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Mary Poppins verstummte.
»Und deshalb, glaube ich, kam sie den Kirschbaumweg entlang«, flüsterte Jane andächtig.
»Ja«, wisperte Michael, »sie suchte nach ihrem Stern.«
Mit einem kleinen Ruck richtete sich Mary Poppins auf. Der verträumte Blick war aus ihren Augen verschwunden (und die Regungslosigkeit aus ihren Gliedern).
»Komm sofort vom Fenster herunter, mein Junge!« sagte sie barsch. »Ich werde Licht machen.« Und sie eilte zum Treppenabsatz, wo sich der Schalter befand.
»Michael«, flüsterte Jane vorsichtig. »Sieh noch einmal hinaus und schau nach, ob die Kuh noch da ist.«
Geschwind spähte Michael in die wachsende Dunkelheit.
»Schnell!« sagte Jane. »Kannst du sie sehen?«
»Nei—ein«, sagte Michael und starrte hinaus. »Keinen Schimmer von ihr. Sie ist fort.«
»Ich hoffe nur, daß sie ihn findet!« sagte Jane und stellte sich vor, wie die Rote Kuh durch die Welt wanderte und nach einem Stern suchte, den sie sich ans Horn stecken könnte.
»Ich auch!« sagte Michael. Da hörte er Mary Poppins zurückkommen und machte rasch den Vorhang zu.
Nicht lange danach erwachte Michael eines Morgens mit einem ganz merkwürdigen Gefühl. Gleich, als er die Augen aufschlug, wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte, aber er fand nicht heraus, was es eigentlich war.
»Was ist heute, Mary Poppins?« fragte er und schob die Bettdecke fort.
»Dienstag«, antwortete Mary Poppins. »Geh und laß dir das Bad einlaufen. — Beeil dich!« setzte sie hinzu, als er keine Anstalten traf, aufzustehen. Er drehte sich um und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Und das sonderbare Gefühl nahm zu.
»Was habe ich gesagt?« sagte Mary Poppins in dem kalten, bestimmten Ton, der immer ein Warnsignal war.
Michael wußte jetzt, was mit ihm los war. Er wußte, daß ihn etwas zwang, unartig zu sein.
»Ich mag nicht«, sagte er langsam. Seine Stimme klang dumpf unter der Bettdecke hervor,
Mary Poppins zog ihm die Decke weg und sah auf ihn herunter.
»Ich mag nicht!«
Er wartete gespannt, was sie tun würde, und war überrascht, als sie wortlos ins Badezimmer ging und selber den Hahn aufdrehte. Er nahm sein Handtuch und ging, als sie herauskam, hinein. Und zum erstenmal in seinem Leben badete Michael allein.
Er wußte nun, daß er in Ungnade gefallen war, und unterließ es daher, sich hinter den Ohren zu waschen.
»Soll ich das Wasser auslassen?« fragte er so patzig wie möglich.
Es kam keine Antwort.
»Dann eben nicht!« sagte Michael, und der heiße, schwere Druck auf seinem Herzen verstärkte sich und wurde immer schwerer. »Mir soll's gleich sein.«
Danach zog er sich an, nahm aber seine besten Sachen, die, wie er genau wußte, nur für sonntags da waren. Und dann ging er hinunter und bumste dabei mit dem Fuß ans Treppengeländer — etwas, was er auch nicht durfte, weil es alle Leute im Haus aus dem Schlaf weckte. Auf der Treppe begegnete er Ellen, dem Zimmermädchen, und stieß ihr im Vorbeigehen die Heißwasserkanne aus der Hand.
»Du bist ein Schussel!« sagte Ellen und bückte sich, um das Wasser aufzuwischen. »Das war das Rasierwasser für deinen Vater.«
»Ich hab's mit Absicht getan!« sagte Michael seelenruhig.
Ellens rotes Gesicht wurde ganz weiß vor Überraschung.
»Auch noch mit Absicht? — Dann bist du ein ganz abscheulicher Bengel, und ich werd's deiner Mama sagen.«
»Sag's doch!« sagte Michael und ging weiter die Treppe hinunter.
Ja, so fing's an, und den ganzen Tag ging's dann so weiter. Das heiße, schwere Gefühl inwendig ließ ihn die ärgsten Sachen anstellen, und sobald er eine Untat verübt hatte, fühlte er sich richtig glücklich und froh und zu einem neuen Streich aufgelegt.
In der Küche bearbeitete Mistreß Brill einen Kuchenteig.
»Halt, junger Mann«, sagte sie, »du kannst die Schüssel noch nicht auskratzen, soweit ist es noch nicht.«
Da schob Michael den Fuß vor und gab Mistreß Brill ordentlich eins gegen das Schienbein, so daß sie den Teigroller fallen ließ und laut aufjammerte.
»Du hast Mistreß Brill mit dem Fuß gestoßen? Unsere gute Mistreß Brill? Ich schäm mich für dich!« sagte seine Mutter später, als Mistreß Brill ihr alles haarklein erzählt hatte. »Gleich bittest du sie schön um Verzeihung! Sag, es tut dir sehr leid, Michael.«
»Es tut mir gar nicht leid. Froh bin ich. Warum hat sie auch so dicke Beine!« Und ehe die Mutter ihn am Schlafittchen packen konnte, rannte er über die Küchentreppe in den Garten. Dort stolperte er durchaus nicht zufällig über Robertson Ay, der mitten in der schönsten Alpenflora in tiefem Schlaf lag. Robertson Ay nahm es sehr übel.
»Ich sag's deinem Papa!« rief er drohend. »Und ich werde ihm sagen, daß du heute morgen die Schuhe nicht geputzt hast«, entgegnete Michael, ein bißchen erschrocken über sich selbst. Bisher hatten er und Jane immer Robertson Ay in Schutz genommen, weil sie ihn gern hatten und ihn nicht verlieren wollten.
Aber der Schrecken dauerte nicht lange, und bald begann er zu überlegen, was er jetzt anstellen sollte. Und gleich fiel ihm etwas ein.
Durch die Spalten des Lattenzauns entdeckte er Andy, Miß Larks Andy, der drüben wählerisch am Rasen herumschnüffelte und sich die besten Grasspitzen aussuchte. Michael lockte Andy leise zu sich her und gab ihm einen Keks aus seiner Tasche. Während Andy ihn behaglich zerkaute, band er seinen Schwanz mit einer Schnur am Zaun fest. Dann lief er davon, und Miß Larks erbostes Kreischen gellte ihm nach, während sein Herz schier zersprang unter dem aufregenden Druck des Kloßes in seinem Innern.
Die Tür zu seines Vaters Zimmer stand offen — denn Ellen hatte soeben die Bücher abgestaubt. Das verlockte Michael, etwas Verbotenes zu tun. Er ging hinein, setzte sich an seines Vaters Schreibtisch und begann mit seines Vaters Feder das Löschpapier vollzukritzeln. Auf einmal stieß er mit dem Ellbogen gegen das Tintenfaß und warf es um, und Stuhl und Schreibtisch und Federhalter und sein eigener Sonntagsanzug waren über und über voll blauer Tintenflecke. Es sah schrecklich aus, und Michael bekam Angst, was nun passieren würde. Aber gerade zum Trotz machte er sich nichts daraus — es tat ihm nicht ein bißchen leid.
»Das Kind muß krank sein«, sagte Mistreß Banks, als Ellen — die unversehens ins Zimmer kam und ihn entdeckte — ihr den letzten Streich berichtete. »Michael, du bekommst jetzt einen Löffel Feigensirup.«
»Mir fehlt nichts. Mir ist wohler als dir!« sagte Michael.
»Dann bist du einfach unartig«, sagte seine Mutter, »und mußt deine Strafe bekommen.«
Es dauerte nicht lange, und Michael stand samt seinem beklecksten Anzug in einer Ecke des Kinderzimmers, mit dem Gesicht zur Wand.
Jane versuchte, mit ihm zu reden, als Mary Poppins gerade nicht herschaute, aber er wollte nicht antworten und streckte ihr die Zunge heraus. Nun kamen John und Barbara an die Reihe. Sie rutschten auf dem Boden zu ihm hin, griffen nach seinen Schuhen und jauchzten dabei. Aber er stieß sie unsanft beiseite. Und die ganze Zeit freute er sich seiner Boshaftigkeit und hätschelte sie, als wäre sie sein Liebstes, und nichts bekümmerte ihn.
»Ich will nicht brav sein!« sagte er laut vor sich hin, als er beim Nachmittagsspaziergang im Park hinter Mary Poppins, Jane und dem Kinderwagen herzottelte.
»Trödle nicht!« sagte Mary Poppins und schaute sich nach ihm um. Aber er trödelte weiter und schlurfte mit den Schuhen übers Pflaster, damit die Sohlen ordentlich abgeschabt wurden.
Auf einmal drehte Mary Poppins sich um und sah ihn an, eine Hand am Griff des Kinderwagens.
»Du bist heute morgen auf der verkehrten Seite aus dem Bett gestiegen!«