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»So!« zischelte sie sanft. »Das ist eine Freude — wirklich eine große Freude. Es ist lange her, seit dein Geburtstag auf einen Vollmond fiel, meine Liebe.« Sie wandte den Kopf. »Setzt euch, Freunde!« sagte sie, gnädig den Kopf neigend, zu den anderen Schlangen, die bei dieser Aufforderung wieder zu Boden sanken, sich zusammenringelten und ihre Blicke unverwandt auf die Brillenschlange und Mary Poppins hefteten.
Die Schlange wandte sich nun Jane und Michael zu. Mit leisem Schauder erkannten die beiden, daß sie noch nie in ein so winziges und verwittertes Antlitz geblickt hatten wie in dieses hier. Sie traten einen Schritt näher, angezogen von den tiefen, seltsamen Schlangenaugen. Lang und schmal waren sie, umschleiert vom Ausdruck einer geheimnisvollen Schläfrigkeit, auf deren Hintergrund zuweilen ein wachsames Licht aufblitzte wie ein Edelstein.
»Und wer ist das, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich die Schlange mit ihrer weichen, erregenden Stimme und sah die Kinder fragend an.
»Miß Jane Banks und Master Michael Banks, wenn Sie erlauben!« erwiderte der Braunbär heiser, als sei er ein wenig besorgt. »Ihre Freunde!«
»Ah, ihre Freunde. Dann sind sie willkommen. Setzt euch, bitte, meine Lieben!«
Jane und Michael, die das Gefühl hatten, vor einer Königin zu stehen — bei dem Löwen hatten sie dieses Gefühl nicht gehabt —, lösten ihre Augen nur schwer aus dem zwingenden Blick und sahen sich um, wo sie sich setzen könnten. Der Braunbär half ihnen aus der Verlegenheit. Er hockte sich nieder und bot jedem Kind ein pelziges Knie.
Jane sagte flüsternd: »Sie spricht, als sei sie eine große Herrscherin!«
»Das ist sie auch! Sie ist die Herrscherin unserer Welt — die Klügste und Furchtbarste von uns allen!« sagte der Braunbär leise und voller Ehrfurcht.
Die Schlange lächelt ein leichtes, lässiges, geheimnisvolles Lächeln und wandte sich dann an Mary Poppins.
»Kusine!« begann sie, leise zischelnd.
»Ist sie wirklich ihre Kusine?« raunte Michael.
»Kusine ersten Grades — von der Mutter Seite«, gab der Bär, hinter seiner Tatze hervor flüsternd, Auskunft. »Aber gebt acht, gleich wird sie das Geburtstagsgeschenk überreichen.«
»Kusine«, wiederholte die Brillenschlange. »Es ist lange her, seit dein Geburtstag auf einen Vollmond fiel, und lange, seit uns erlaubt war, das Ereignis so zu feiern wie heute nacht. Ich habe daher Zeit gehabt, über dein Geburtstagsgeschenk nachzudenken. Und ich bin zu der Einsicht gelangt...«, sie hielt inne, und kein anderer Laut war im Schlangenhaus zu hören als der angehaltene Atem vieler Geschöpfe, »daß ich dir nichts Besseres schenken kann als eine von meinen eigenen Häuten.«
»Das ist wirklich lieb von dir...«, begann Mary Poppins, doch die Schlange gebot durch Aufblähen ihrer Haube Schweigen.
»Durchaus nicht, durchaus nicht. Du weißt, daß ich meine Haut von Zeit zu Zeit wechsle, und daß eine mehr oder weniger mir nicht viel bedeutet. Bin ich nicht...?« Sie machte eine Pause und blickte sich um.
»... die Herrin des Dschungels«, zischelten alle Schlangen im Chor, als seien Frage und Antwort Teil einer wohlbekannten Zeremonie.
Die Schlange nickte. »Nun«, fuhr sie fort, »was für mich paßt, paßt auch für dich! Die Gabe ist nicht groß, liebe Mary, aber sie mag dir für einen Gürtel oder ein Paar Schuhe dienen, sogar für ein Hutband — solche Sachen sind immer zu gebrauchen, wie du weißt!«
Bei diesen Worten begann sie sich sacht hin und her zu wiegen, und Jane und Michael, die ihr zusahen, schien es, als liefen kleine Wellen über ihren Körper vom Schwanz bis zum Kopf. Plötzlich machte sie eine lange, drehende, ruckartige Bewegung — da lag ihre goldene Haut auf dem Boden, und sie trug statt dessen eine neue aus glitzerndem Silber.
»Warte!« sagte die Schlange, als Mary Poppins sich bückte, um die Haut aufzuheben. »Ich will eine Widmung daraufschreiben.«
Und sie strich mit ihrem Schwanz über die abgeworfene Haut, wand die goldene Hülle geschickt zu einem Ring, steckte den Kopf hindurch, daß sie wie eine Krone aussah, und überreichte sie anmutig Mary Poppins. Diese nahm sie mit einer Verbeugung entgegen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. . .«, begann sie und stockte. Sie war sichtlich hocherfreut, denn sie drehte die Haut in der Hand hin und her und betrachtete sie bewundernd.
»Laß nur!« wehrte die Schlange ab. »Hsssst!« machte sie und spreizte ihre Haube, als lausche sie mit ihr. »Hör ich da nicht das Signal für die große Kette?«
Alle horchten auf. Eine Glocke läutete, und es ertönte eine tiefe, rauhe Stimme, die immer näher kam und rief:
»Zur großen Kette! Herbei! Herbei! Aufstellen zur großen Kette!«
»Das dachte ich mir!« sagte die Schlange lächelnd. »Du mußt gehen, meine Liebe. Sicher warten sie schon darauf, daß du deinen Platz auf der Wiese einnimmst. Leb wohl bis zu deinem nächsten Geburtstag!« Und wie zuvor richtete sie sich auf und küßte Mary Poppins leicht auf beide Wangen.
»Laß dich bitte nicht aufhalten!« sagte sie. »Auf deine jungen Freunde werde ich aufpassen.«
Jane und Michael spürten, daß sich der Braunbär unter ihnen rührte, und standen auf. An ihren Füßen fühlten sie die Schlangen entlanggleiten, die jetzt, sich drehend und windend, aus dem Schlangenhaus fortstrebten.
Auch Mary Poppins stand auf, verneigte sich feierlich vor der Brillenschlange und lief, ohne den Kindern auch nur einen Blick zu schenken, auf das große Viereck mitten im Zoo zu.
»Du kannst auch gehen«, sagte die Brillenschlange zum Braunbären, der, die Mütze in der Hand, eine demütige Verbeugung machte und lostrabte, dorthin, wo alle anderen Tiere sich um Mary Poppins scharten.
»Wollt ihr mit mir kommen?« fragte die Brillenschlange Jane und Michael freundlich. Und ohne eine Antwort abzuwarten, glitt sie zwischen die beiden und wies sie mit einem Blähen ihrer Haube an, neben ihr zu gehen.
»Es hat angefangen!« sagte sie und zischelte vergnügt.
Das laute Geschrei, das jetzt vom Rasenplatz herüberklang, verriet den Kindern, daß sie die große Kette meinte. Im Näherkommen hörten sie die Tiere singen und rufen, und dann sahen sie, wie sich Leoparden und Löwen, Biber, Kamele, Bären, Kraniche, Antilopen und viele andere um Mary Poppins im Kreis aufstellten. Dann setzte der Kreis sich langsam in Bewegung. Die Tiere sangen laut ihre Urwaldlieder, hüpften im Reigen hin und her und reichten einander, wie bei der großen Kette im Lancier, im Vorbeitanzen abwechselnd Hände und Flügel.
Eine kleine, piepende Stimme hob sich hell aus den übrigen:
»Oh, Mary, Mary,
Was Bess'res gab's nie,
Gab's nie und nie und nimmermehr!«
Und sie sahen den Pinguin herantanzen, der mit seinen kurzen Flügeln wedelte und begeistert aus vollem Halse sang. Auch er sah die Kinder, verbeugte sich vor der Schlange und rief:
»Es ist mir gelungen — habt ihr mein Lied gehört? Natürlich ist es noch nicht vollkommen, >gab's nie< reimt sich nicht genau auf Mary. Aber es geht, es geht!« und er hüpfte davon, um einem Leoparden seinen Flügel anzubieten.
Jane und Michael sahen dem Reigen zu, die Schlange blieb schweigend und unbeweglich zwischen ihnen. Als ihr Freund, der Löwe, beim Vorübertanzen sich bückte, um den Flügel eines brasilianischen Fasans in seine Pranke zu nehmen, versuchte Jane scheu, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben.
»Ich dachte, sehr verehrte...«, begann sie und zögerte verwirrt, ungewiß, ob sie sprechen dürfe oder nicht.
»Sprich, mein Kind. Was dachtest du?«
»Nun — daß Löwen und Vögel, und Tiger und kleine Tiere ...«
Die Schlange half ihr. »Du dachtest, sie seien von Natur Feinde, und der Löwe könne keinem Vogel begegnen, ohne ihn zu fressen. Und der Tiger keinem Hasen — nicht?«
Jane wurde rot und nickte.
»Da magst du recht haben. So etwas gibt es. Aber nicht am Geburtstag! Heut nacht sind die Kleinen sicher vor den Großen, und die Großen beschützen die Kleinen. Selbst ich —«, die Schlange hielt inne, um, wie es schien, tief nachzudenken. »Selbst ich kann bei dieser besonderen Gelegenheit einer Ringelgans begegnen, ohne Appetit zu verspüren. Und wenn man's richtig überlegt«, fuhr sie fort und züngelte beim Sprechen mit ihrer schrecklichen, gespaltenen, kleinen Zunge, »so ist Fressen und Gefressenwerden vielleicht dasselbe. Erfahrung lehrte mich, daß es wahrscheinlich so ist. Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht, vergiß es nicht, wir aus dem Dschungel und ihr aus der Stadt. Wir bestehen aus dem gleichen Stoff — der Baum über uns, der Stein neben uns, der Vogel, das Tier, der Stern — wir alle sind eins und gehen demselben Ende entgegen. Denke daran, mein Kind, auch wenn du mich längst vergessen hast!«
»Aber wie kann ein Baum gleich einem Stein sein? Ein Vogel ist nicht wie ich. Jane ist kein Tiger!« sagte Michael beherzt.
»Meinst du?« fragte die zischelnde Stimme der Schlange. »Schau hin!« Und sie wies mit dem Kopf auf die hüpfenden Tiere.
Die Vögel und alle anderen Tiere schwenkten nun ein, und die Kette zog sich um Mary Poppins zusammen, die sich leicht hin und her wiegte. Sich öffnend und wieder schließend bewegte sich die schwingende Kette, vor und zurück, wie ein Uhrpendel. Selbst die Bäume bogen und hoben sich sanft, und der Mond schien am Himmel zu schaukeln wie ein Schiff auf dem Meer.
»Vogel und Tier, Stein und Stern — wir alle sind eins, alle eins .. .«, murmelte die Schlange und glättete sanft ihre Haube, während sie selbst zwischen den Kindern hin und her schwang.