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Der Burgraben war unheimlich tief und dunkel. Max tauchte kopfüber ein. Oben und unten konnte er allerdings nicht mehr unterscheiden, nachdem er mit fuchtelnden Armen und Beinen aus dem Fenster gestürzt war. Erst bekam er Panik. Aber dann fiel ihm ein, dass er ein Frosch war und eine halbe Ewigkeit lang den Atem anhalten konnte. Also entspannte er sich.
Er sank jetzt nicht mehr tiefer, sondern trieb langsam wieder Richtung Oberfläche. Er hatte nicht nur den Sturz überlebt, stellte er fest, es war sogar ganz nett hier unten.
Weit sehen konnte er im grünlichen Dämmerlicht des Wassers zwar nicht, ein paar kleine silbrige Fische aber konnte er immerhin ausmachen. Und wenn er sich anstrengte, ließ sich sogar die Burgmauer erkennen.
Max schwamm zu ihr hinüber und überlegte. Die Mauer ragte steil auf und war sehr glatt. Er suchte nach einem Halt für seine Füße, aber die rutschten bloß ab. Er schwamm weiter, bis er schließlich einen Mauerspalt entdeckte, der ziemlich tief und vielversprechend aussah. Er steckte ein Vorderbein in den Spalt und hoffte, genug Halt zu finden, um sich hochziehen zu können.
Aua!
Etwas in dem Spalt hatte ihn gebissen! Max schielte hinein und entdeckte etwas, das gefährlich nach einem erbosten, Scheren schwingenden Flusskrebs aussah. Eilig schwamm Max weiter. Die Lage wurde langsam ernst. Er könnte es auf der anderen Seite versuchen, aber da würde es auch nicht anders aussehen, und an der Oberfläche fände er sich bloß außerhalb der Burgmauern wieder, ohne Aussicht, zurück durch das Fenster zu klettern – zu Olivia und dem Gegenmittel.
Plötzlich hörte Max ein sonderbares Rauschen und ein Schwarm kleiner Fische schoss an ihm vorbei. So schnell, als schwämmen die Fische um ihr Leben. Dann wurde Max bewusst, dass sie womöglich wirklich um ihr Leben schwammen. Es folgte eine Woge und dann wurden im trüben Wasser die schwarzen Umrisse von etwas Großem, Gefährlichem sichtbar. Was hatte Adrian gesagt, als er Max aus dem Fenster gehalten hatte? Auf einmal kehrten die Worte mit aller Deutlichkeit zu Max zurück: Da drin lebt ein zwei Meter langer Hecht … Hechte sind, wie Max sehr wohl wusste, brutale Jäger – große, gemeine Süßwasser-Räuber und für einen Fluss das, was der weiße Hai fürs Meer ist. Für ein großes Exemplar wie dieses wäre ein Frosch bloß ein Happs.
Max tauchte ab – in der verzweifelten Hoffnung, dass der Hecht zu sehr auf den Fischschwarm fixiert wäre, um einen einsamen kleinen Frosch zu bemerken. Unglücklicherweise erregte eben diese Bewegung die Aufmerksamkeit des Hechts. Der Räuber warf sich herum, nahm Witterung auf und jagte Max nach.
Olivia kochte vor Wut, aber gewissermaßen waren ihr die Hände gebunden. Sie konnte nicht einmal einen Finger rühren. Aber sprechen konnte sie noch.
»Grimm!«, fluchte sie. »Wo steckst du, du nutzloser Feigling? Warum hast du dich nicht in ihren Knöcheln verbissen oder so?! Adolphus! Nie zuvor hat ein derart schwachköpfiger Drache auf Erden gelebt! Los, versenge ihnen die Augenbrauen!«
Adolphus kehrte hoppelnd von der Asseljagd zurück.
»Oh, tut mir leid«, sagte er. »Hast du mich gebraucht?«
Grimm tauchte gähnend hinter dem Wandteppich auf.
»Hat mich wer gerufen?«
»Ja!«, sagte Olivia frustriert. »Adrian Hogsbottom hat Max in den Burggraben geworfen und ich kann nicht einen Finger rühren. Adrian hat mich beim Rausgehen verzaubert.«
»Aha«, sagte Grimm hochmütig. »Läuft nicht so gut, was?«
»Grimm! Du musst in den Burggraben springen und Max suchen. Adolphus kann das nicht. Er passt nicht durch diese schmalen Fenster.«
»Und außerdem habe ich Höhenangst«, fügte Adolphus fröhlich hinzu.
»Sieh zu, dass du ihn findest, bevor der Hecht ihn sich schnappt. Dann sucht ihr euch einen Weg zurück nach hier oben und Max kriegt das Gegenmittel.«
»Ach! Und das ist schon alles?«, sagte Grimm und zog die Nase kraus. »Bloß mal eben in die hechtverseuchten Fluten springen, einen kleinen orangefarbenen Frosch auftreiben und ihn vier Stockwerke hoch in Sicherheit bringen, ohne dabei zertrampelt zu werden. So läuft es jedes Mal, nicht wahr? Der gute alte Grimm eilt zu Hilfe. Schon ist er wieder unterwegs und riskiert Leib und Leben. Ist klar.«
Dennoch krabbelte Grimm zum Fenster hinauf und stürzte sich ins Nichts, um ein paar Sekunden später mit einem lauten Platsch im Burggraben zu landen.
»Gut«, sagte Olivia. »Hoffen wir, dass er Max findet und keiner von beiden vom Hecht gefressen wird. Jetzt müssen wir bloß noch dafür sorgen, dass ich mich wieder bewegen kann. Kommst du an die kleine grüne Flasche mit dem Umkehrzauber, Adolphus?«
Adolphus sprang fröhlich herum und suchte nach der Flasche.
»Grüne Flasche? Ja, ja, hol ich. Adolphus eilt zu Hilfe – jippie! Umkehr … mmh – Flasche, Zauber – äh – sehe ich nicht … Was für eine Farbe noch mal?«
Doch in diesem Moment knarrte die schwere Eichentür. Ein großer, grimmig schauender Mann in einem langen grauen Mantel trat ein und blieb überrascht stehen.
»Beim Zahn des Drachen! Was machst du in meinem Zimmer, junge Lady?«
»Äh, tut mir leid«, sagte Olivia und versuchte, sich irgendwie gerade hinzusetzen. »Ich wusste nicht, dass es Euer Zimmer ist, gnädiger Herr.«
»Genau! Tut uns leid, tut uns leid, tut uns leid«, sagte Adolphus, dem der gebieterisch wirkende Mann ebenso Furcht einflößte.
Der Mann sah sie beide scharf an und nahm dann in einem großen Eichenstuhl an der Tür Platz. Sein kastanienbraunes Haar hatte graue Strähnen und um seine Augen lagen Falten. Doch sein Blick war hart und klar, wie der eines Vogels. Unter dem Mantel trug er dunkle Beinlinge und eine graue Tunika. Von seinem schlichten breiten Ledergürtel baumelte ein Schwert.
»Nun«, sagte er schließlich. »Wie es aussieht, hat man dich verzaubert, junge Lady. Zuallererst sollte ich dich also wohl befreien.«
Mit den langen eleganten Fingern seiner rechten Hand machte er eine Geste und auf einmal konnte sich Olivia wieder rühren. Sie stand auf, machte zum Dank einen Knicks und der Mann nickte zurück.
»Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Ich bin Merlin und das ist mein Zimmer. Normalerweise schließe ich es ab. Ich bin etwas überrascht, dass du dennoch hier bist. Bist du allein gekommen?«
»Nein, Euer Lordschaft«, sagte Olivia. Merlin sah überhaupt nicht so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie diesen großen, grimmigen Mann sogar schon mal gesehen, ihn aber für einen der vielen Ritter des Königs gehalten. »Mein Bruder Max war auch dabei. Wir wussten nicht, dass es Euer Zimmer ist. Wir wollten in Ruhe für den Wettkampf morgen üben.«
»Aha. Also ist dein Bruder ein Zauberschüler«, sagte Merlin nachdenklich. »Und wer bist du?«
»Lady Olivia Pendragon. Und das ist Adolphus.«
»Erfreut, euch kennenzulernen«, sagte Merlin. »Nun, wenn du schon durch einen Zauber bewegungsunfähig gemacht wurdest, gehe ich dann richtig in der Annahme, dass deinem Bruder etwas noch Unangenehmeres zugestoßen ist?«
»Ähm, also, er ist jetzt ein Frosch«, sagte Olivia unsicher.
»Er wurde in einen Frosch verwandelt?«, fragte Merlin. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Also, nicht ganz«, sagte Olivia und rang die Hände. Wie viel sollte sie dem Zauberer erzählen? Sie sah zu seinen stechend grauen Augen auf und entschied, es am besten mit der Wahrheit zu versuchen. »Er hat einen Zauber erfunden, mit dem man Menschen in Frösche verwandeln kann«, sagte sie schnell. »Den haben wir geübt. Dann ist Adrian Hogsbottom gekommen und hat den Frosch in den Burggraben geworfen, ohne zu wissen, dass der Frosch Max ist. Und mich hat er verzaubert, damit ich es niemandem erzählen konnte. Und, bitte, wir müssen Max unbedingt finden. Wenn der Hecht ihn nicht schon gefressen hat. Und jetzt ist auch noch Grimm da unten – das ist Max’ Ratte. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert!«
Zu ihrem Ärger war Olivia kurz davor, loszuheulen. Ihre Stimme bebte. Adolphus leckte tröstend ihre Hand. Olivia seufzte tief und schaute Merlin an. Er sah sehr nachdenklich aus in seinem großen Stuhl, das Kinn in die Hände gestützt.
»Interessant«, murmelte er, eigentlich mehr zu sich selbst. »Natürlich sind die Pendragons alles in allem eine sehr magische Familie. So, so. Ich sollte den jungen Max kennenlernen. Ich sollte ihn unbedingt kennenlernen. Aber zuerst einmal müssen wir ihn finden.«
Er erhob sich, ging zum Fenster und sah auf das graue Wasser des Burggrabens hinab. »Wohlan –«
Ein lautes Klopfen unterbrach ihn und beinahe sofort wurde die Tür aufgerissen. Olivia verschlug es den Atem, als sie begriff, dass es der König war, der ins Zimmer gestürmt kam.
Artus war groß, hatte glattes, dunkles Haar und eine sorgenvolle, unglückliche Miene. Er warf ihr einen zerstreuten Blick zu und wandte sich dann gleich an Merlin.
»Merlin!«, platzte er heraus. »Der Prinz ist verschwunden! Wir haben sein ganzes Quartier durchsucht – Sir Gareth sucht jetzt in den restlichen Teilen der Burg – aber er ist einfach verschwunden! Wir dachten, er wäre bei seiner Mutter, seine Mutter dachte, er wäre bei seiner Amme – wie es scheint, hat ihn seit heute Morgen niemand gesehen!«
Merlin legte die Stirn in Falten. »Wer weiß davon?«
»Ich selbst, Sir Gareth und Ihr … Seine Mutter glaubt, er spielt mit den Jungs von Sir Gareth – und dabei muss es auch bleiben. Wenn herauskommt, dass er verschwunden ist …«
»… gibt es Krieg«, sagte Merlin düster. »Wir müssen es für uns behalten. Wir dürfen keinen Alarm auslösen. Nicht mal die Wachen können wir in Bereitschaft versetzen. Aber wir werden ihn finden – er muss in der Burg sein. Ich habe die Burgmauern mit einem Bann belegt. Niemand könnte diesen Zauber durchbrechen, es sei denn –«, er hielt inne und zuckte mit den Schultern, »Eure Schwester, Lady Morgana le Fay – wann wird sie erwartet?«
Artus zog die Augenbrauen hoch. »Heute Abend, soweit ich weiß. Warum? Glaubt Ihr, wir brauchen ihre Hilfe?«
Merlin lachte kurz auf. »Ich hoffe nicht. Besser, ich finde den Prinzen, bevor sie eintrifft, mein König. Aber wir müssen uns beeilen.«
Artus nickte und verließ den Raum. Merlin wandte sich wieder Olivia zu. »Ich fürchte, du musst deinen Bruder allein suchen, kleine Lady. Viel Glück. Aber ich warne dich – du darfst niemandem erzählen, was du hier gehört hast. Diese Nachricht darf nicht an die falschen Ohren dringen. Also kein Wort!«
Er warf ihr einen strengen Blick zu, dann rauschte er davon, dem König hinterher. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Einen Moment lang verharrte Olivia in Gedanken.
»Adolphus?«, sagte sie schließlich. »Weißt du noch? Hat Adrian nicht irgendwas über ein Balg gesagt, das sie aus der Burg schaffen müssten?«