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Den ganzen Tag über waren die beiden Freunde in der Stadt umhergeschlendert. Die Sonne hatte sich dem Horizont zugeneigt, und im Abendrot begannen die goldenen Dächer zu glänzen.
In den Gäßchen, wo es schon dämmerig wurde, entzündeten die Chinesen ihre Lampions, die in allen Farben leuchteten. Sie trugen sie an langen Angelruten vor sich her, die großen Chinesen große Lampions, die kleinen kleine. Und die allerkleinsten sahen aus wie bunte Glühwürmchen.
Ober all den Wundern hatten die beiden Freunde ganz vergessen, daß sie außer den paar Meeresfrüchten zum Frühstück nichts mehr gegessen hatten.
„Das ist ja allerhand!" sagte Lukas lachend. „Da muß sofort etwas unternommen werden. Wir gehen jetzt in ein Gasthaus und bestellen uns ein Abendessen, das sich sehen lassen kann."
„In Ordnung", stimmte Jim zu. „Hast du chinesisches Geld?"
„Verflixt!" antwortete Lukas und kratzte sich hinter dem Ohr. „Daran hab' ich nicht gedacht. Aber Geld oder nicht Geld, zu essen muß der Mensch was haben. Laß mich mal nachdenken!"
Er dachte also nach, und Jim sah ihm erwartungsvoll dabei zu. Plötzlich rief Lukas:
„Ich hab's! Wenn wir kein Geld haben, müssen wir eben welches verdienen."
„Famos", sagte Jim, „aber wie machen wir das so schnell?"
„Ganz einfach!" antwortete Lukas. „Wir gehen jetzt zu unserer alten Emma zurück und geben bekannt, daß jeder, der zehn Li bezahlt, eine Runde um den großen Schloßplatz mitfahren darf."
Sie gingen rasch zu dem großen Platz vor dem kaiserlichen Palast zurück, wo noch immer eine große Menschenmenge in respektvollem Abstand um die Lokomotive herumstand und sie angaffte. Nur daß sie jetzt alle Lampions trugen.
Lukas und Jim bahnten sich einen Weg durch das Gedränge und stiegen auf das Dach ihrer Lokomotive.
Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge.
„Achtung, Achtung!" rief Lukas laut. „Sehr verehrte Damen und Herren! Wir sind mit unserer Lokomotive von sehr weit hergekommen und werden wahrscheinlich bald wieder abreisen. Benützen Sie die einmalige Gelegenheit! Machen Sie eine kleine Fahrt mit uns. Es kostet ausnahmsweise nur zehn Li. Nicht mehr als zehn Li für eine Fahrt um diesen großen Platz!"
Durch die Menge ging ein Murmeln und Flüstern, aber niemand rührte sich vom Fleck.
Lukas begann noch einmal:
„Kommen Sie ruhig näher, meine Herrschaften! Die Lokomotive ist ganz ungefährlich! Nur keine Angst! Nur hereinspaziert, verehrtes Publikum!"
Die Menge blickte andächtig zu Lukas und Jim empor, aber keiner trat vor.
„Verflixt und zugenäht!" raunte Lukas Jim zu. „Sie trauen sich nicht. Versuch du's mal!"
Jim holte Luft und rief, so laut er konnte:
„Liebe Kinder und Kindeskinder! Ich kann euch nur raten: Fahrt mit! Es ist das Lustigste, was man sich überhaupt denken kann - sogar schöner als Karussellfahren! Achtung, Achtung! In wenigen Minuten beginnen wir! Bitte einsteigen! Es kostet heute nur zehn Li pro Person! Nur zehn Li!"
Aber niemand rührte sich.
„Es kommt keiner", flüsterte Jim enttäuscht.
„Vielleicht fahren wir erst mal eine Runde allein", meinte Lukas. „Möglich, daß sie dann Lust bekommen."
Also kletterten sie vom Dach hinunter und fuhren los. Aber der Erfolg war leider ganz anders, als sie erwartet hatten. Die Leute rannten erschrocken davon, und schließlich war der ganze Platz völlig menschenleer.
„Es hat keinen Zweck", seufzte Jim, als sie wieder hielten.
„Da müssen wir uns eben was Besseres ausdenken", brummte Lukas vor sich hin.
Sie stiegen von der Lokomotive herunter und begannen nachzudenken, aber sie wurden dauernd durch das Knurren ihrer Mägen gestört. Endlich meinte Jim kläglich:
„Ich glaub', wir finden nichts. Wenn wir nur irgend jemand von hier kennen würden. Ein Chinese könnte uns sicher einen guten Rat geben."
„Aber gern!" piepste da plötzlich ein zartes Stimmchen. „Wenn ich euch behilflich sein kann?"
Lukas und Jim blickten erstaunt vor sich nieder und sahen zu ihren Füßen ein winziges Kerlchen, ungefähr so groß wie eine Hand. Offensichtlich war das ein Kindeskind. Sein Kopf war nicht größer als ein Tischtennisball.
Das Kerlchen nahm seinen kleinen, runden Hut ab und machte höflich eine tiefe Verbeugung, so daß sein Zöpfchen in die Höhe stand.
„Mein Name, ihr ehrenwerten Fremdlinge", sagte er, „ist Ping Pong. Ich stehe ganz zu euren Diensten."
Lukas nahm die Pfeife aus dem Mund und verbeugte sich ebenfalls mit ernster Miene. „Mein Name ist Lukas der Lokomotivführer."
Und nun verbeugte sich auch Jim und sagte: „Ich heiße Jim Knopf."
Darauf verbeugte sich wieder der kleine Ping Pong und zwitscherte:
„Ich habe den Klagegesang eurer erhabenen Mägen vernommen. Es wird mir eine Ehre sein, euch zu bewirten. Bitte, wartet hier einen Augenblick!"
Und er rannte mit winzig kleinen Schritten auf den Palast zu, so schnell, daß es aussah, als ob er auf Räderchen führe.
Als er in der niedersinkenden Dunkelheit verschwunden war, schauten sich die beiden Freunde verdutzt an.
„Jetzt bin ich aber gespannt, wie es weitergeht", sagte Jim.
„Warten wir's ab", sagte Lukas und klopfte seine Pfeife aus. Als Ping Pong zurückkam, schwankte er unter einer sonderbaren Last, die er auf dem Kopf trug. Es war ein kleines Lacktischchen, nicht größer als ein Tablett. Das stellte er auf den Boden neben die Lokomotive. Dann legte er ein paar Kissen, klein wie Briefmarken, um das Tischchen herum.
„Bitte, nehmt Platz!" sagte er mit einer einladenden Handbewegung.
Die beiden Freunde setzten sich so gut es ging auf die Kissen nieder. Es war zwar ein bißchen schwierig, aber sie wollten schließlich nicht unhöflich sein.
Ping Pong rannte noch einmal davon und kam zurück mit einem ganz kleinen, wunderschönen Lampion, auf den ein freundlich lachendes Gesicht gemalt war. Das Stöckchen, an dem der Lampion hing, steckte er zwischen die Speichen eines Lokomotivrades. Nun hatten die beiden Freunde eine hübsche Tischbeleuchtung. Es war nämlich inzwischen ganz dunkel geworden, und der Mond war noch nicht aufgegangen.
„So!" piepste Ping Pong und überblickte befriedigt sein Werk. „Und was darf ich den ehrenwerten Fremdlingen nun zu essen bringen?"
„Ja", meinte Lukas ein wenig ratlos, „was gibt's denn?"
Der kleine Gastgeber begann eifrig aufzuzählen: „Vielleicht hundertjährige Eier auf einem zarten Salat aus Eichhörnchenohren? Oder möchtet ihr lieber gezuckerte Regenwürmer in saurer Sahne? Sehr gut ist auch Baumrindenpüree mit geraspelten Pferdehufen überstreut. Oder hättet ihr gern gesottene Wespennester mit Schlangenhaut in Essig und Öl? Wie wäre es mit Ameisenklößchen auf köstlichem Schneckenschleim? Sehr empfehlenswert sind auch geröstete Libelleneier in Honig oder zarte Seidenraupen mit weichgekochten Igelstacheln. Vielleicht zieht ihr aber knusprige Heuschreckenbeine mit einem Salat aus pikanten Maikäferfühlern vor?"
„Lieber Ping Pong", sagte Lukas, der mit Jim einen bestürzten Blick gewechselt hatte, „das sind sicher alles große Leckereien. Aber wir sind erst ganz kurz in China und müssen uns zunächst einmal an eure Kost gewöhnen. Gibt es denn nicht vielleicht etwas ganz Einfaches?"
„Oh, doch!" rief Ping Pong eifrig. „Zum Beispiel panierte Pferdeäpfel in Elefanten-Sahne."
„Ach nein", sagte Jim, „so was meinen wir nicht. Gibt's denn nicht irgendwas Vernünftiges?"
„Irgendwas Vernünftiges?" fragte Ping Pong ratlos. Doch dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ich verstehe!" rief er. „Zum Beispiel Mäuseschwänze und Froschlaichpudding. Das ist das Vernünftigste, was ich kenne."
Jim schüttelte sich.
„Nein", sagte er, „das meine ich auch nicht! Ich meine zum Beispiel einfach ein großes Butterbrot." „Ein was?" fragte Ping Pong. „Ein Butterbrot", wiederholte Jim.
„Nein, das kenne ich gar nicht ", sagte Ping Pong verwirrt. „Oder Bratkartoffeln mit Spiegelei", schlug Lukas vor.
„Nein", antwortete Ping Pong, „davon habe ich nie etwas gehört."
„Oder einen Schweinebraten", fuhr Lukas fort, und dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Aber jetzt schüttelte sich der kleine Ping Pong und schaute die beiden Freunde ganz entsetzt an.
„Verzeiht, ehrenwerte Fremdlinge, daß ich mich schüttle", piepste er, „aber würdet ihr so etwas wirklich essen mögen?"
„Ach ja", riefen die beiden Freunde wie aus einem Munde, „das würden wir!"
Eine Weile überlegten sie noch hin und her. Plötzlich schnippte Lukas der Lokomotivführer mit dem Finger und sagte:
„Leute, ich hab's! Wir sind doch hier in China, und in China gibt's doch Reis."
„Reis?" fragte Ping Pong. „Ganz gewöhnlichen Reis?"
„Ja", erwiderte Lukas.
„Oh, jetzt weiß ich etwas!" rief Ping Pong glücklich. „Ihr bekommt eine kaiserliche Reisplatte. Sofort, sogleich, ich eile!" Er wollte schon davonrennen, aber Lukas hielt ihn am Ärmelchen zurück.
„Aber bitte, Ping Pong", sagte er, „keine Käfer oder gebratene Schuhbänder dazwischen, wenn's geht."
Ping Pong versprach es und verschwand in der Dunkelheit. Als er zurückkam, trug er ein paar Schälchen, kaum größer als Fingerhüte, und stellte sie auf den Tisch.
Die beiden Freunde wechselten einen Blick und dachten bei sich, ob das nicht vielleicht ein bißchen wenig wäre für zwei hungrige Lokomotivführer. Aber sie sagten natürlich nichts, denn sie waren ja zu Gast.
Doch Ping Pong rannte sofort wieder davon, brachte weitere Schüsselchen und verschwand aufs neue. Schließlich stand das ganze Tischchen voll, aus allen Näpfchen duftete es ganz unbeschreiblich appetitlich. Vor jedem der beiden Freunde lagen zwei Stäbchen, die aussahen wie dünne Bleistifte.
„Ich möcht' wissen", flüsterte Jim Lukas zu, „wozu diese Stäbchen da sind."
Ping Pong, der die Worte gehört hatte, erklärte:
„Diese Stäbchen, ehrenwerter Knopfträger, sind das Besteck. Man ißt mit ihnen."
„Aha!" murmelte Jim besorgt.
„Na schön", meinte Lukas. „Versuchen wir's mal. Guten Appetit!"
Sie versuchten es also. Aber jedesmal, wenn sie mühsam ein Reiskorn auf einem Stäbchen balancierten, fiel es herunter, ehe sie es in den Mund bekommen konnten. Das war wirklich recht unangenehm, denn sie wurden beide immer hungriger, und das Essen duftete so unbeschreiblich verführerisch.
Ping Pong war natürlich viel zu höflich, um über die Ungeschicklichkeit der beiden Fremden auch nur zu lächeln. Aber schließlich mußten Jim und Lukas selber lachen, und da stimmte auch Ping Pong ein.
„Entschuldige, Ping Pong", sagte Lukas, „aber wir essen doch lieber ohne diese Stäbchen. Sonst verhungern wir noch."
Und dann aßen sie einfach so aus den Schälchen, die ja ohnehin nur so groß waren wie Teelöffel.
In jedem Schälchen befand sich anders zubereiteter Reis, und einer schmeckte immer besser als der andere. Es gab roten Reis, grünen Reis und schwarzen Reis, süßen Reis, scharfen Reis und gesalzenen Reis, Reisbrei, Reisauflauf und Puffreis, blauen Reis, kandierten Reis und vergoldeten Reis. Sie aßen und aßen.
„Sag mal, Ping Pong", fragte Lukas nach einer Weile, „warum ißt du eigentlich nicht mit?"
„Oh, nein!" antwortete Ping Pong mit wichtiger Miene, „für Kinder in meinem Alter ist dieses Essen nicht bekömmlich. Wir sollen lieber flüssige Nahrung zu uns nehmen."
„Wieso?" meinte Jim mit vollem Mund. „Wie alt bist du denn?"
„Ich bin genau 368 Tage alt", antwortete Ping Pong stolz. „Aber ich habe schon vier Zähne."
Das war ja nun wirklich recht unglaublich, daß Ping Pong erst ein Jahr und drei Tage sein sollte! Um das zu verstehen, muß man folgendes wissen:
Die Chinesen sind ein sehr, sehr kluges Volk. Sie sind sogar eines der klügsten Völker der Erde. Sie sind auch ein sehr altes Volk. Es hat sie schon gegeben, als es die meisten anderen Völker noch nicht gab. Daher kommt es, daß bereits die winzigsten Kinder ihre Wäsche selbst waschen können. Mit einem Jahr sind sie schon so gescheit, daß sie herumlaufen und ganz erwachsen reden können. Mit zwei Jahren können sie lesen und schreiben. Mit drei Jahren rechnen sie die schwersten Rechenaufgaben aus, die bei uns höchstens ein Professor bewältigen kann. Das fällt aber in China nicht weiter auf, weil eben alle Kinder so gescheit sind.
So ist es zu erklären, daß der kleine Ping Pong sich schon so gewählt ausdrücken konnte und auf sich selbst achtgab wie seine eigene Mutter. Aber im übrigen war er noch genauso ein Säugling wie alle anderen Babys der Welt in seinem Alter. Zum Beispiel mußte er statt Höschen noch Windeln tragen. Die Enden der Windeln waren auf seinem Hinterteil zu einer großen Schleife zusammengebunden.
Nur sein Verstand war eben schon sehr erwachsen.