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Überrascht und erstaunt sprangen sie aus den Betten.
»Komm!« sagte Jane. »Es ist etwas los.« Und sie tastete im Dunkeln nach ihren Sachen.
»Beeilt euch!« rief die Stimme wieder.
»O je, alles, was ich finden kann, ist meine Matrosenmütze und ein Paar Handschuhe!« rief Michael, der im Zimmer umherlief, Schubladen aufzog und in Fächern herumtastete.
»Das genügt. Zieh sie an. Es ist nicht kalt. Komm jetzt.«
Jane hatte für sich nur ein kleines Jäckchen von John finden können, doch sie zwängte ihre Arme hinein und öffnete die Tür.
Draußen war niemand, aber es schien ihnen, als hörten sie etwas die Treppe hinunterhuschen. Jane und Michael folgten. Wer oder was es immer es war, es hielt sich beständig vor ihnen. Sie sahen es nie, aber sie hatten das bestimmte Gefühl, ein Etwas, das ihnen winkte zu folgen, führte sie immer weiter. Jetzt waren sie auf der Straße, wo ihre Pantoffeln beim Laufen ein leise schlürfendes Geräusch auf dem Pflaster erzeugten.
»Beeilt euch!« rief die Stimme wieder, diesmal von der nächsten Straßenecke, aber als sie um die Ecke bogen, war wieder nichts zu sehen. Nun begannen sie zu laufen, Hand in Hand, immer der Stimme nach, durch Straßen und Alleen, durch Torbögen und über Parkwege, keuchend und atemlos, bis sie vor einem Drehkreuz in einer Mauer zum Stehen kamen.
»Jetzt seid ihr da!« sagte die Stimme.
»Wo?« fragte Michael. Aber es kam keine Antwort. Michael an der Hand ziehend, ging Jane zum Drehkreuz.
»Schau!« sagte sie, »siehst du nicht, wo wir sind? Am Zoo!«
Ein strahlend heller Vollmond leuchtete am Himmel. Bei seinem Schein untersuchte Michael das eiserne Gitter und schaute durch die Stäbe. Natürlich! Wie dumm von ihm, daß er es nicht gemerkt hatte! Sie waren am Zoo.
»Aber wie kommen wir hinein?« fragte er. »Wir haben doch kein Geld.«
»Schon gut!« kam eine tiefe, brummige Stimme von drinnen. »Besondere Besucher haben heute nacht freien Eintritt. Dreht bitte das Rad!«
Jane und Michael taten es, und schon waren sie drin.
»Hier ist eure Eintrittskarte!« sagte die brummige Stimme, und als sie aufschauten, sahen sie einen großen Braunbären. Er trug einen Rock mit Messingknöpfen und auf dem Kopf eine Schirmmütze. In seiner Tatze hatte er zwei rosa Karten, die er den Kindern hinhielt.
»Wir geben doch sonst die Karten ab«, sagte Jane.
»Sonst gilt, was man sonst tut. Heute nacht behaltet ihr sie«, sagte der Bär lächelnd.
Michael hatte ihn recht genau betrachtet.
»Dich kenne ich«, sagte er zu dem Bären. »Dir hab ich einmal eine Büchse mit goldgelbem Sirup gegeben.«
»Das stimmt«, sagte der Bär. »Aber du hattest vergessen, den Deckel herunterzugeben. Weißt du, daß ich gut zehn Tage meine liebe Not mit dem Deckel hatte? Paß künftig besser auf!«
»Aber warum bist du nicht in deinem Käfig? Bist du nachts immer draußen?« fragte Michael.
»Nein — nur wenn der Geburtstag auf den Vollmond fällt. Aber ihr müßt mich entschuldigen, ich muß auf das Tor achtgeben.« Und der Bär wandte sich um und machte sich am Drehkreuz zu schaffen.
Jane und Michael gingen, die Billetts in der Hand, in den Zoo hinein. Im Schein des Vollmonds waren jeder Baum, jede Blume und jeder Strauch zu erkennen. Auch die Häuser und Käfige hoben sich ab.
»Da ist ja allerhand los!« bemerkte Michael.
Und so war es auch. Auf allen Wegen liefen Tiere umher, manchmal in Gesellschaft von Vögeln, manchmal allein. Zwei Wölfe überholten die Kinder und sprachen eifrig auf einen großen Storch ein, der mit zierlich leichten Schritten zwischen ihnen stolzierte. Im Vorübergehen verstanden Jane und Michael deutlich die Worte »Geburtstag« und »Vollmond«.
Nicht weit von ihnen schlenderten nebeneinander drei Kamele einher, und dort wanderten ein Biber und ein amerikanischer Geier, tief ins Gespräch versunken. Den Kindern kam es vor, als redeten sie alle über das gleiche Thema.
»Wer heut wohl Geburtstag hat, möcht ich wissen«, sagte Michael, aber Jane lief weiter und hatte nur Augen für ein besonderes Schauspiel.
Vor dem Elefantenkäfig ging auf allen vieren ein großer, sehr dicker, alter Herr. Auf seinem Rücken waren hintereinander zwei schmale Sitzpolster festgeschnallt, auf denen sich acht Affen schaukelten.
»Hier ist ja alles auf den Kopf gestellt!« rief Jane.
Der alte Herr warf ihr im Vorbeigehen einen ärgerlichen Blick zu.
»Auf den Kopf gestellt!« schnaufte er. »Ich? Auf den Kopf gestellt? Ganz gewiß nicht. So eine Frechheit!« Die acht Affen lachten ungezogen.
»O bitte, ich hab nicht Sie gemeint, sondern — das alles hier«, wollte Jane erklären und lief ihm nach, sich zu entschuldigen. »An gewöhnlichen Tagen reiten die Menschen auf den Tieren, und hier ist es umgekehrt. Das meinte ich.«
Aber der alte Herr blieb dabei, es sei eine Frechheit, und setzte, mühsam nach Luft schnappend, mit den kreischenden Affen auf dem Rücken seinen Weg fort. Jane sah, es hatte keinen Zweck, ihm zu folgen. So nahm sie Michael an der Hand und ging weiter. Da wurden sie plötzlich durch eine Stimme erschreckt, die sie dicht vor ihren Füßen anrief: »Kommt her, ihr beiden! Kommt her! Will mal sehen, ob ihr nach ein paar Orangenschalen taucht, die ihr gar nicht haben wollt!« Es war eine verbitterte, böse Stimme, sie kam von einem kleinen, schwarzen Seehund, der aus dem mondbeschienenen Wasser eines Tümpels nach ihnen schielte.
»Kommt nur her und seht, ob ihr das möchtet!« rief er.
»Aber — wir können ja gar nicht schwimmen«, sagte Michael.
»Das ist gleich, das hättet ihr vorher bedenken sollen! Niemand denkt daran, ob ich schwimmen kann oder nicht. Na, was gibt's denn? Was willst du?«
Mit dieser Frage wandte er sich an einen anderen Seehund, der aus dem Wasser aufgetaucht war und ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte.
»Wer?« fragte der erste Seehund. »So sprich doch deutlicher!«
Der andere Seehund flüsterte wieder. Jane verstand: »Besondere Besucher — Freunde von —« und dann nichts mehr. Der erste Seehund schien enttäuscht, trotzdem aber sagte er höflich zu Jane und Michael:
»Oh, bitte um Entschuldigung! Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen! Bitte, verzeihen Sie!« Und er hielt ihnen seine Flosse hin und schüttelte ihnen beiden schlaff die Hand.
»Kannst du nicht sehen, wohin du trittst, oder ist das zuviel verlangt?« rief er, als jemand Jane anbumste. Sie drehte sich auf den Absätzen um und fuhr erschrocken zurück, als sie einen riesigen Löwen vor sich stehen sah. Die Augen des Löwen leuchteten freudig auf, als er sie erblickte.
»Oh, ich muß sagen —«, fing er an. »Ich hab nicht gewußt, daß ihr es seid. Hier ist es heute nacht so überfüllt, und ich hab es so eilig, weil ich die Menschenfütterung sehen will. Ich fürchte, ich habe nicht genug auf den Weg geachtet. Kommt ihr mit? Ihr solltet euch das nicht entgehen lassen!«
»Vielleicht«, sagte Jane artig, »wenn Sie uns den Weg zeigen wollen?« Sie fühlte sich dem Löwen gegenüber etwas unsicher, obwohl er ganz freundlich aussah. Und überhaupt, dachte sie, heute nacht steht hier alles kopf.
»Sehr angenehm!« sagte der Löwe ein wenig geziert und reichte ihr den Arm. Sie nahm ihn, zog aber Michael dicht neben sich, der Sicherheit halber. Er war ein runder, dicker, kleiner Junge, und schließlich, dachte sie, Löwe bleibt Löwe!
»Sieht meine Mähne nicht hübsch aus?« fragte der Löwe im Gehen. »Ich hab mir für diese Gelegenheit frische Dauerwellen machen lassen!«
Jane betrachtete ihn. Sie sah, daß seine Mähne sorgfältig geölt und in Locken gelegt war.
»Sehr schön!« sagte sie. »Aber ist es nicht ungewöhnlich für einen Löwen, sich mit solchen Dingen abzugeben? Ich dachte —«
»Was? Meine liebe, junge Dame, du weißt ja: Der Löwe ist der König der Tiere. Er muß auf seine Stellung bedacht sein. Ich jedenfalls vergesse das nie. Ein Löwe, finde ich, sollte immer und überall eine gute Figur machen. Hier entlang, bitte!«