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Jedermann, der einmal eine Wüste durchreist hat, weiß, daß die Sonnenuntergänge dort von ganz besonderer Pracht sind. Der Abendhimmel strahlt in allen Farben, vom feurigsten Orange bis zum zartesten Rosa, Hellgrün und Violett.
Lukas und Jim saßen auf dem Dach ihrer Lokomotive und baumelten mit den Beinen. Dabei aßen sie die Reste aus dem Proviantkorb auf und tranken den letzten Tee aus der goldenen Thermosflasche.
„Jetzt gibt's nichts mehr, bis wir neuen Proviant finden", meinte Lukas sorgenvoll.
Die Hitze hatte etwas nachgelassen. Es war sogar ein leichter Wind aufgekommen, der beinahe kühl über sie hinstrich. Die Luftspiegelungen waren verschwunden, außer einer einzigen, die sich hartnäckig noch eine Weile zu halten versuchte. Es war aber nur eine ganz kleine Naturerscheinung: ein halbes Fahrrad, auf dem ein Igel saß. Es fuhr noch eine Viertelstunde lang etwas verloren in der Wüste umher, dann löste es sich auch auf.
Jetzt durften die beiden Freunde ziemlich sicher sein, daß die eben am Horizont untergehende Sonne die wirkliche Sonne war. Und da die Sonne bekanntlich immer im Westen untergeht, konnte Lukas jetzt ganz leicht bestimmen, wo Norden war und wie er zu fahren hatte. Die Abendsonne mußte zum linken Fenster hereinscheinen. Das war ganz einfach, und so dampften sie los.
Als sie eine Weile unterwegs waren und die Sonne sich anschickte, hinter dem Horizont zu versinken, fiel Jim etwas Merkwürdiges auf. Bisher waren die Geier ihnen beständig hoch oben in der Luft gefolgt, aber nun drehten plötzlich alle zugleich um und flogen davon. Sie schienen es sogar besonders eilig zu haben. Jim teilte Lukas seine Beobachtung mit.
„Vielleicht haben sie's endlich aufgegeben", knurrte Lukas zufrieden.
Doch in diesem Augenblick stieß Emma plötzlich einen gellenden Pfiff aus, der wie ein Entsetzensschrei klang, und zugleich machte sie ganz von selbst kehrt und raste wie verrückt davon.
Lukas griff nach der Bremse und brachte Emma zum Stehen. Sie hielt zitternd, und schnaufte stoßweise keuchend.
„Nanu, Emma!" rief Lukas. „Was sind denn das für neumodische Sitten?"
Jim wollte etwas sagen, als er zufällig nach hinten hinausblickte, und da blieb ihm das Wort im Halse stecken.
„Da!" konnte er nur noch flüstern.
Lukas fuhr herum. Und was er nun draußen sah, das übertraf einfach alles, was ihm jemals vor Augen gekommen war.
Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Größe, daß selbst das himmelhohe Gebirge „Die Krone der Welt" neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte. Offenbar war er ein sehr alter Riese, denn er hatte einen langen weißen Bart, der ihm bis auf die Knie herabhing und merkwürdigerweise zu einem dicken Zopf geflochten war. Wahrscheinlich, weil es auf diese Weise einfacher war, den Bart in Ordnung zu halten. Man kann sich ja vorstellen, wie mühsam es sein muß, einen solchen Urwald jeden Tag zu kämmen! Auf dem Kopf trug der Riese einen alten Strohhut. Wo in aller Welt mochte es nur so riesige Strohhalme geben? Der gewaltige Leib steckte in einem alten, langen Hemd, das freilich größer war, als die allergrößten Schiffssegel.
„Oh!" stieß Jim hervor, „das ist keine Fata! Schnell fort, Lukas! Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen."
„Immer mit der Ruhe!" erwiderte Lukas und paffte kleine Wölkchen. Dabei beobachtete er den Riesen scharf. „Ich finde", stellte er fest, „außer seiner Größe sieht der Riese ganz manierlich aus."
„W… w… was?" stotterte Jim entsetzt.
„Nun ja", meinte Lukas ruhig, „bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer zu sein."
„Ja, aber…", stammelte Jim, „wenn er aber doch eins is'?"
Jetzt streckte der Riese sehnsüchtig die Hand aus. Dann ließ er sie hoffnungslos wieder sinken, und ein tiefer Seufzer schien seine Brust zu heben. Zu hören war allerdings seltsamerweise nichts. Es blieb ganz still.
„Wenn er uns was tun wollte", sagte Lukas, die Pfeife zwischen den Zähnen, „dann hätte er das längst gekonnt. Er scheint gutartig zu sein. Möchte bloß wissen, warum er nicht näher kommt. Ob er sich am Ende vor uns fürchtet?"
„Oh, Lukas!" stöhnte Jim, dem vor Angst die Zähne zu klappern anfingen, „jetzt is' es aus mit uns!"
„Glaub' ich nicht", erwiderte Lukas. „Vielleicht kann uns der Riese sogar sagen, wie wir aus der verflixten Wüste herauskommen!"
Jim verschlug es die Rede. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte.
Plötzlich hob der Riese beide Hände, faltete sie und rief mit einem ganz dünnen armseligen Stimmchen:
„Bitte, bitte, ihr Fremden, lauft nicht fort! Ich will euch gewiß nichts tun!"
Bei seiner Größe hätte die Stimme eigentlich wie ein ganzes Gewitter klingen müssen. Das war aber keineswegs der Fall. Was konnte das für einen Grund haben?"
„Mir scheint", brummte Lukas, „das ist ein ganz harmloser Riese. Er kommt mir sogar sehr nett vor. Nur mit seiner Stimme ist irgendwas nicht in Ordnung."
„Vielleicht verstellt er sich!" rief Jim voller Angst. „Er will uns wahrscheinlich fangen und einkochen. Ich hab' mal von so einem Riesen gehört. Bestimmt, Lukas!"
„Du traust ihm nicht, bloß, weil er so mächtig groß ist", antwortete Lukas. „Aber das ist kein Grund. Dafür kann er schließlich nichts."
Jetzt ließ sich der Riese am Horizont auf die Knie nieder und rief mit flehentlich gefalteten Händen:
„Ach bitte, bitte, glaubt mir doch! Ich will euch nichts tun, ich will nur mit euch reden. Ich bin so allein, so schrecklich allein!" Wieder klang die Stimme seltsam kläglich und dünn.
„Der arme Kerl kann einem ja leid tun", sagte Lukas. „Ich werd' ihm mal winken, damit er merkt, daß wir nichts Böses im Sinn haben."
Mit Entsetzen beobachtete Jim, wie Lukas sich aus dem Fenster beugte, höflich die Mütze zog und mit seinem Taschentuch winkte. Jetzt würde das Unheil gleich über sie hereinbrechen!
Der Riese erhob sich langsam. Er schien unschlüssig und ganz verwirrt.
„Heißt das", rief er mit seinem dürftigen Stimmchen, „ich darf näher treten?"
„Jawohl!" schrie Lukas durch die hohle Hand und winkte freundlich mit dem Taschentuch.
Der Riese machte vorsichtig einen Schritt auf die Lokomotive zu. Dann hielt er inne und wartete.
„Er glaubt uns nicht", knurrte Lukas.
Kurz entschlossen stieg er aus und ging dem Riesen winkend entgegen.
Jim verschwamm vor Entsetzen alles vor den Augen. Vielleicht hatte Lukas einen Sonnenstich bekommen?
Aber immerhin konnte er doch seinen Freund Lukas unmöglich allein in eine solche Gefahr hineinlaufen lassen. Also stieg er ebenfalls aus und rannte hinter Lukas her, obwohl ihm dabei die Knie zitterten.
„Warte doch, Lukas!" keuchte er. „Ich komm' mit!"
„Na, siehst du!" sagte Lukas und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Das ist schon viel besser! Angst taugt nämlich nichts. Wenn man Angst hat, sieht meistens alles viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist."
Als der Riese sah, wie der Mann und der kleine Junge aus der Lokomotive ausstiegen und winkend auf ihn zukamen, wurde ihm klar, daß er wirklich unbesorgt sein durfte. Sein unglückliches Gesicht hellte sich auf.
„Also, Freunde", rief er mit seiner dünnen Stimme, „dann komme ich jetzt!"
Und damit setzte er sich in Bewegung und schritt auf Jim und Lukas zu. Aber was nun geschah, war so erstaunlich, daß Jim Mund und Nase aufsperrte und Lukas an seiner Pfeife zu ziehen vergaß.
Der Riese kam Schritt für Schritt näher, und bei jedem Schritt wurde er ein Stückchen kleiner. Als er etwa noch hundert Meter entfernt war, schien er nicht mehr viel größer zu sein als ein hoher Kirchturm. Nach weiteren fünfzig Metern hatte er nur noch die Höhe eines Hauses. Und als er schließlich bei Emma anlangte, war er genauso groß wie Lukas der Lokomotivführer. Er war sogar fast einen halben Kopf kleiner. Vor den beiden staunenden Freunden stand ein magerer alter Mann mit einem feinen und gütigen Gesicht.
„Guten Tag!" sagte er und nahm seinen Strohhut ab. „Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll, daß ihr nicht vor mir weggelaufen seid. Seit vielen Jahren schon sehne ich mich danach, daß einmal jemand so viel Mut aufbringen würde. Aber niemand hat mich bis jetzt näherkommen lassen. Dabei sehe ich doch nur von ferne so schrecklich groß aus. Ach, übrigens - ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen: Mein Name ist Tur Tur. Mit Vornamen heiße ich Tur und mit Nachnamen auch Tur."
„Guten Tag, Herr Tur Tur", antwortete Lukas höflich und nahm seine Mütze ab, „mein Name ist Lukas der Lokomotivführer." Er ließ sich seine Verwunderung kein bißchen anmerken und tat, als sei die sonderbare Begegnung ganz selbstverständlich. Lukas war eben wirklich ein Mann, der wußte, was sich gehört!
Nun raffte sich auch Jim auf, der Herrn Tur Tur noch immer mit offenem Mund angestarrt hatte und sagte: „Ich heiße Jim Knopf."
„Ich freue mich wirklich ungemein", sagte Herr Tur Tur, diesmal zu, Jim gewendet. „Vor allem darüber, daß ein so junger Mann wie Sie, mein lieber Herr Knopf, schon so außergewöhnlich beherzt ist. Sie haben mir einen bedeutenden Dienst erwiesen."
„Oh… ach… ich… eigentlich…" stotterte Jim und errötete unter seiner schwarzen Haut bis an beide Ohren. Er schämte sich plötzlich ganz gewaltig, denn in Wahrheit war er ja durchaus nicht mutig gewesen. Und im stillen nahm er sich vor, nie wieder vor irgend etwas oder irgendwem Angst zu haben, bevor er ihn oder es nicht aus der Nähe betrachtet hätte. Man konnte ja nie wissen, ob es nicht so ähnlich war wie mit Herrn Tur Tur. Er gab sich in Gedanken selbst das Ehrenwort, immer daran zu denken.
„Wissen Sie", sagte Herr Tur Tur jetzt wieder zu Lukas, „in Wirklichkeit bin ich nämlich gar kein Riese. Ich bin nur ein Scheinriese. Aber das ist eben das Unglück. Deshalb bin ich so einsam."
„Das müssen Sie uns näher erklären, Herr Tur Tur", entgegnete Lukas. „Sie sind nämlich der erste Scheinriese, dem wir begegnen, müssen Sie wissen."
„Ich will es Ihnen gern erklären, so gut ich kann", versicherte Herr Tur Tur. „Aber nicht hier. Darf ich mir erlauben, meine Herren, Sie in meine bescheidene Hütte zu Gast zu laden?"
„Wohnen Sie denn hier?" fragte Lukas erstaunt. „Mitten in der Wüste?"
„Allerdings", antwortete Herr Tur Tur lächelnd, „ich wohne mitten im ‚Ende der Welt'. Nämlich bei der Oase."
„Was is' eine Oase?" fragte Jim vorsichtig. Er befürchtete schon wieder irgendeine Überraschung.
„Oase", erklärte Herr Tur Tur, „nennt man eine Quelle oder eine andere Wasserstelle in der Wüste. Ich werde Sie hinführen."
Aber Lukas wollte lieber mit Emma fahren. Schon damit Emma bei der Gelegenheit neues Wasser tanken konnte. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis Lukas und Jim den ängstlichen Scheinriesen davon überzeugt hatten, daß es ganz ungefährlich sei, mit einer Lokomotive zu fahren. Schließlich stiegen alle drei auf und dampften los.