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Burg Camelot war vom Turm bis zum Burggraben mit silbernen Bannern und bunten Ballons geschmückt. Die Sonne schien und über die Wiese vor der Burg wehte die Musik zahlreicher Spielmänner und Troubadoure, die die Menge mit Geschichten von tapferen Rittern und deren Heldentaten zu erfreuen hofften. Leuchtend bunte Buden waren rings um die Wiese aufgebaut, und es gab eine Menge Zeug zu kaufen: Narrenkappen, Kupferkessel, Tränke im Glas, kostbar verzierte Schwertscheiden, gebratene Rattenschwänze und Spielzeugbesen.
Ritter und Hofdamen schlenderten umher. Und überall wuselten Kinder, Drachen, Hunde und andere kleine Tiere durch die Menge und liefen jedem vor die Füße.
Über dem Burgtor verkündete ein riesiges Banner: Jährliches Festival der Magie.
»Mmmmh, Spanferkel«, sagte Max und sog den Duft von Gebratenem ein, der von zahlreichen Grillfeuern aufstieg. Er, Olivia und ihre Eltern schoben sich auf das Burgtor zu, mit Adolphus an der kurzen Leine. Weil Sir Bertram ein entfernter Vetter von König Artus war, hatten sie Zimmer in der Burg. Insgeheim aber beneidete Max die Familien, die ihre bunten Zelte außerhalb der Burg aufgebaut hatten und den Sonnenschein genossen.
Als sie das Burgtor erreichten, versperrten ihnen zwei ziemlich mürrisch aussehende Wachmänner den Weg.
»Passierschein, bitte«, sagte einer von ihnen gelangweilt und streckte die Hand aus.
»Passierschein?«, grollte Sir Bertram. »Passierschein?! Seht ihr denn nicht, wer ich bin, ihr nichtsnutzigen, schändlichen Söhne einer Küchenmagd? Was soll das heißen – Passierschein?«
Der Wächter sah auf und blinzelte.
»Oh – äh – Sir Bertram – guten Tag«, sagte er verdattert. »So lauten die Befehle, fürchte ich. Alle Besucher müssen ihren Passierschein zeigen. Keinerlei Ausnahmen. Wir haben doch den jungen Prinzen hier, wisst Ihr – den Sohn des Kornischen Königs.« Er senkte die Stimme. »Es ist von einer Verschwörung die Rede. Man wolle ihn entführen, während er hier ist. Das würde natürlich Krieg bedeuten – wo dem Kornischen König doch jeder Anlass recht ist, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Und wenn dem jungen Prinzen etwas zustieße, während er unter dem Schutz des Königs steht, na ja, das wäre dann besagter Anlass …«
»Wenn es Euch also nichts ausmacht«, sagte der andere Wächter und streckte die Hand aus. »Passierschein, bitte.«
Er wich einen Schritt zurück, als Sir Bertram sichtlich anschwoll. Doch bevor Sir Bertram Gelegenheit hatte, auch noch die Farbe einer reifen Tomate anzunehmen (der kritische Moment, wie Max wusste), zog Lady Griselda ein cremefarbenes Stück Pergament aus ihrem Kleid und überreichte es dem Wächter.
»Das, denke ich, wird genügen«, säuselte sie. »Stell dich nicht so an«, fügte sie, an ihren Mann gewandt, hinzu. »Du weißt, dass sie besonders vorsichtig sein müssen.«
»Völliger Unfug«, murmelte Sir Bertram. »Eine verdammte Unverschämtheit ist das, sage ich. Quatsch und Kokolores!« Dennoch ließ er die Wachmänner den Passierschein überprüfen, bevor er Frau und Kinder in die Burg und die Treppen hinauf zu ihren Gemächern im Nordturm scheuchte.
Lady Griselda wurde gleich geschäftig, packte Kessel, Zauberzeug und ihre schönsten Kleider aus. Sir Bertram hingegen dampfte ab, um mit ein paar Freunden Stürz-den-Becher zu üben, einen Trinkwettbewerb, den Sir Bertram üblicherweise gewann. Max zwinkerte Olivia zu und die beiden halfen auf möglichst ungeschickte Weise beim Auspacken. Dabei stellten sie so viele nervige Fragen wie möglich. Derweil segelte Adolphus durch den Raum, wobei er sich immer wieder in den Wandteppichen verhedderte. Nach fünf Minuten hatte Lady Griselda genug.
»Oh, du meine Güte! Könnt ihr wohl verschwinden? Geht meinetwegen euren Zauber üben, aber lasst mich in Frieden! Allein werde ich schneller fertig! Und nehmt bloß diesen verflixten Drachen mit!«
»Danke, Mama«, sagte Max, ließ erleichtert einen Stapel Kleider fallen, und schon waren sie auf der Wendeltreppe, einen von Stufe zu Stufe rutschenden Adolphus im Schlepptau.
Sie machten sich gleich zum Westflügel auf, wo, wie sie wussten, immer ein paar Zimmer leer standen. Merlin lebte in diesem Teil der Burg. Die meisten Gäste wollten jeglichen Kontakt mit dem mächtigen Zauberer vermeiden. Max jedoch fand alles, was ihm je über Merlin zu Ohren gekommen war, genial. Jedes Mal, wenn er hier war, hoffte er, dem Zauberer zu begegnen und ihn kennenzulernen. Leider war es nie dazu gekommen.
»Okay«, sagte Max, nachdem sie sich in einem kleinen, im vierten Stock gelegenen Raum mit schmalen Fenstern breit gemacht hatten. Bis auf ein paar alte Gobelins und Möbelstücke war der Raum leer. »Zeit, das Gegenmittel auszuprobieren.«
Am Tag zuvor hatten sie sowohl den Umkehrzauber als auch den Froschzauber gemixt. Sie hatten jedoch keine Zeit mehr gehabt, die Tränke vor ihrer Abreise nach Camelot noch auszuprobieren. Der Zauberer-Nachwuchs-Wettbewerb sollte am nächsten Tag stattfinden, am Ende des Festivals. Es blieben ihnen also noch anderthalb Tage, um ihren Auftritt zu proben.
»So«, sagte Max und streifte sich einen seiner Jagdhandschuhe über die rechte Hand. »Du stellst dich da vorn hin, in die Mitte des Raums …«
»Bitte, was?« Olivia tat überrascht. »Du willst das an mir ausprobieren?«
»An dir, natürlich«, sagte Max betont gelassen. »Schließlich bist du meine Assistentin und schließlich probieren nicht die Zauberer, sondern ihre Assistentinnen die Zaubertränke aus.«
»Ach ja?« Olivia verschränkte entschlossen die Arme. »Aber da du gar kein richtiger Zauberer bist, Max, und ich dir ohnehin schon einen großen Gefallen tue, morgen deine Assistentin zu spielen, solltest heute du an der Reihe sein, den Trank auszuprobieren. Ich werde mich jedenfalls nicht in einen rosa Elefanten mit grünen Punkten verwandeln lassen, nur weil du wieder die Zutaten durcheinandergebracht hast. Nein, danke!«
Max seufzte. Das war das Dumme an kleinen Schwestern. Eine Zeit lang waren sie ganz in Ordnung und fast bekam man den Eindruck, man könnte ihnen vertrauen. Und dann ließen sie einen im entscheidenden Moment im Stich. Zum Teufel! Dann würde er den stinkenden Trank eben selbst schlucken müssen.
»Nun denn«, sagte er, zog den Handschuh wieder aus und reichte ihn Olivia zusammen mit einer durchsichtigen grünen Glasflasche an einer Kette. »Hier sind das Gegenmittel, um mich zurückzuverwandeln, und ein Handschuh. Den trägst du, wenn du den Froschzaubertrank anfasst. Wir wollen ja nicht, dass du dich versehentlich in einen Frosch verwandelst, oder?«
Vorsichtig zog er eine kleine blaue Flasche aus seiner Gürteltasche und schüttelte dabei zugleich Grimm aus seiner Tunika.
»Oh!«, rief Grimm, als er auf den Fußboden plumpste. »Sag bloß nicht, dass du dich freiwillig in einen Frosch verwandeln willst! Als hättest du beim letzten Mal nicht genug Chaos gestiftet. Manche Leute lernen es nie.«
»Weißt du, manchmal sehne ich mich nach der Zeit zurück, als ich dich noch nicht verstehen konnte, Grimm«, seufzte Max. »Das hier ist wichtig. Es wird mir für alle Zeit den Schwertkampf ersparen und vielleicht sogar einen Arm retten, den mir Papa in einem seiner verrückten Momente sonst abschlagen würde. Außerdem wird Adrian Hogsbottom Dreck fressen, wenn er es sieht.«
»Und es wird Spaß machen!«, rief Adolphus aufgeregt. »Wuuusch wird Max machen! Mit Sternchen!«
»Oh, ja, natürlich. Weckt mich, wenn das Gegenmittel nicht wirkt. Ich werde dann in Erwägung ziehen, Max einen dicken feuchten Rattenschmatz zu verpassen.«
Grimm rollte sich hinter einem Wandteppich zusammen und schlief wieder ein.
»Also«, sagte Max und holte tief Luft. »Zieh dir den Handschuh über und streck die Hand aus.« Er schüttete etwas blaue Schmiere in Olivias behandschuhte Handfläche und verstaute die Flasche wieder in seiner Gürteltasche.
Olivia warf Max die blaue Schmiere ins Gesicht.
BÄNG!
Er verschwand und auf dem Boden saß nun ein kleiner orangefarbener Frosch mit blauen Punkten.
»Uuuumpfff«, machte er. »Ich hatte vergessen, was für ein komisches Gefühl das ist.«
»Okay«, sagte Olivia. »Das hat schon mal funktioniert. Und jetzt das Gegenmittel.«
Sie entkorkte die grüne Flasche und wollte gerade ein paar Tropfen auf Max schütten, als die Tür aufging und eine laute, schnarrende Stimme sie unterbrach.
»Na, wenn das nicht die kleine Olivia Pendragon ist! Und ganz allein! Wie schön, dich wiederzusehen. Und wo steckt dein nichtsnutziger Bruder?«
Der Junge war groß und blass. Er hatte stachelige schwarze Haare und einen höhnischen Ausdruck. Hinter ihm stand ein kleiner, stämmiger Junge mit rotem Haar und einem Mopsgesicht. Er schielte ein bisschen und sah gemein aus.
»Oh … hallo, Adrian«, sagte Olivia nervös, korkte die grüne Flasche wieder zu und hängte sie sich schnell um den Hals. »Was machst du denn hier?«
In der Hoffnung, Max würde die Gelegenheit nutzen und unter ihr Kleid hüpfen, schob sie sich vor ihn. Aber die Bewegung ließ Adrian Hogsbottom aufmerksam werden. Er stürzte sich auf den Fußboden.
»Aha!«, sagte er, als er wieder auftauchte, den orangefarbenen Frosch fest im Griff. »Was für eine herrliche Kreatur. Dein Haustier, Olivia?«
»Äh, ja«, sagte Olivia. »Gib ihn mir wieder, bitte! Ich muss – äh – aufs Zimmer zurück! Meiner Mutter helfen.«
»Oh, sicher, natürlich«, quäkte Adrian gelangweilt. »Aber weißt du, erst habe ich ein paar Fragen an dich. Und wie es aussieht, gebe ich dir den Frosch nur zurück, wenn du sie auch beantwortest. Stimmt’s, Jakob?«
Der kleinere Junge nickte und kam näher. Olivia war plötzlich umzingelt. Adolphus, der nicht recht wusste, wie er die Situation einordnen sollte, und erst mal zwischen den Füßen der beiden Jungen herumgeschnüffelt hatte, beschloss nun, dass sie nett waren, und ging fröhlich mit dem Schwanz wedelnd ein paar Kellerasseln suchen.
»Okay«, sagte Olivia und versuchte, nicht allzu besorgt zu klingen. »Was willst du wissen?«
»Ich will wissen, wo dein verflixter Bruder steckt und was für einen Zauber er ausbrütet. Ich will alles über diesen Zauber wissen, weil ich nämlich dafür sorgen werde, dass er morgen nicht gewinnt. Für den passenden Gegenzauber muss ich alles wissen, kapiert?« Adrians gemeines Gesicht kam Olivias ganz nah. Er winkte mit dem Frosch.
Trotz Adrians Zangengriff strampelte Max wütend mit den Hinterbeinen. Kein Wunder, dass sein Eimerzauber im letzten Jahr nicht funktioniert hatte! Adrian hatte einen Gegenzauber verwendet. Dieser miese, dreckige, schummelnde Schleimbeutel!
»Das sage ich nicht!«, rief Olivia zornig. »Du gemeiner Betrüger! Warum sollte ich meinen eigenen Bruder verraten?«
»Weil«, sagte Adrian genüsslich, »ich sonst gezwungen bin, deinen Frosch in den Burggraben zu werfen. Da drin lebt ein zwei Meter langer Hecht, habe ich gehört.«
Er ging zum Fenster und streckte seinen Arm hinaus. Tief unten lag der Burggraben. Olivia sah, dass Max wie irre seinen Froschkopf schüttelte. Aber hieß das: Sag ihm nichts! Lieber sterbe ich! Oder hieß das: Nein, ich will nicht in den Burggraben. Sag ihm alles! Ich habe keinen Stolz!
Olivia seufzte.
»Okay, du hast gewonnen. Er will …«
Der Frosch quakte laut und strampelte wild mit den Beinen.
»… mir ein lila Gesicht zaubern«, beendete Olivia den Satz. Max seufzte vor Erleichterung. Leider währte die nicht lange.
»Lila?«, spottete Adrian. »Was für ein Schwachkopf! Das ist der einfachste Zauber im ganzen Buch. Ehrgeiz hat er wohl gar keinen, was? Na, danke jedenfalls«, fügte er wie nebenbei hinzu und ließ den Frosch los, der wie ein Stein fünfzehn Meter tief aufs graue Wasser zustürzte.
»Du verlogener Schleimbeutel!«, kreischte Olivia und wollte sich schon auf Adrian werfen, aber Jakob hatte sie schneller gegen die Wand gedrückt, als man »abgesoffener Frosch« hätte sagen können. Kichernd ging Adrian an ihr vorbei.
»Oh, er ist mir aus der Hand gerutscht. Aber warum Theater machen um einen alten Frosch? Im Ententeich der Burg gibt es noch jede Menge.«
Im Vorbeigehen bespritzte Adrian sie mit ein paar Tropfen aus einem Flakon, der an seinem Gürtel hing. Plötzlich konnte Olivia weder ihre Arme noch ihre Beine bewegen. Sie rutschte die Wand hinab, bis ihr Hintern mit einem Plumps auf dem Boden landete. Mit einem schallenden Lachen verließen die Jungen den Raum.
»Los, Jakob«, hörte sie Adrian noch sagen, bevor die Tür zuschlug. »Jetzt üben wir noch ein bisschen Schwertkampf, und dann wird es Zeit, dieses Balg aus der Burg zu schaffen. Für Vater.«