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»Armselig?« sagte Mary Poppins geringschätzig. »Das ist gar kein Ausdruck dafür.«
»Ach so!« Und Mistreß Corry rieb sich mit dem Finger die Nase und machte ein verständnisvolles Gesicht. Dann sagte sie: »Nun, meine liebe Miß Poppins, das war ein sehr angenehmer Besuch, und meine beiden Mädel haben sich gewiß nicht weniger gefreut als ich.« Sie nickten ihren beiden großen, traurigen Töchtern zu. »Und Sie kommen doch recht bald wieder, nicht wahr, mit Jane und Michael und den Kleinen? — Könnt ihr die Pfefferkuchen denn auch tragen?« fügte sie, sich an Jane und Michael wendend, hinzu.
Sie nickten, Mistreß Corry kam näher und warf ihnen einen sonderbar bedeutsamen und fragenden Blick zu.
»Ich möchte wohl wissen, was ihr mit den Papiersternen macht«, sagte sie träumerisch.
»Oh, die werden wir aufheben«, antwortete Jane. »Das tun wir immer.«
»Ach — ihr hebt sie auf! Aber ich wüßte gern, wo.«
»Nun«, gestand Jane, »meine liegen alle unter den Taschentüchern in der oberen linken Schublade —«
»Und meine in einer Schuhschachtel im obersten Fach des Kleiderschranks«, sagte Michael.
»Obere linke Schublade und Schuhschachtel im Kleiderschrank«, wiederholte Mistreß Corry nachdenklich, als ob sie sich die Worte einprägen wollte. Dann blickte sie Mary Poppins ein Weilchen an und nickte leicht mit dem Kopf. Mary Poppins nickte leicht zurück. Es war, als teilten sie miteinander ein Geheimnis.
»Nun«, sagte Mistreß Corry vergnügt, »das ist ja sehr interessant. Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, weil ich nun weiß, wo ihr eure Sterne aufhebt. Ich werde es nicht vergessen. Ihr wißt, ich kann mich an alles erinnern — sogar daran, was Guy Fawkes jeden zweiten Sonntag zum Abendbrot bekam. Und nun, auf Wiedersehen. Kommt bald, bald wie-ie-ie-der!«
Mistreß Corrys Stimme schien immer schwächer zu werden und dahinzuschwinden, und plötzlich, ohne daß Jane und Michael merkten, wie es geschah, fanden sie sich auf die Straße zurückversetzt, wo sie hinter Mary Poppins herzottelten, die soeben wieder ihre Liste nachprüfte.
Sie drehten sich um und blickten zurück.
»Na, so was, Jane, er ist nicht mehr da!« entfuhr es Michael überrascht.
»Ich such ihn auch«, sagte Jane und schaute und schaute.
Und sie hatten recht. Der Laden war verschwunden.
»Wie sonderbar!« sagte Jane.
»Find ich auch!« sagte Michael. »Aber die Pfefferkuchen schmecken gut.«
Sie waren damit beschäftigt, ihren Pfefferkuchen durch Beknabbern eine immer neue Gestalt zu geben — die eines Mannes, einer Blume, einer Teekanne — daß sie dabei völlig vergaßen, w i e sonderbar das Ganze war.
In der Nacht jedoch, als die Lichter gelöscht waren und man annehmen mußte, daß sie schon schliefen, fiel es ihnen wieder ein.
»Jane, Jane!« flüsterte Michael. »Ich höre jemand auf der Treppe herumschleichen — horch!«
»Pst!« machte Jane aus ihrem Bett, denn auch sie hatte das Schleichen gehört.
Auf einmal ging mit leisem Knacken die Tür auf und jemand huschte ins Zimmer. Es war Mary Poppins, in Hut und Mantel, fertig zum Ausgehen.
Rasch und heimlich bewegte sie sich durchs Zimmer.
Jane und Michael beobachteten sie unter den Augenlidern hervor und rührten sich nicht.
Zuerst huschte sie zur Kommode, öffnete eine Schublade und schloß sie gleich wieder. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Sie beugte sich nieder und legte etwas hinein oder nahm etwas heraus. Was von beiden sie tat, vermochten die Kinder nicht zu erkennen. Schnapp! Die Tür des Kleiderschrankes schloß sich, und Mary Poppins verließ das Zimmer.
Michael setzte sich im Bett auf.
»Was hat sie gemacht?« flüsterte er Jane kaum vernehmlich zu.
»Keine Ahnung! Vielleicht hatte sie ihre Handschuhe vergessen oder ihre Schuhe oder —« Jane unterbrach sich plötzlich. »Horch, Michael!«
Er horchte. Von unten — vom Garten, wie es schien — konnten sie mehrere Stimmen eifrig und aufgeregt miteinander flüstern hören.
Mit einem Satz sprang Jane aus dem Bett und winkte Michael. Sie schlichen auf bloßen Füßen ans Fenster, verbargen sich hinter dem Vorhang und guckten hinunter.
Draußen auf der Straße standen drei Gestalten: zwergenhaft klein die eine, die beiden anderen riesengroß.
»Mistreß Corry, Miß Fannie und Miß Annie!« flüsterte Jane.
So war es. Sie bildeten eine seltsame Gruppe. Mistreß Corry spähte durch die Latten des Gartentores von Nummer 17, Miß Fannie balancierte zwei lange Leitern auf ihrer mächtigen Schulter, und Miß Annie trug in der einen Hand einen großen Eimer mit etwas, das aussah wie Leim, und in der andern Hand einen gewaltigen Malerpinsel.
Von ihrem Versteck hinter dem Vorhang aus konnten Jane und Michael deutlich ihre Stimmen verstehen.
»Sie verspätet sich!« sagte Mistreß Corry soeben, mürrisch und ärgerlich.
»Vielleicht«, meinte Miß Fannie schüchtern und rückte die Leiter auf ihrer Schulter zurecht, »vielleicht ist eins der Kinder krank geworden, und sie konnte nicht —«
»Zur rechten Zeit fortkommen«, vollendete Miß Annie aufgeregt den Satz ihrer Schwester.
»Ruhe!« befahl Mistreß Corry voll Zorn, und Jane und Michael hörten sie deutlich etwas flüstern, das wie »große, hirnlose Giraffen« klang. Sie waren sich klar, daß sich das auf Mistreß Corrys unglückliche Töchter bezog.
»Still!« sagte Mistreß Corry plötzlich. Sie horchte mit zur Seite geneigtem Kopf wie ein kleiner Vogel.
Ein Geräusch kam von der Haustür, die sacht geöffnet und wieder zugemacht wurde. Dann raschelten auf dem Kiesweg leise Schritte. Mistreß Corry lächelte und winkte mit der Hand, als Mary Poppins näher kam. Sie trug einen Marktkorb am Arm, und darin lag etwas, von dem ein schwaches, geheimnisvolles Leuchten auszugehen schien.
»Kommen Sie, wir müssen uns eilen! Wir haben nicht mehr viel Zeit!« rief Mistreß Corry und nahm Mary Poppins am Arm.
»Schlaft nicht, ihr zwei!« Und sie ging voraus, gefolgt von Miß Fannie und Miß Annie, die sichtlich bemüht waren, recht lebhaft zu wirken, doch ohne viel Erfolg. Unter ihrer Last gebeugt trampelten sie schwerfällig hinter ihrer Mutter und Mary Poppins her.
Jane und Michael sahen, wie alle vier den Kirschbaumweg hinuntergingen, sich dann ein wenig nach links wandten und den Hügel hinaufstiegen. Oben, wo es keine Häuser mehr gab, nur noch Gras und Klee, blieben sie stehen. Miß Annie setzte ihren Eimer mit Leim ab. Miß Fannie ließ die Leitern von der Schulter gleiten und richtete sie auf, bis sie beide sicher standen. Dann hielt sie die eine und Miß Annie die andere Leiter ganz fest.
»Was, um Himmels willen, haben sie vor?« fragte Michael gähnend.
Aber Jane antwortete ihm nicht, und er sah nun selber, was geschah.
Sobald Miß Fannie und Miß Annie die Leitern so aufgestellt hatten, daß sie mit dem einen Ende fest auf der Erde standen, während sie mit dem anderen am Himmel zu lehnen schienen, raffte Mistreß Corry ihre Röcke zusammen, nahm den Eimer mit Leim in die eine Hand und ergriff mit der andern den Malerpinsel. Dann setzte sie ihren Fuß auf die unterste Leitersprosse und begann hinaufzusteigen. Mary Poppins, den Korb in der Hand, stieg die zweite Leiter hinauf.
Und jetzt bekamen Jane und Michael etwas höchst Merkwürdiges zu sehen. Sobald Mistreß Corry an der Spitze ihrer Leiter angelangt war, tunkte sie ihren Pinsel in den Leim und schwappte das klebrige Zeug an den Himmel. Kaum war das geschehen, da nahm Mary Poppins etwas Leuchtendes aus ihrem Korb und tupfte es an den Leim. Als sie ihre Hand wegzog, sahen die Kinder, daß sie Pfefferkuchensterne an den Himmel klebte. Jeder Stern fing gleich an zu funkeln und sandte blitzende, goldene Strahlen aus.
»Das sind doch unsere Sterne!« sagte Michael atemlos. »Unsere
Sterne. Sie glaubte, wir schliefen, und kam herein und hat sie geholt.«