steinbank, die kalte Feuerstelle, das Bett aus Blättern und Zweigen. Und die Traurigkeit in ihr, die doch kaputtgegangen war, wuchs wieder wie aus einem neuen Samen. Sie dachte daran, dass sie sich vorgestellt hatte, wie sie hier zusammen mit José überlebte. Wie sie Abend für Abend auf dem kleinen Platz vor den Höhlen sitzen und in den Sternenhimmel hinaufsehen würden.
»Ehe das Haus fertig war, haben wir auch hier gewohnt«, sagte Mama. »Es ist ein guter Platz. Wenn man auf den Felsen klettert, aus dem die Höhlendecke besteht, kann man den Strand sehen. Vielleicht ist José dort?«
Marit kletterte voraus. Unter ihnen, einen mehrstündigen steilen Fußmarsch entfernt, breitete sich der weiße Sandstrand aus. Sie sah eine Gruppe Seelöwen in der Sonne dösen. Sie sah einige Riesenschildkröten durch das Dornengestrüpp hinter dem Strand wandern.
José sah sie nicht. Aber dann blickte sie aufs Meer hinaus und da sah sie etwas anderes. Etwas, das sie nicht erwartet hatte. Zwei Schiffe. Sie waren schon ganz nah, und sie segelten genau auf die Bucht zu, wo der alte Piratenweg endete. Genau auf die Klippen zu, zwischen denen die Seelöwen Marit und José hindurchgeleitet hatten. Es gab zu viele verborgene Klippen vor der Isla Maldita. Marit dachte an die Überreste des Wracks.
Gleichzeitig dachte sie, dass sie die Schiffe kannte. Beide.
Das eine war militärisch grau, das andere strahlend weiß wie die Federn des Königs der Lüfte. Die Roosevelt und die Albatros.
»Das … das sind die Schiffe, die uns verfolgt haben«, sagte sie.
»Egal, wer sie sind«, sagte Papa. »Wenn sie Kurs halten, laufen sie auf den Felsen auf.«
Er begann mit beiden Armen zu winken. Dann streifte er sein Hemd über den Kopf und winkte mit dem Hemd.
»Weiter nach links!«, brüllte er so laut, dass Marit zusammenzuckte.
Mama starrte ihn an. »Bist du verrückt?«, fragte sie. »Es sind Amerikaner. Wir sind ihre Feinde. Jedenfalls werden sie das denken. Wir haben uns so lange versteckt und jetzt …« …
Aber Papa hörte ihr nicht zu. »Liiiinks!«, brüllte er, »Vorsiiiiiiiiiiiiicht!« Und dann sah er Mama an, und Marit merkte, dass er ihr doch zugehört hatte.
»Ich habe es so satt«, sagte er, »ich habe es so satt, mich zu verstecken. Wenn sie merken, dass wir ihnen helfen wollen …«
Doch die Männer hatten nicht einmal gemerkt, dass Papa gerufen hatte. Sie waren zu weit entfernt, um ihn zu hören.
»Wir müssen lauter sein«, sagte Marit.
Sie drehte sich zu Papa und Felipe um, die beide Gewehre trugen, mehr aus Gewohnheit. Papa sah ihren Blick, nickte und nahm das Gewehr von der Schulter. Dann lud er es durch und feuerte in die Luft.
Der Schuss hallte an den Felsen wider, hallte den Abhang hinunter, rollte durch die Bucht wie Donner und erreichte die Schiffe. Papa begann wieder zu rufen. Und Marit sah, wie die Männer auf den Schiffen zu ihnen heraufblickten. Doch sie winkten nicht zurück. Wenigstens änderten sie ihren Kurs. Sie wichen den Klippen aus und brachten ihre Schiffe erst jenseits der gefährlichen Stelle an Land.
»Es funktioniert«, sagte Mama. Aber sie klang besorgt. »Ich hoffe, sie haben verstanden, dass es ein Warnschuss war.«
»Gehen wir ihnen entgegen«, sagte Papa. »Ich werde es ihnen erklären. Ich werde ihnen alles erklären. Wenn sie uns dann zurückschicken, können wir nichts tun. Aber ich kann nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr verstecken. Es tut mir leid.«
Felipe schien nicht begeistert von der Idee, den Amerikanern entgegenzugehen, und Marit sah, dass er sein Gewehr fester packte, als sie sich auf den Weg hinunter machten. Sie nahmen den Weg der Piraten, vorbei an den ausgeblichenen alten Schildkrötenpanzern, und Julia kletterte auf jeden Panzer und balancierte hinüber. Marit ließ sich zurückfallen und blieb bei ihr. Wenn Papa und Mama und Felipe mit den Amerikanern sprachen, musste sie nicht unbedingt danebenstehen. Sie hatte Angst vor dieser Begegnung.
Schließlich verließen sie die Deckung des Waldes. Es gab jetzt nur noch Felsen und niedrige Büsche am Hang. Dann sah Marit die Männer von der Roosevelt und der Albatros. Sie kamen den Weg herauf. Papa, Mama und Felipe blieben stehen.
Und jetzt hatten die Männer sie auch gesehen.
Josés Schritte trugen ihn von selbst zu den Piratenhöhlen zurück. Er trank etwas Wasser aus der Vertiefung im Fels, setzte sich auf die steinerne Bank und ließ seinen Blick durch die Höhle gleiten. Und er dachte daran, dass er sich vorgestellt hatte, wie er hier zusammen mit Marit überlebte. Wie sie Abend für Abend auf dem kleinen Platz vor den Höhlen sitzen und in den Sternenhimmel hinaufsehen würden.
Aber nun würde er all diese Dinge allein tun, und es wäre eine traurige Sache, allein in der Höhle zu wohnen. Er trat gegen den Topf, der mit einem blechernen Krachen umfiel und ein Stück rollte. Er wollte wütend sein, doch er konnte es nicht.
Er fühlte sich nur leer.
Nichts war so gewesen, wie er gedacht hatte. Es war schwer gewesen, damit zu leben, dass Jonathan nicht Jonathan war, sondern ein Mädchen. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Marit war kein Mädchen wie andere Mädchen, sie war zwar eine Schwester, doch sie hatte alles mit ihm geteilt wie ein Bruder. Und nun war sie nicht einmal mehr eine Schwester. Es tat weh, das zu denken. Stimmte es, dass sie gedacht hatte, ihre Eltern wären tot? War es wahr, dass sie nur auf die Isla Maldita gekommen waren, um dort Felder zu bestellen? Dass Marits Vater vor dem Krieg geflohen war?
»Er ist nicht nur ein Deutscher«, murmelte José, »sondern auch noch ein Feigling.«
Aber wenn die Deutschen jeden umbrachten, der vor dem Krieg floh, war es dann feige, vor dem Krieg zu fliehen? War er dann nicht ein Feind der Deutschen? Und war ein Deutscher, der ein Feind der Deutschen war, ein Freund von Deutschlands Feinden? Josés Gedanken verhedderten sich.
»Nein«, sagte er, »alle Deutschen sind gleich. Ich hasse alle Deutschen.«
Es klang so leer wie das Gefühl in ihm, so blechern wie das Geräusch des umfallenden Topfes. Er war sich nicht mehr sicher, was stimmte.
Er war sich nur sicher, dass seine Schwester ihn belogen hatte, und diese Tatsache machte die Höhle kalt und feindlich. Auf einmal konnte er es nicht mehr ertragen, die Feuerstelle anzusehen, an der sie zusammen gesessen hatten. Er stand auf und lief den alten Weg entlang, hinunter zum Strand. Er wusste nicht, was er dort wollte. Allein sein vielleicht. Allein sein ohne die Erinnerungen, die die Höhle barg.
Er kam bis zu dem Stück des Berges, wo der Wald aufhörte, wo das Gestrüpp niedrig war und man aufs Meer hinaussehen konnte. Es lag strahlend blau in der Nachmittagssonne, und mitten darin gab es zwei große Flecken, einen grauen und einen weißen. Zwei Schiffe. José kauerte sich instinktiv hinter einen Busch, wurde eins mit dem Abhang und beobachtete, wie sie langsam näher kamen. Sie liefen die Bucht an, in der auch Marit und er mit ihrem Floß angespült worden waren. Die Roosevelt und die Albatros, dachte José. Ob die Amerikaner immer noch glaubten, er hätte Casafloras Karte? Die Schiffe steuerten genau auf die Klippen zu. Sie würden daran zerschellen wie vielleicht vor vielen Jahren das Schiff seines Urgroßvaters.
Man muss etwas tun, wisperte die Abuelita, die ihr Stichwort gehört hatte. Wenn du dich nur ein wenig mit ihnen beschäftigt hättest, könntest du die Unaussprechlichen bitten, die Schiffe von den Klippen fortzutragen …
José ignorierte sie. Er überlegte, ob er sein Versteck verlassen sollte, um zu winken und zu rufen. Wenn er seine Mauser noch gehabt hätte, hätte er in die Luft geschossen, damit sie ihn bemerkten. Und in genau diesem Moment fiel ein Schuss. Er kam von oben aus dem Wald. José drehte den Kopf. Er konnte das Felsdach der Höhle sehen. Und dort stand jemand. Dort standen mehrere Menschen: Marit und ihre Eltern, ihre Schwester und der Ecuadorianer. Marits Vater winkte mit beiden Armen. Einen Moment lang dachte José, er winkte ihm. Nein. Sie hatten ihn nicht gesehen. Marits Vater winkte den Männern auf den Schiffen, um sie zu warnen. Und die Schiffe drehten tatsächlich ab. Sie machten jetzt einen Bogen um die Klippen. Aber José hatte das Gefühl, dass sie den Schuss missverstanden hatten. Sie flohen nicht vor den unsichtbaren Klippen. Sie flohen vor den Schüssen. Niemand an Bord der Schiffe winkte zurück.
José blieb in seinem Versteck sitzen und beobachtete, wie sie ankerten und in zwei kleinen Beibooten an Land paddelten. Als sie aus den Booten stiegen, zählte er fünf Männer. Zu seiner Überraschung war einer von ihnen Waterweg. Er war also doch noch am Leben. Und dann sah José, dass er noch einen der Männer kannte. Den einzigen Einheimischen. Konnte es sein? War das da unten wirklich … sein Vater?
José merkte, wie seine Hände feucht wurden vor Aufregung. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte ihn, aber er verstand nicht, was sein Vater dort bei den anderen Männern tat. War er ihnen die ganze Zeit über gefolgt? Vielleicht war es besser, zunächst verborgen zu bleiben. Abzuwarten. Er sah die Männer die Serpentinen des Weges heraufkommen.
Dann sah er oberhalb seines Verstecks Marits Eltern und den Ecuadorianer aus dem Schatten der Bäume treten. Sie kamen noch ein Stück den Weg herunter, dann blieben sie stehen, wenige Meter von José entfernt, der reglos am Boden kauerte.
Sie hatten die Männer unten auf dem Weg entdeckt.
Und jetzt hatten die Männer auch sie gesehen.
»Halt«, sagte Lindsey. »Da oben. Auf dem Weg.«
»Das«, sagte Parker leise, »sind keine schiffbrüchigen Kinder.«
»Nein«, flüsterte Ben Miller. Er schämte sich immer noch, dass er schuld war an der ganzen Sache mit José. Es half nicht, dass er Hals über Kopf zusammen mit Josés Vater auf einem geliehenen Schiff losgesegelt war, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Er war jung, hatte eine Menge wiedergutzumachen, und deshalb flüsterte er, obwohl alle es sahen: »Viel eher sind es drei Männer, Sir. Und zwei von ihnen tragen Waffen. Einer von ihnen hat auf uns geschossen.«
»Sie haben uns gesehen«, sagte Señor Fernandez, und in dem Moment, als er das sagte, hatte Lindsey seine Waffe in der Hand. Er war der Älteste und Erfahrenste der drei und gewöhnlich war er schwer aus der Ruhe zu bringen. Aber über die Isla Maldita hatte er schon zu viel gehört. Sie machte ihn nervös. Er hätte es niemals zugegeben: Er hatte Angst.
Er wusste nicht, wie viele Männer noch dort oben im Wald waren und wer sie waren und was sie vorhatten. Er sah, wie einer der Männer seine Waffe von der Schulter nahm. Lindsey entsicherte das Gewehr.
»Nein«, sagte Waterweg da auf einmal. »Warten Sie. Tun Sie das nicht!«
Lindsey sah ihn nicht an. Er zielte. »Sie haben mir nichts zu befehlen«, sagte er mit einem unangenehmen Gefühl im Magen. Was war mit Waterweg los? Er war sein Mann. Er arbeitete für ihn, für Amerika, für den Frieden, er – er schlug Lindsey mit einer geübten Bewegung das Gewehr aus der Hand.
»Sie dürfen nicht schießen!«, rief Waterweg. »Ich –«
Weiter kam er nicht. Es ging alles zu schnell. Später wurde oft über die Reihenfolge der Dinge gesprochen, aber später war es zu spät. Ben Miller sah seine Chance, endlich etwas Nützliches zu tun. Im Grunde seines Herzens wollte auch er ein Held sein, wie der Junge, den er versehentlich auf den Pazifik hinaus-geschickt hatte. Als er sah, wie Thomas Waterweg seinen Vorgesetzten angriff, sprang er nach vorn und rang Waterweg zu Boden. Lindsey hob sein Gewehr auf, Waterweg rollte zur Seite und plötzlich war da eine Pistole in seiner Hand. Er richtete sie auf Bens Gesicht.
»Wenn Sie schießen, Lindsey, schieße ich auch«, sagte er kalt. »Ich weiß, wer die dort oben sind.«
»Deutsche«, sagte Parker.
»Ihre Leute«, sagte Lindsey.
»Ja«, sagte Waterweg. »Meine Leute. Aber …«
»Komisch«, sagte Parker. »Ich habe es die ganze Zeit geahnt. Es hat mich von Anfang an gewundert, dass Sie, Sie als Deutscher, für uns arbeiten.« Er stieß mit dem Fuß nach Waterweg und die Pistole segelte durch die Luft. Ben hielt Waterweg noch immer am Boden fest. Er wehrte sich nicht.
»Sie verstehen nicht!«, flüsterte Waterweg. »Es ist alles ganz anders, ich … ich kann es Ihnen erklären …«
Und da spürte Ben, dass Waterweg Angst hatte. So viel Angst, dass er die Kontrolle über sich verlor. Er begann deutsch zu sprechen. Schnell und hektisch. Keiner der anderen Männer verstand deutsch.
»Miller«, sagte Lindsey, »lassen Sie ihn los.«
»Zu Befehl, Sir«, sagte Miller.
Es war bestimmt die schnellste Exekution, die je auf den Galapagosinseln stattgefunden hatte. Ben Miller ließ los, er sah, wie Waterweg versuchte aufzustehen, doch die Kugel traf ihn, ehe er halb auf den Beinen war. Ben spürte warmes Blut auf seinem Hemd und wusste, dass es nicht sein Blut war.
Er sah auf, als Lindsey neu lud und ein zweites Mal abdrückte. Dieser zweite Schuss galt nicht Thomas Waterweg. Es gab keinen Thomas Waterweg mehr.
Der zweite Schuss galt einem der drei Männer, die oberhalb von ihnen auf dem Weg standen.
José sah, dass etwas nicht stimmte.
Er sah, wie einer der Amerikaner unten auf dem Weg sein Gewehr anlegte. Er sah, dass der Ecuadorianer, der bei Marits Eltern war, ebenfalls seine Waffe von der Schulter nahm.
»Nein«, hörte er Marits Vater sagen. »Lassen Sie das! Die dort unten werden nicht schießen. Sie sind nur nervös. Es ist alles ein großes Missverständnis. Wir werden ihnen erklären, dass es nur eine Farm auf dieser Insel gibt, sonst nichts.«
»Sie werden es nicht glauben«, sagte Felipe.
José sah wieder nach unten, zu den Amerikanern. Sein Vater stand etwas abseits. Die anderen sprachen miteinander. Waterweg lag jetzt am Boden, er versuchte aufzustehen, und José hörte den Schuss, der ihn endgültig niederstreckte. Er hörte die Vögel in den Bäumen ringsum auffliegen wie eine bunte Explosion. Er sah den Mann mit dem Gewehr noch einmal zielen.
Er begriff nicht, was geschehen war. Aber er begriff eines: Der Mann dort unten würde noch einmal schießen. Er zielte auf Marits Vater. Marits Vater, dachte José, der so lange tot gewesen war und nun wieder lebte. –
Alles kehrte sich jetzt um. Es war, als kippte etwas in ihm. Seine Traurigkeit, sein Hass – alles verschwand, und er sah nur noch Marits Vater, der dort auf dem Weg stand, ganz nah – und jetzt, zu spät, die Hände hob.
»Nein!«, schrie José und sprang auf. »Sie erschießen keinen deutschen Spion! Er ist keiner! Sie erschießen … einen Lebens-traum!« Er war mit einem Satz bei Marits Vater, warf sich auf ihn und riss ihn zu Boden, während der Knall des zweiten Schusses die Luft bersten ließ.
Die Kugel traf Marits Vater nicht.
Sie traf José.
Marit und Julia waren oben bei den letzten hohen Bäumen stehen geblieben. Als Waterweg zu Boden ging, riss Marit Julia an sich und hielt sie ganz fest. Sie sah, dass es noch einen Schuss geben würde. Sie sah, dass alles verkehrt war. In dem Moment, als sie den Knall hörte, sah sie José springen. Er schien aus dem Nichts zu kommen, er war plötzlich da und schützte Papa mit seinem Körper. Und dann lag er am Boden, und Papa beugte sich über ihn, ohne weiter auf die Amerikaner zu achten, und da war Blut an Papas Händen. Und Mama und Felipe knieten sich zu Papa, und Mama nahm die alte karierte Mütze ab, sodass ihr langes Haar auf ihre Schultern fiel und sie nicht länger aussah wie ein Mann. Aber wann nimmt jemand seine Mütze im Freien ab? Wenn jemand stirbt, dachte Marit. Dann.
Sie ließ Julia los und rannte.
Als sie bei José ankam, lag er in Mamas Armen. Überall war Blut, aber Marit sah das Blut nicht. Sie sah nur Josés Gesicht. Er bewegte die Lippen. Sie beugte sich ganz nah zu ihm.
»Vielleicht«, hörte sie ihn sagen, »bin ich jetzt … endlich … ein Held.« Damit schloss er die Augen. Da waren Blutspritzer auf seinen Augenlidern.
»Aber was nützt mir ein Heldenbruder, der nicht mehr bei mir ist?«, wisperte Marit.
»Sei nicht traurig«, flüsterte er, kaum noch verständlich. »Wir trennen uns ja nicht für ewig.«
»Gott! Woher kam der Junge?«, fragte Lindsey und ließ das Gewehr sinken.
Ben sah, dass er blass geworden war.
»Ist das der, den wir auf Santiago bewusstlos im Wald gefunden haben?«, fragte Parker.
»Das«, sagte Fernandez mit einer Würde, die beinahe unheimlich war, »ist mein Sohn.«
Er war auf dem Weg den Berg hinauf, ehe jemand ihn daran hindern konnte.
Keiner der drei dort oben machte Anstalten, zurückzuschießen. Sie knieten um den Jungen herum, und Ben sah, wie einer von ihnen die Mütze abnahm. Er erwartete beinahe, dass er sich bekreuzigte. Doch stattdessen schüttelte er den Kopf und da fiel ihm das lange helle Haar auf die Schultern hinab.
»Das ist … eine Frau«, sagte Parker. »Und da kommen zwei Kinder aus dem Wald. Kann es … kann es sein, dass es kein deutsches Militär ist, das wir auf dieser gottverdammten Insel gefunden haben, sondern etwas ganz anderes?«
Lindsey antwortete nicht. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah plötzlich alt aus. Ben stand auf.
»Mit Verlaub, Sir, ich …«, sagte er. Und dann rannte auch er den Weg hinauf, auf die kleine Gruppe von Leuten zu. Er musste etwas tun, irgendetwas. Er war an allem schuld. Vielleicht würden sie ihn erschießen, wenn er dort oben ankam. Er hatte nichts dagegen. Wenn der Junge tot war, sollten sie ihn ruhig erschießen. Er wusste, dass der Gedanke pathetisch war.
Als er bei ihnen ankam, griff niemand zur Waffe. Sie starrten ihn schweigend an, sechs Paar Augen, zu erstarrt, um irgendetwas zu tun. Fernandez hielt seinen Sohn im Arm. Seine Hände waren voller Blut.
Und auf einmal wusste Ben, was er tun musste. Was das einzig Richtige war. Er beugte sich über José und zerriss mit beiden Händen sein Hemd. Auch daran hinderte ihn niemand. Der Junge, der neben ihm kniete – oder war es ein Mädchen? –, sagte nur immer wieder: »Er war ein Held. Ein Held. Er war ein Held«, wie eine hängen gebliebene Langspielplatte.
Ben wischte mit dem Hemd das Blut von der Haut des Jungen, wischte und wischte wie ein Wahnsinniger und suchte die Einschusswunde. Er fand sie und presste den feuchten Stoff darauf, um die Blutung zu stillen. Als er aufsah, traf sein Blick den der Frau mit den Männerkleidern. Sie griff das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es.
»Er war ein Held«, sagte das Mädchen, ihre Augen fest auf das Gesicht des leblosen Jungen gerichtet. »Er war …«
»Jetzt hat es ein Ende mit dem Heldsein«, sagte die Frau. Und dann gab sie dem Jungen eine Ohrfeige. »Mach die Augen auf«, sagte sie. »Die Kugel steckt in deiner Schulter. Es blutet, aber es wird aufhören zu bluten. Du stirbst nicht. Hier wird nicht mehr gestorben. Es reicht.«
Als die Sonne an diesem Tag unterging, saß Marit in zu großen, aber sauberen Kleidern auf den Stufen der Veranda und dachte daran, wie sie in ebenfalls zu großen Kleidern auf der Treppe gesessen hatte, die zur Kajüte der Mariposa hinunterführte.
Damals waren es Casafloras Kleider gewesen, jetzt waren es die Kleider ihres Vaters. Früher hatten die Kleider ihres Vaters nach Kreide gerochen und nach dem Schimmel, der sich gern in alten Büchern festsetzte. Damals, als er noch Lehrer gewesen war. Ehe er Soldat geworden und mit einem Flugzeug über Frankreich abgestürzt und gestorben war. Ehe er sich in einem Holzschuppen in einen Geist verwandelt hatte und auf einer grünen Insel wieder begonnen hatte zu leben. Jetzt, in diesem neuen Leben, rochen seine Kleider nach Erde und nach Hühnermist, nach Orangen, nach Sonne und nach dem Saft frischer grüner Pflanzen.
Vielleicht war es nicht nur ein neues Leben, vielleicht war er ein ganz neuer Vater und Mama eine ganz neue Mama und Julia eine neue Julia.
Und ich?, dachte Marit.
»Worüber denkst du nach?«, fragte José, der neben ihr auf den Stufen saß.
»Darüber, ob ich jemand anders geworden bin«, antwortete Marit. »Hier, auf den Inseln.«
»Nein«, sagte José und schüttelte den Kopf. Seine Schulter war so dick verbunden, dass er sich kaum rühren konnte, und Marit wusste, dass er Schmerzen hatte, obwohl er nicht darüber sprach. »Nein, du wirst immer dieselbe unvernünftige alte Schwester bleiben.«
Hinter ihnen am Verandatisch waren die letzten komplizierten Erklärungen verebbt wie die Wellen eines pazifischen Sturms. Es hatte den ganzen Nachmittag und einen Gutteil des Abends gedauert. Aber inzwischen war selbst Jeff Lindsey nicht mehr der Überzeugung, das kleine Haus unter der Bougainvillea wäre eine verborgene deutsche Funkstation, die deutsche U-Boote über die Bewegungen amerikanischer Patrouillenschiffe informierte. Mama hatte ihnen allen ein Abendessen aus Maisfladen und Hühnerfleisch vorgesetzt, denn viel mehr gab es noch nicht auf der Farm, doch sie waren alle dankbar dafür gewesen. Jetzt saßen die Männer schweigend am Tisch und rauchten Zigaretten, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Marit zog die Nase kraus.
»José«, sagte Josés Vater.
José drehte sich um. Sein Vater hielt ihm eine Zigarette entgegen.
»Du wolltest immer ein Mann sein«, sagte er. »Nach allem, was du in den letzten Wochen offenbar erlebt hast … Ich schätze, du bist tatsächlich kein Kind mehr. Willst du mit uns rauchen?«
Marit sah den belustigten Ausdruck in den Augen der anderen. Jetzt, dachte sie, würde José ihnen zeigen, dass er sich durchaus mit Zigaretten auskannte. Doch José schüttelte den Kopf.
»Danke«, sagte er. »Aber eigentlich habe ich die Dinger nie gemocht. Sie schmecken scheußlich. Ich glaube, ich brauche sie nicht, um ein Mann zu sein.«
Die Amerikaner lachten. José zuckte nur die Schultern … die gesunde Schulter. Dann zog er sich mit dem heilen Arm am Geländer der Veranda hoch und ging in den Abend hinaus, um das Haus herum, dorthin, wo alles ruhig war und niemand über einen lachen konnte. Marit folgte ihm. Sie gingen bis zum Maisfeld, über dem jetzt keine blauen Schmetterlinge mehr flatterten. Die Schmetterlinge waren schlafen gegangen. Bald würde es ganz dunkel sein.
»Ich frage mich, was mit meinem Urgroßvater geschehen ist«, sagte José. »Wir werden es nie herausfinden, nehme ich an. Aber ich glaube … ich glaube, er ist hiergeblieben. Hier, auf der Insel, bei den Schmetterlingen. Er hat die Schatzkarte entziffert und die Süßwasserquelle gefunden und er war glücklich hier. Glücklicher als zu Hause, wo die Abuelita zu viele dunkle Geschichten erzählte von Geistern und Unaussprechlichen.«
»Ja«, sagte Marit. »Ja, er war bestimmt glücklich hier.«
José sah zum Abendhimmel hinauf.
»Sie haben gesagt, sie nehmen mich mit«, sagte José. »Ich werde fliegen. Nur ein kurzes Stück, aber ich werde fliegen.«
»Geh bloß nicht verloren da oben«, sagte Marit.
Eine Weile standen sie schweigend vor dem Mais.
»Weißt du, was ich glaube?«, flüsterte Marit. »Ich glaube, ich werde jetzt nicht mehr von Deutschland träumen.«
»Julia auch nicht mehr«, sagte José. »Sie muss dich ja nicht mehr suchen. Du bist angekommen.«
»Ja«, sagte Marit. Sie streichelte Carmen, die auf ihrer Schulter saß. Etwas raschelte zu ihren Füßen. Uwe. Er sah zu ihnen auf, schlug einmal mit dem zackenbewehrten Schweif und verschwand dann im Wald neben dem Maisfeld.
»Mach’s gut!«, wisperte Marit. »Und danke. Grüß Oskar, wenn du ihn triffst. Der ist schon weg. Und Chispa.«
Etwas kam aus dem Maisfeld gewatschelt, und selbst im Dämmerlicht sah Marit noch, dass es blaue Füße hatte.
»Loco«, sagte sie, »gehst du auch?«
Der Blaufußtölpel neigte den Kopf, breitete die Flügel aus und reckte den Hals schließlich nach hinten. Er trippelte ein paarmal nach links, ein paarmal nach rechts, beendete seinen Tanz mit einer Art Pirouette und flog auf. Marit sah ihm nach, wie er über die Bäume strich. Diesmal nicht, um jemanden zu holen. Diesmal verließ er sie.
»Da fliegt noch etwas«, sagte José. »Ist das ein Flamingo?«
Marit nickte. »Sieht so aus. Ich dachte immer, er wartet, bis er ein paar andere Flamingos findet. Aber jetzt fliegt er doch allein los. Warum ist er die ganze Zeit über bei uns geblieben? Warum macht er sich gerade jetzt auf den Weg?«
José lachte. »Vermutlich war die Suppe aus.«
Er ging ein Stück an dem seltsam geformten Maisfeld entlang. »Von jetzt an könnt ihr ganz gewöhnliche rechteckige Felder bebauen«, sagte er, »die von überall aus zu erkennen sind.«
Marit nickte. »Ich hätte nie gedacht, dass sie uns bleiben lassen. Aber es sieht ganz danach aus. Lindsey hat versprochen, sich für uns einzusetzen.«
Sie waren vor einem Streifen dunkler, frischer Erde stehen geblieben. Eine Handvoll violetter und weißer Bougainvillea-blüten lag darauf. Marit seufzte. Alles hätte so schön sein können, dachte sie. Alles hätte perfekt sein können. Aber hier, unter der Erde, lag Thomas Waterweg.
In seiner Tasche hatte ein alter Teddybär mit roter Schleife gewartet. Julia hatte den Bären gerettet, ehe sie Thomas in sein Grab gelegt hatten.
Marit hatte ihn so gehasst. Dafür, dass er ein Nazi war. Dafür, dass er ein deutscher Spion war. Dafür, dass er sie gezwungen hatte, Deutschland zu verlassen und neu anzufangen. Und vor allem dafür, dass er lebte und ihr eigener Vater tot war. Und nun war alles anders.
Waterweg war nie ein Nazi gewesen. Er hatte nur so getan. Unter dem Deckmantel seiner Uniform hatte er Menschen geholfen zu fliehen. Er war ein Nachtfalter gewesen, genau wie die Menschen, die Mama und Papa und Julia geholfen hatten, und dennoch hatte er nicht gewusst, dass Mama und Papa und Julia Hamburg je verlassen hatten. Der Krieg hatte zu viel Chaos mit sich gebracht, zu viel Verwirrung, und die Nachtfalter hatten den Kontakt zueinander verloren.
Die Deutschen hatten geglaubt, Thomas Waterweg wäre ein deutscher Spion gewesen. Casaflora hatte es geglaubt. Das war der Plan gewesen. Aber dass es am Ende auch Jeff Lindsey geglaubt hatte, hatte nicht zum Plan gehört. Thomas war nie ein deutscher Spion gewesen. Seine Mission hatte darin bestanden, herauszufinden, ob es einen deutschen Spion auf Baltra gab. Sie hatten es lange vermutet. Und es hatte einen gegeben. Casa-flora.
Und nun waren sie beide tot. Casaflora besaß kein Grab. Mama hatte darauf bestanden, ein Holzkreuz für ihn zusammenzunageln und neben das von Thomas Waterweg in die Erde zu stecken.
Marit spürte, dass etwas an ihrem Ärmel hinabkletterte, danach an ihrem Hosenbein … »Carmen«, sagte sie. »Natürlich. Du musst gehen. Wie ihr alle. Ich werde dich vermissen.«
Carmen blickte sich nicht um. Sie verschwand zwischen den Maispflanzen, als wäre sie nie eine zahme Ratte gewesen.
Marit seufzte ein zweites Mal und wandte sich wieder dem frischen Grab zu.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich so gehasst habe, Tom. Es war nicht fair. Aber warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Warum hat nie irgendwer irgendwem die Wahrheit gesagt? José hätte dir sagen können, dass die Karte im Krater des Vulkans liegt. Du hättest ihm sagen können, dass du nicht auf der Seite der Deutschen bist. Ich hätte ihm sagen können, wer ich bin, und Mama hätte mir von Anfang an sagen können, was sie vorhatte, damals, in Hamburg … und all diese Missverständnisse wären nie in die Welt gekommen. Und diese ganze Geschichte wäre nie, niemals geschehen!«
José holte Luft. Sie erwartete, dass er sagen würde: »Aber dann hätten wir uns nie, niemals getroffen.« Doch er sagte etwas anderes.
Er sagte: »Sieh nur. Auf dem Dach. Der Albatros.«
Marit drehte sich um. Tatsächlich – irgendwie hatte Kurt es geschafft, über die Veranda und die Ranken der Bougainvillea aufs Dach zu klettern. Jetzt stand er auf dem schmalen First und seine weißen Federn leuchteten im letzten Licht des Tages. Er sah zu ihnen hinunter, und es schien Marit, als nickte er. Dann breitete er seine riesigen Flügel aus, schlug ein paarmal damit und rannte über die Kletterpflanzen die Dachschräge hinunter. Am Rand des Daches warf er sich vorwärts, in den leeren Raum, ruderte mit den Flügeln wie ein ertrinkender Schwimmer, fiel ein Stück, fing sich – und dann packte ein warmer Aufwind ihn, und er stieg empor, sammelte den Wind unter seinen schmalen, schwertförmigen Schwingen, segelte hinein in den Abendhimmel: nicht länger ungeschickt und plump, sondern elegant. Großartig. Majestätisch.
Frei.