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»Ist das nicht komisch, Mary Poppins«, murmelte er schläfrig. »Ich bin so ungezogen gewesen, und jetzt fühle ich mich so schrecklich wohl.«
»Gsch!« machte Mary Poppins. Sie deckte ihn gut zu. Dann ging sie hinaus, um das Geschirr abzuwaschen.
»Vielleicht ist sie gar nicht da«, meinte Michael.
»Freilich ist sie da«, sagte Jane. »Sie ist immer da, seit jeher.«
Sie gingen den Ludgate Hill hinauf und waren auf dem Weg, ihren Vater in der Stadt zu besuchen. Denn er hatte heute morgen zu Mistreß Banks gesagt:
»Meine Liebe, wenn's nicht regnet, könnten Jane und Michael vielleicht heute zu mir ins Büro kommen — wenn es dir recht ist, natürlich. Ich glaube fast, ich würde mich gern zu Tee und mürben Brezeln einladen lassen, und ich kann mir nicht oft ein solches Vergnügen erlauben.«
Mistreß Banks hatte erwidert, sie wolle es sich noch überlegen. Aber den ganzen Tag über machte sie, obwohl Jane und Michael sie voll Spannung beobachteten, nicht den Eindruck, als überlege sie sich's überhaupt. Nach ihren Reden zu schließen, dachte sie nur über die Wäscherechnung nach und über Michaels neuen Mantel, und darüber, wo wohl Tante Flossies Adresse stecke, und warum diese verdrehte Mistreß Jackson sie auf den zweiten Donnerstag im Monat zum Tee eingeladen hatte, wo sie doch wußte, daß dies gerade der Tag war, an dem Mistreß Banks zum Zahnarzt mußte.
Doch plötzlich, als sie schon überzeugt waren, daß Mistreß Banks überhaupt nicht an Mister Banks Vergnügen dachte, sagte sie: »Nun, Kinder, steht doch nicht da und starrt mich an. Zieht euch an. Ihr geht doch in die Stadt, um mit eurem Vater Tee zu trinken. Habt ihr's denn vergessen?«
Als ob sie das hätten vergessen können! Denn es war nicht nur der Tee, der wichtig war. Da war noch die Vogelfrau, und die war der Gipfel des Vergnügens. Deshalb gingen sie jetzt in heller Aufregung den Ludgate Hill hinauf.
Mary Poppins ging zwischen ihnen, hatte ihren neuen Hut auf und sah sehr fein aus. Hin und wieder warf sie einen Blick in ein Schaufenster, nur um sich zu vergewissern, daß der Hut noch da war und die rosa Rosen sich nicht in gewöhnliche Ringelblumen verwandelt hatten.
Jedesmal, wenn sie deshalb stehenblieb, seufzten Jane und Michael, wagten aber nicht, etwas zu sagen, aus Furcht, sie könnte dann noch länger ins Schaufenster schauen, nach allen Seiten sich drehend, um festzustellen, welche Haltung am kleidsamsten sei.
Aber schließlich kamen sie doch zur Sankt-Pauls-Kathedrale. Vor langer Zeit war sie von einem Mann erbaut worden, der einen Vogelnamen hatte. Deshalb leben so viele Vögel in der Nähe der Kathedrale, und deshalb lebt dort auch die Vogelfrau.
»Da ist sie!« schrie Michael plötzlich und trippelte vor Aufregung auf den Fußspitzen.
»Man zeigt nicht mit dem Finger!« sagte Mary Poppins und warf vor dem Fenster eines Teppichladens einen letzten Blick auf die rosa Rosen.
»Sie sagt es! Sie sagt es!« jauchzte Jane und mußte an sich halten, sonst wäre sie vor Entzücken zersprungen.
Und sie sagte es wirklich. Die Vogelfrau war da und sagte: »Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte! Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte! Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« Immer und immer wieder dieselbe Leier, mit einer hohen, singenden Stimme, so daß es wie ein Lied klang.
Und während sie es sagte, hielt sie den Vorübergehenden kleine Tüten mit Brotkrumen hin.
Um sie herum flogen die Vögel, sie kreisten und hüpften, schossen herab und flogen auf. Mary Poppins nannte sie immer »eitle Spatzen«, weil sie sich einbildete, alle Vögel seien so eitel wie sie. Aber Jane und Michael wußten genau, es waren keine Spatzen, es waren Tauben. Es gab graue, betuliche und schwatzhafte Tauben wie Großmütter, braune mit heiseren Stimmen wie Onkels und grünliche wie Väter, die immer gurrten: »Nein, ich hab kein Geld heute.« Und die törichten, ängstlichen, zarten blauen Tauben waren wie Mütter. So jedenfalls dachten Jane und Michael darüber.
Sie flogen immerzu rund um den Kopf der Vogelfrau, während die Kinder näher kamen, aber plötzlich, als wollten sie sie necken, schossen sie durch die Luft und setzten sich auf die Spitze von Sankt Paul, lachten und drehten die Köpfe weg und taten, als ob sie die Vogelfrau nicht kannten.
Heute war es an Michael, eine Tüte zu kaufen, das letztemal war Jane an der Reihe gewesen. Er trat auf die Vogelfrau zu und hielt ihr zwei Pennies hin.
»Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« sagte die Vogelfrau, während sie ihm eine Tüte mit Krumen in die Hand gab und das Geld in die Falten ihres weiten, schwarzen Rockes versenkte.
»Warum hast du nicht Einpennytüten?« fragte Michael. »Dann könnte ich zwei kaufen.«
»Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« antwortete die Vogelfrau, und Michael wußte wohl, daß es nichts nutzte, noch mehr Fragen zu stellen. Er und Jane hatten es schon oft versucht, aber alles, was sie sagen konnte, und alles, was sie nach wie vor sagen würde, war »Füttert die Vögel, einen Zweier die Tüte!« Genau wie ein Kuckuck auch nur »kuckuck« sagen kann, ganz gleich, welche Frage man an ihn stellt.
Jane und Michael und Mary Poppins streuten die Krumen rings auf den Boden, und alsbald kamen die Tauben von Sankt Paul herunter, erst einzeln und dann zu zweit und zu dritt.
»Leckermaul!« sagte Mary Poppins naserümpfend, als eine Taube eine Krume aufpickte und sie wieder aus dem Schnabel fallen ließ.
Aber die anderen Tauben drängten sich um das Futter, sie stießen und balgten sich mit lautem Gezänk. Zuletzt war nicht eine Krume mehr da, denn für eine Taube gehörte es sich, nichts übrigzulassen. Als wirklich alles aufgepickt war, stiegen sie mit einem einzigen großen Flügelrauschen auf und schwirrten der
Vogelfrau um den Kopf. Dabei ahmten sie in ihrer eigenen Sprache die Worte nach, die sie immer sagte. Eine setzte sich ihr auf den Hut, als wäre sie eine Garnierung. Und eine andere hielt versehentlich Mary Poppins' neuen Hut für einen Blumengarten und pickte eine Rose weg.
»Du frecher Spatz!« rief Mary Poppins und schlug mit dem Schirm nach ihr. Die Taube war beleidigt, flog zur Vogelfrau zurück und steckte ihr die Rose, um es Mary Poppins heimzuzahlen, in das Hutband.
»Du gehörst in den Kochtopf — du!« schalt Mary Poppins ärgerlich. Dann rief sie nach Jane und Michael.
»Zeit, zu gehen!« sagte sie und warf einen letzten, wütenden Blick auf die Taube. Aber die lachte nur, fächerte den Schwanz auf und drehte ihr den Rücken zu.
»Auf Wiedersehen!« sagte Michael zur Vogelfrau.
»Füttert die Vögel!« antwortete sie lächelnd.
»Auf Wiedersehen!« sagte auch Jane.
»Einen Zweier die Tüte!« Und die Vogelfrau winkte ihr mit der Hand.
Dann gingen sie brav neben Mary Poppins her.
»Was geschieht, wenn alle Leute fortgegangen sind — wie wir?« sagte Michael leise zu Jane.
Er wußte ganz gut, was dann geschah, aber es gehörte sich, Jane zu fragen, denn die Geschichte hatte sie sich ausgedacht.
»Bei Nacht, wenn alle Leute zu Bett gehen —«, begann Jane.
»Und die Sterne herauskommen«, half ihr Michael.
»Ja, und auch wenn keine Sterne da sind — dann kommen alle Tauben von der Spitze von Sankt Paul herunter und suchen gründlich den Boden ab und sehen überall nach, ob keine Krumen mehr daliegen, denn am Morgen muß der Boden blitzblank sein. Und wenn sie damit fertig sind —«
»Du hast das Baden vergessen.«
»Ach ja — sie baden und kämmen sich die Flügel mit ihren Krallen. Und wenn sie damit fertig sind, umfliegen sie dreimal den Kopf der Vogelfrau und lassen sich dann auf ihr nieder.«
»Setzen sie sich ihr auf die Schultern?«
»Ja, und auf ihren Hut.«
»Und auch auf den Korb mit den Tüten?«
»Ja, und manche auf ihre Knie. Dann streicht sie einer nach der andern die Federn am Kopf glatt und ermahnt sie, eine brave Taube zu sein —«
»In der Vogelsprache?«
»Natürlich! Und wenn sie dann alle schläfrig sind und nicht mehr länger wach bleiben mögen, breitet sie ihren Rock aus, wie eine Gluckhenne ihre Flügel, und die Tauben kriechen allesamt darunter. Und sobald die letzte untergekrochen ist, läßt sie sich über ihnen nieder und gluckst und gurrt ganz leise, und dann schlafen sie alle bis zum Morgen.«
Michael seufzte befriedigt. Er liebte diese Geschichte und wurde nie müde, sie zu hören.