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Der Mandarin, denn das war der Mann in der Tat, neigte den Kopf und schickte sich zu einer weiteren kunstvollen Verbeugung an, da setzte Mary Poppins ganz schnell den Kompaß wieder in Bewegung.
»West!« sagte sie energisch.
Rundum drehte sich die Welt, bis Jane und Michael ganz schwindlig waren. Und als es wieder ruhig wurde, eilten sie mit Mary Poppins durch große Fichtenwälder auf eine Lichtung zu, auf der rund um ein riesiges Feuer mehrere Zelte aufgeschlagen waren. Im Feuerschein huschten dunkle Gestalten hin und her. Sie waren mit Federn geschmückt und trugen ein loses Hemd zu fransenbesetzten Hasenfellhosen. Eine dieser Gestalten trennte sich von den übrigen und kam geschwind auf Mary Poppins und die Kinder zu.
»Morgenstern-Mary«, sagte er. »Ich grüße dich!« Und er beugte sich über sie und legte seine Stirn an die ihre. Dann wandte er sich den vier Kindern zu und machte es bei ihnen ebenso.
»Mein Wigwam erwartet euch«, fuhr er mit ernster, freundlicher Stimme fort. »Wir braten gerade ein Renntier zum Abendessen.«
»Häuptling Sonne-am-Mittag«, antwortete Mary Poppins, »wir sind nur zu kurzem Besuch gekommen — tatsächlich, wir kamen sozusagen, um Abschied zu nehmen. Wir sind rund um die Welt gereist, und dies ist der letzte Hafen, den wir anlaufen.«
»Ha? Ist das so?« fragte der Häuptling und sah sehr interessiert aus. »Ich habe oft daran gedacht, so etwas selbst zu tun. Aber sicher könnt ihr ein bißchen bei uns bleiben, wenigstens so lang, bis dieser junge Mann« (er nickte Michael zu) »seine Kraft mit meinem Ur-Ur-Urenkel >Schnell-wie-der-Wind< gemessen hat!« Der Häuptling klatschte in die Hände.
»Hei-ho-hi!« rief er laut, und von den Zelten rannte ein kleiner Indianerbub auf ihn zu. Er trat sofort zu Michael und gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter.
»Du bist dran!« rief er und lief davon wie ein Hase.
Das war zuviel für Michael. Mit einem Satz war er hinter ihm her, und Jane hinter ihnen beiden. Die drei rannten zwischen den Bäumen umher, umkreisten immer wieder eine riesige Fichte, immer ihrem Anführer >Schnell-wie-der-Wind< nach, der immerzu lachte und immer außer Reichweite blieb. Jane blieb erschöpft zurück, aber Michael packte jetzt die Wut, er biß die Zähne zusammen und flog laut schreiend hinter >Schnell-wie-der-Wind< her, entschlossen, sich nicht von einem Indianerjungen schlagen zu lassen.
»Ich werd dich schon kriegen!« schrie er und strengte sich an, noch schneller zu laufen.
»Was willst du?« fragte Mary Poppins schneidend.
Michael blickte nach ihr zurück und hielt plötzlich inne. Dann wandte er sich, um die Verfolgung wieder aufzunehmen, aber zu seiner Verblüffung war keine Spur von >Schnell-wie-der-Wind< mehr zu sehen. Weder von dem Häuptling und den Zelten noch vom Feuer. Nicht einmal eine Fichte war da. Nichts als eine Gartenbank, und Jane und die Zwillinge und Mary Poppins, die mitten im Park standen.
»Immerzu rund um die Gartenbank rennen, als wärst du verrückt geworden! Man sollte meinen, daß du für einen Tag unartig genug warst! Komm jetzt!« schalt Mary Poppins.
»Rund um die Welt und in einer Minute wieder zurück — was für eine wunderbare Schachtel!« sagte Jane glücklich.
»Gib mir meinen Kompaß wieder!« verlangte Michael patzig.
»Meinen Kompaß, wolltest du sagen«, erwiderte Mary Poppins und steckte ihn in die Tasche.
Michael blickte sie an, als wollte er sie umbringen, und so war ihm auch zumute. Aber er zuckte nur die Schultern und machte sich davon und sagte kein Wort mehr.
»Mit diesem Jungen könnte ich jeden Tag fertigwerden«, redete er sich selber ein, während er das Tor von Nummer 17 passierte und die Treppe hinaufstieg.
Der Druck inwendig hatte noch nicht nachgelassen. Nach dem
Abenteuer mit dem Kompaß schien es noch schlimmer zu werden. Gegen Abend wurde er immer unartiger. Er kniff die Zwillinge, wenn Mary Poppins gerade nicht hinschaute, und wenn sie weinten, erkundigte er sich mit heuchlerischer Teilnahme:
»Was habt ihr denn, Kinderchen, was ist los?«
Aber Mary Poppins ließ sich dadurch nicht täuschen.
»Du wirst schon sehen, daß etwas in dir steckt!« äußerte sie vielsagend. Aber der abscheuliche Druck inwendig machte ihn gleichgültig. Er zuckte nur die Achseln und zupfte Jane an den Haaren. Und danach ging er an den Abendbrottisch und warf seine eingebrockte Milch um.
»Jetzt reicht's aber!« sagte Mary Poppins. »Eine solche Aufsässigkeit ist mir noch nicht vorgekommen. In meinem ganzen Leben nicht. Hinaus mit dir! Marsch, ins Bett, und kein Wort mehr!«
Er hatte sie noch nie so böse gesehen.
Aber noch immer machte er sich nichts daraus.
Er ging ins Schlafzimmer und zog sich aus.
Nein, er machte sich nichts daraus. Er war schlecht, und wenn sie sich nicht vorsahen, würde er noch viel schlechter werden. Ihm war es gleich. Er haßte sie alle. Wenn sie nicht aufpaßten, würde er davonlaufen und zum Zirkus gehen. Schwupp! Weg war ein Knopf. Schön — da hatte er morgen weniger zu tun. Noch einer! Um so besser! Nichts in der Welt konnte ihn je dazu bringen, etwas zu bedauern. Er würde ins Bett gehen, ohne sich das Haar zu bürsten oder die Zähne — und ganz gewiß, ohne sein Nachtgebet zu sprechen.
Als er fertig und mit einem Fuß schon im Bett war, sah er den Kompaß oben auf der Kommode liegen.
Ganz langsam zog er seinen Fuß zurück und huschte auf den Zehenspitzen durchs Zimmer. Er wußte jetzt, was er tun wollte. Er wollte den Kompaß nehmen, ihn drehen und rund um die Welt fahren. Und nie würden sie ihn wiederfinden. Das geschähe ihnen recht. Ganz leise nahm er einen Stuhl und schob ihn an die Kommode. Er kletterte hinauf und nahm den Kompaß in die Hand.
Er schüttelte ihn.
»Nord, Süd, Ost, West!« sagte er rasch, damit keiner hereinkäme, ehe er fort war.
Ein Geräusch hinter dem Stuhl schreckte ihn auf, und er drehte sich schuldbewußt um, in der Erwartung, Mary Poppins zu sehen. Statt dessen standen da vier riesige Gestalten, die auf ihn losfuhren. Der Eskimo mit einem Speer, die Negerdame mit der Riesenkeule ihres Mannes, der Mandarin mit einem großen Krummschwert und der rote Indianer mit einem Tomahawk. Aus allen vier Ecken des Zimmers drangen sie auf ihn ein, die Waffen hoch über dem Kopf schwingend, und statt gut und freundlich auszusehen wie am Nachmittag, erschienen sie ihm nun voller Zorn und Rachedurst. Fast waren sie schon über ihm, ihre riesengroßen, schrecklichen, wütenden Gesichter rückten näher und näher. Er spürte ihren heißen Atem auf dem Gesicht und sah sie die Waffen schwingen.
Mit einem Schrei ließ Michael den Kompaß fallen.
»Mary Poppins — Mary Poppins — zu Hilfe, zu Hilfe!« brüllte er und kniff die Augen ganz fest zu.
Da fühlte er, wie ihn etwas einhüllte, etwas Weiches und Warmes. Was war das? Der Pelzmantel des Eskimos, der Umhang des Mandarins, das Hasenfell des roten Indianers, die Federn der schwarzen Dame? Wer hatte ihn eingefangen? Oh, wäre er nur artig gewesen — hätte er nur . ..
»Mary Poppins!« jammerte er, als er sich durch die Luft getragen und auf etwas noch viel Weicheres niedergelegt fühlte.
»Oh, liebe Mary Poppins!«
»Schon gut, schon gut. Ich bin ja nicht taub. Gott sei Dank! Kein Grund, zu schreien!« hörte er sie ruhig sagen.
Er machte ein Auge auf. Nichts deutete auf die Anwesenheit der vier Riesengestalten aus dem Kompaß. Um sicher zu sein, öffnete er auch das andere Auge. Nirgends ein Schimmer von ihnen.
Er setzte sich auf, schaute im ganzen Zimmer umher. Nichts war zu sehen.
Dann merkte er, das Weiche um ihn herum war seine eigene
Decke und das Weiche, auf dem er lag, sein eigenes Bett. Und auch der schwere, lastende Druck, der ihn den ganzen Tag über gequält hatte, war spurlos vergangen. Er fühlte sich friedlich und glücklich und hätte am liebsten allen, die er kannte, etwas zum Geburtstag geschenkt.
»Was — was ist denn passiert?« fragte er Mary Poppins ganz ängstlich.
»Ich hab dir gesagt, daß das mein Kompaß ist, nicht wahr? Sei so gut und laß gefälligst meine Sachen in Ruh!« war alles, was sie antwortete, während sie sich bückte, den Kompaß aufhob und in ihre Tasche steckte. Dann begann sie, die Kleider aufzuräumen, die er auf dem Boden hatte liegen lassen.
»Soll ich das nicht machen?« fragte er.
»Nein, danke.«
Sie ging ins Nebenzimmer, und plötzlich kehrte sie zurück und gab ihm etwas Warmes in die Hand. Es war eine Tasse Milch.