52064.fb2
»Was?« riefen John und Barbara wie aus einem Munde und sehr erstaunt. »Wirklich? Du glaubst, früher haben sie den Star verstanden, und den Wind und ...«
»Und die Bäume und die Sprache des Sonnenlichts und der Sterne — natürlich haben sie's verstanden. — Früher!« bestätigte Mary Poppins.
»Aber — wieso haben sie dann alles vergessen?« fragte John, zog seine Stirn in Falten und versuchte, es zu begreifen.
»Aha!« sagte der Star und blickte verständnisvoll vom letzten Rest seines Zwiebacks auf, »das möchtet ihr wohl gerne wissen?«
»Nur weil sie älter geworden sind«, erklärte Mary Poppins. »Barbara, sei lieb und zieh schnell deine Söckchen wieder an!«
»Das ist ein dummer Grund«, sagte John mit einem unfreundlichen Blick.
»Es ist aber der wahre«, sagte Mary Poppins und zog an Barbaras Knöchel die Söckchen hoch.
»Dann sind eben Jane und Michael dumm«, beharrte John. »Ich werd's nicht vergessen, wenn ich älter werde, das weiß ich bestimmt!«
»Ich auch nicht!« sagte Barbara, die zufrieden an ihrem Finger lutschte.
»Doch, ihr werdet's vergessen!« sagte Mary Poppins fest.
Die Zwillinge setzten sich auf und sahen sie an.
»Huh!« machte der Star verächtlich. »Sieh mal an. Ich glaub gar, ihr haltet euch für ein Weltwunder. Ihr seid mir die Rechten! Natürlich werdet ihr's vergessen — genau wie Jane und Michael.«
»Das werden wir nicht«, sagten die Zwillinge und blickten den Star dabei an, als wollten sie ihn am liebsten umbringen.
Der Star lachte sie aus:
»Wenn ich's euch sage! Natürlich ist es nicht eure Schuld«, fuhr er freundlicher fort. »Ihr werdet's vergessen, weil ihr halt nicht anders könnt. Noch nie hat ein Menschenkind sich daran erinnern können, sobald es älter war als ein Jahr, allerhöchstens — mit einer Ausnahme, versteht sich: SIE.« Damit drehte er ruckhaft den Kopf und warf Mary Poppins über die Schulter weg einen Blick zu.
»Aber wieso kann sie sich erinnern und wir sollten's nicht können?« fragte John.
»Ja-a-a! Sie ist etwas anderes. Sie stellt die große Ausnahme dar. Mit ihr könnt ihr euch nicht vergleichen«, sagte der Star und lachte sie aus.
John und Barbara verstummten, und der Star fuhr fort:
»Seht ihr, sie ist etwas Besonderes«, erklärte er. »Nicht dem Aussehen nach, versteht sich. Am ersten Tag schon ist eins meiner neugeborenen Jungen hübscher, als es Mary Poppins je war . .. «
»So eine Unverschämtheit!« rief Mary Poppins erbost, fuhr auf ihn los und schlug mit ihrer Schürze nach ihm. Aber der
Star hüpfte beiseite und flog auf den Fensterrahmen hinauf. Dort war er außer Reichweite und pfiff schadenfroh.
»Glaubtest wohl, du hättest mich diesmal, gelt?« höhnte er und schüttelte seine Schwungfedern.
Mary Poppins schnaufte wütend.
Das Sonnenlicht setzte seinen Weg durchs Zimmer fort und zog seinen langen, goldenen Strahl hinter sich her. Draußen hatte sich ein leichter Wind erhoben, der den Kirschbäumen auf dem Weg leise etwas zuraunte.
»Horcht, horcht, was der Wind erzählt«, rief John und wandte lauschend den Kopf. »Und das können wir nicht mehr hören, wenn wir erst älter sind? Ist das dein Ernst, Mary Poppins?«
»Hören werdet ihr's wohl«, sagte Mary Poppins, »aber nicht mehr verstehen.«
Hier fing Barbara leise zu weinen an. Auch John kamen die Tränen.
»Nun, da ist nichts zu ändern. Das ist der Lauf der Welt«, sagte Mary Poppins voller Mitgefühl.
»Ah, da schau her!« höhnte der Star. »Schaut sie nur an! Heulen sich fast zu Tode! Ein Star, der noch im Ei steckt, hat wahrlich mehr Verstand. Schaut sie nur an!«
Denn John und Barbara weinten nun zum Erbarmen in ihren Bettchen — langgezogene Schluchzer tiefster Verzweiflung.
Auf einmal öffnete sich die Tür, und herein kam Mistreß Banks.
»Mir war, als hörte ich die Kleinen«, sagte sie und eilte auf die Kinderbettchen zu. »Was habt ihr denn, meine Schätzchen? Meine Herzchen, meine süßen, geliebten Vögelchen, was fehlt euch denn? — Warum weinen sie so, Mary Poppins? Den ganzen Nachmittag sind sie so lieb gewesen, kein Ton war von ihnen zu hören. Was fehlt ihnen bloß?«
»Ja, Madam. Nein, Madam. Ich glaube, daß sie ihre Zähnchen bekommen, Madam«, erwiderte Mary Poppins vorsichtig und vermied es, den Star anzusehen.
»Oh, natürlich, das wird's sein!« rief Mistreß Banks beruhigt.
»Ich will aber keine Zähne, wenn ich dann alles vergesse, was mir das Liebste ist!« jammerte John und warf sich im Bettchen hin und her.
»Ich auch nicht!« schluchzte Barbara und vergrub ihr Gesichtchen im Kissen.
»Meine armen, kleinen Herzchen — es wird ja wieder gut, wenn nur erst die bösen, dummen Zähnchen da sind!« beschwichtigte Mistreß Banks und ging von einem Bettchen zum anderen.
»Du verstehst mich nicht«, heulte John wütend. »Ich will gar keine Zähne.«
»Nichts wird gut, alles wird schlecht«, weinte Barbara in ihr Kissen.
»Ps-ps-ps! So-so-so! Die Mutti weiß doch — die Mutti versteht euch doch! Alles wird wieder gut, wenn erst die Zähnchen da sind«, summte Mistreß Banks zärtlich. Vom Fenster her kam ein schwaches Geräusch. Es war der Star, der rasch ein Lachen verschluckte. Mary Poppins warf ihm einen Blick zu, der ihn einschüchterte, und er beobachtete von da ab die Szene, ohne im geringsten zu lächeln.
Mistreß Banks tätschelte sanft ihre Kinder, erst das eine, dann das andere, und murmelte Worte, die sie für beruhigend hielt.
Plötzlich hörte John mit dem Weinen auf. Er war sehr gutartig und hatte seine Mutter gern. Er fand, man müsse gerecht sein. Arme Frau! Es war ja nicht ihr Fehler, daß sie immer das Falsche sagte. Es lag daran, daß sie nichts verstand, überlegte er. Und um zu zeigen, daß er ihr verzieh, drehte er sich auf den Rücken, schluckte trotz allen Kummers die Tränen hinunter, packte seinen rechten Fuß mit beiden Händen und rieb die Zehen an seinem offenen Mund.
»So etwas Geschicktes! Nein, so etwas Geschicktes!« rief seine Mutter bewundernd. Gleich tat er es noch einmal, und sie war vollends entzückt.
Dann krabbelte Barbara, die hinter ihrem Brüderchen nicht zurückstehen wollte, aus ihrem Kissen hervor, setzte sich mit tränen-überströmtem Gesichtchen auf und zog ihre Söckchen aus.
»Ein großartiges Mädchen!« sagte Mistreß Banks stolz und gab ihr einen Kuß.
»Da sehen Sie's, Mary Poppins. Sie sind schon wieder lieb. Mir gelingt es immer, sie zu beruhigen. Ganz lieb, ganz lieb!« wiederholte sie, als summte sie ein Wiegenlied. »Und die Zähnchen sind sicher bald durch.«
»Gewiß, Madam«, sagte Mary Poppins ruhig. Und Mistreß Banks lächelte den Zwillingen zu, ging hinaus und schloß die Tür.
Kaum war sie verschwunden, brach der Star roh in schallendes Gelächter aus.
»Entschuldigt, daß ich so lache«, rief er. »Aber wirklich — ich kann nicht anders. So ein Theater! Nein, so ein Theater!«