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James überlegte sich, daß Widerspruch in diesem Augenblick ganz gewiß nicht angebracht war, und so ging er zum Sofa und kniete neben dem Tausendfüßler nieder.
«Vielen Dank, das ist sehr liebenswürdig von dir», sagte Tausendfüßler.
«Du hast sehr viele Stiefel», murmelte James.
«Ich habe sehr viele Beine», antwortete Tausendfüßler stolz. «Und sehr viele Füße. Einhundert, um genau zu sein.»
«Jetzt fängt er schon wieder damit an!» sagte Regenwurm und ließ sich zum erstenmal vernehmen. «Er kann es einfach nicht lassen, er muß mit seinen Beinen angeben! Er hat nicht im entferntesten hundert Beine! Er hat bloß zweiundvierzig! Das dumme ist eben, daß die meisten Leute sich nicht die Mühe machen, sie mal nachzuzählen. Sie verlassen sich einfach aufsein Wort. Außerdem ist es gar nichts Großartiges, so viele Beine zu haben, weißt du, Tausendfüßler.»
«Der arme Bursche», flüsterte Tausendfüßler James ins Ohr. «Er ist blind, und deshalb kann er nicht sehen, wie hübsch ich bin.»
«Meiner Meinung nach ist es viel großartiger, wenn man überhaupt keine Beine hat und trotzdem laufen kann», sagte Regenwurm.
«Das nennst du laufen?» antwortete Tausendfüßler. «Du bist bloß ein Rutscher, und sonst gar nichts. Du kriechst bloß so dahin.»
«Ich gleite!» antwortete Regenwurm würdevoll.
«Du bist ein glitschiges Ding», sagte Tausendfüßler.
«Ich bin kein glitschiges Ding. Ich bin ein sehr nützliches Geschöpf, das alle gern haben. Frag nur jeden Gärtner. Und du, du bist...»
«Ich bin eine Landplage!» verkündete Tausendfüßler grinsend und schaute sich Zustimmung heischend um.
«Er ist so stolz darauf, ich begreife bloß nicht, warum», erklärte Marienkäferchen nachsichtig und lächelte James zu.
«Ich bin die einzige lästige Landplage hier!» rief Tausendfüßler und grinste noch immer. «Grashüpfer zählt nicht mehr. Er ist viel zu alt, als daß er noch eine lästige Landplage sein könnte.»
Grashüpfer richtete seine dicken schwarzen Knopfaugen auf Tausendfüßler und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. «Junger Mann», sagte er mit tiefer, verächtlicher Stimme und sehr betont. «Ich war noch nie im Leben eine lästige Landplage. Ich bin Musiker.»
«Ganz richtig», nickte Marienkäferchen.
«James», sagte Tausendfüßler. «Du bist doch James, nicht wahr?»
«Ja.»
«Also, James, hast du schon jemals solch einen kolossal großartigen Tausendfüßler wie mich gesehen?»
«Nein», versicherte James. «Wie bist du bloß so riesengroß geworden?»
«Das ist eine sehr eigentümliche Geschichte», sagte Tausendfüßler. «Wirklich sehr, sehr eigentümlich. Ich will dir erzählen, wie das passiert ist. Ich stöberte im Garten unter dem alten Pfirsichbaum herum, und da kroch plötzlich ein komisches kleines grünes Ding dicht vor meiner Nase vorbei. Es war leuchtend grün und wunderschön, und es sah wie ein winziger Stein aus oder wie ein Kristall...»
«Ich weiß, was das war!» unterbrach James aufgeregt.
«Mir ist es genauso ergangen», warf Marienkäferchen ein.
«Mir auch!» sagte Spinne. «Plötzlich wimmelte es überall von kleinen grünen Dingern.»
«Ich habe eins verschluckt!» verkündete Regenwurm stolz.
«Ich auch», sagte Marienkäferchen.
«Ich habe drei gefressen!» sagte Tausendfüßler. «Und wer erzählt diese Geschichte? Ihr oder ich? Unterbrecht mich nicht dauernd!»
«Es ist zu spät zum Geschichtenerzählen. Es ist Zeit zum Schlafengehen», sagte Grashüpfer.
«Ich denke nicht daran, in meinen Stiefeln zu schlafen!» widersprach Tausendfüßler. «Wieviel habe ich jetzt noch an, James?»
«Ich schätze, ich habe schon zwanzig herunter», sagte James.
«Dann sind noch immer achtzig übrig», sagte Tausendfüßler.
«Zweiundzwanzig, nicht achtzig! Jetzt lügt er schon wieder!» entrüstete sich Regenwurm.
Tausendfüßler schüttelte sich vor Lachen.
«Regenwurm nimmt alles ernst, was du sagst, also hör auf, ihm dauernd ein Bein zu stellen», mahnte Marienkäferchen sanft.
Darüber mußte Tausendfüßler so lachen, daß er beinahe platzte. «Ein Bein stellen!» keuchte er. «Welches von meinen hundert Beinen soll ich dir stellen? Du darfst dir eins aussuchen, Regenwurm!»
Tausendfüßler gefiel James. Er machte sich offensichtlich gern über seine Gefährten lustig, aber er war wirklich witzig, und es tat gut, mal jemanden lachen zu hören. In all den langen Jahren bei Tante Schwamm und Tante Zinke hatte James niemals irgend jemanden lachen hören. Und er selbst hatte auch niemals Grund zum Lachen gehabt.
«Wir müssen endlich schlafen gehen», sagte Grashüpfer. «Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns. Würdest du bitte so gut sein und die Betten machen, Spinne?»