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Mister Banks warf ihr einen so tief verletzenden Blick zu, daß sie wünschte, sie wäre weniger taktlos gewesen und hätte gesagt, sie selbst habe sie dorthin gelegt.
»Hm — hmmmm!« machte er und schneuzte sich gründlich die Nase. Dann nahm er seinen Mantel vom Haken und ging zur Eingangstür.
»Hallo, die Papageientulpen haben angesetzt«, sagte er ein wenig versöhnlicher. Er ging in den Garten hinaus und schnup-perte in der Luft. »Hm, ich glaube, der Wind kommt vom Westen.« Er blickte zu Admiral Booms Haus hinunter, wo die Fernrohr-Wetterfahne kreiste. »Hab ich mir's doch gedacht«, sagte er. »Westwind! Lind und warm. Ich werde keinen Mantel anziehen.« Damit nahm er seine Mappe und fuhr zur Stadt.
»Hast du gehört, was er gesagt hat?« Michael packte Jane am Arm.
Sie nickte. »Es ist Westwind«, sagte sie langsam.
Weiter verloren sie darüber kein Wort, aber ein Gedanke hatte sich in ihnen geregt, den sie schleunigst wieder zu unterdrücken suchten. Tatsächlich vergaßen sie ihn bald wieder, denn alles schien wie immer, und die Frühlingssonne machte das Haus so wunderbar hell, daß es keinem mehr einfiel zu behaupten, es brauche einen neuen Anstrich und neue Tapeten. Ganz im Gegenteil, sie waren alle der Ansicht, es sei das schönste Haus am Kirschbaumweg.
Aber das Unheil begann nach dem Mittagessen.
Jane war unten im Garten, um Robertson Ay zu helfen. Eben hatte sie eine Reihe Radieschen gesät, als sie im Kinderzimmer Lärm hörte und auf der Treppe den Klang von eiligen Schritten. Gleich darauf erschien Michael, keuchend und mit hochrotem Gesicht.
»Sieh doch, Jane!« rief er und hielt ihr seine Hand hin.
Da lag Mary Poppins' Kompaß! Die Scheibe drehte sich wild um den Pfeil, weil Michael aufgeregt mit der Faust hin und her fuchtelte.
»Der Kompaß?« fragte Jane erstaunt.
Michael brach in Tränen aus.
»Sie hat ihn mir geschenkt«, schluchzte er, »und gesagt, ich könne ihn jetzt ganz für mich behalten. Oh, oh, da kann etwas nicht stimmen! Noch nie hat sie mir etwas geschenkt!«
»Vielleicht hat sie nur nett sein wollen«, sagte Jane, um ihn zu beruhigen. Aber im Herzen fühlte sie sich genauso verstört wie Michael. Sie wußte wohl, daß Mary Poppins auf Nettsein keine Zeit verschwendete.
Und doch entfuhr Mary Poppins seltsamerweise an diesem Nachmittag kein unwirsches Wort. Sie sah nachdenklich aus, und wenn man sie etwas fragte, antwortete sie völlig geistesabwesend. Schließlich konnte es Michael nicht länger ertragen.
»Ach, sei doch wieder ärgerlich, Mary Poppins! Bitte, sei doch wieder ärgerlich! Du bist so anders als sonst! Oh, mir ist so bang!« Wirklich, es drückte ihm das Herz ab, weil er spürte, im Kirschbaumweg Nummer 17 ist etwas Unvorhergesehenes im Gang.
»Mach dir Sorgen, dann hast du welche!« sagte Mary Poppins mit ihrer altgewohnten Stimme. Und gleich fühlte er sich besser.
»Vielleicht ist es nur so ein dummes Gefühl«, sagte er zu Jane. »Vielleicht ist alles in Ordnung, und ich bilde es mir nur ein — meinst du nicht, Jane?«
»Wahrscheinlich«, sagte Jane langsam. Aber auch sie war nachdenklich, und ihr Herz war schwer wie Blei.
Der Wind wurde gegen Abend stärker und blies in Stößen ums Haus. Er fuhr fauchend und pfeifend durch den Kamin, schlüpfte durch die Ritzen unter den Fenstern und wirbelte im Kinderzimmer die Ecken des Teppichs hoch.
Mary Poppins brachte ihnen das Nachtessen und legte sauber und ordentlich ihre Sachen zusammen. Dann räumte sie das Kinderzimmer auf und setzte den Wasserkessel auf den Rost am Kamin.
»So!« sagte sie und schaute sich im Zimmer um, ob auch alles in Ordnung sei. Schweigend blieb sie noch einen Augenblick stehen. Dann legte sie Michael sacht eine Hand auf den Kopf und die andere auf die Schulter. »So!« wiederholte sie. »Ich bringe Robertson Ay nur schnell noch die Schuhe zum Putzen. Seid schön brav, bis ich wieder zurück bin!« Damit ging sie hinaus und machte leise die Tür hinter sich zu.
Plötzlich, als sie draußen war, hatten sie das Gefühl, sie müßten ihr nachlaufen. Aber es hielt sie etwas zurück. So blieben sie, die Ellbogen auf dem Tisch, ruhig sitzen und warteten auf ihre Rückkehr. Jeder gab sich Mühe, den andern zu beruhigen, auch ohne Worte.
»Wie albern wir sind!« sagte Jane endlich. »Es ist doch alles wie immer!« Aber sie wußte, sie sagte das nur, um Michael zu beruhigen. Sie selber glaubte nicht daran.
Die Uhr auf dem Kaminsims tickte laut. Das Feuer flackerte und knisterte und sank langsam in sich zusammen. Sie saßen immer noch am Tisch und warteten.
Schließlich sagte Michael unruhig: »Sie ist schon sehr lange fort, findest du nicht auch?«
Wie zur Antwort pfiff und lärmte der Wind um das Haus. Die Uhr tickte noch immer im alten Doppeltakt.
Plötzlich wurde die Stille durch ein Geräusch unterbrochen: Mit lautem Bums wurde die Haustür zugeschlagen.
»Michael!« rief Jane erschrocken.
»Jane!« sagte Michael, ganz blaß und verängstigt.
Sie horchten. Dann rannten sie schnell ans Fenster und schauten hinaus.
Unten vor der Tür stand Mary Poppins. In Hut und Mantel stand sie da, die Teppichtasche in einer Hand und den Schirm in der andern. Der Wind blies wild um sie her, zerrte an ihrem Rock und schob ihren Hut verwegen zur Seite. Aber, so schien es Jane und Michael, sie machte sich nichts daraus, denn sie lächelte, als verstünden sie und der Wind sich recht gut.
So blieb sie eine Weile auf der Treppe stehen und blickte zur Haustür zurück. Dann öffnete sie, obgleich es gar nicht regnete, mit einer raschen Bewegung den Schirm und schwenkte ihn über den Kopf.
Mit einem wilden Laut fuhr der Wind unter den Schirm und warf ihn hoch, als wolle er ihn Mary Poppins aus der Hand reißen. Aber sie hielt ihn fest, und das war anscheinend, was der Wind wollte. Denn jetzt riß er den Schirm noch höher in die Luft, und Mary Poppins verlor den Boden unter den Füßen. Der Wind trug sie dahin, so daß ihre Fußspitzen den Gartenweg kaum noch streiften. Dann hob er sie übers Gartentor und trieb sie hinauf zu den Zweigen der Kirschbäume an der Straße.
»Sie geht fort, Jane, sie geht fort!« rief Michael schluchzend.
»Schnell!« rief Jane. »Wir wollen die Zwillinge holen. Sie müssen sie auch noch einmal sehen.«
Weder sie noch Michael bezweifelten, daß Mary Poppins sie für immer verließ. Der Wind hatte sich ja gedreht!
Jeder holte einen der Zwillinge, und dann huschten sie zum Fenster zurück.
Mary Poppins schwebte jetzt hoch in der Luft, sie flog über die Kirschbäume weg und über die Hausdächer. Mit der einen Hand hielt sie den Schirm fest und mit der andern die Teppichtasche.
Die Zwillinge fingen leise an zu weinen.
Mit ihrer freien Hand öffneten Jane und Michael das Fenster und machten einen letzten Versuch, Mary Poppins aufzuhalten.
»Mary Poppins!« riefen sie. »Mary Poppins, komm doch wieder!«
Aber sie hörte sie nicht oder schenkte ihnen absichtlich keine Beachtung. Immer weiter segelte sie dahin, immer höher hinauf in die wolkenerfüllte, heulende Luft, bis der Wind sie schließlich über den Hügel wehte und die Kinder nichts mehr sahen als die im Sturm sich biegenden und knarrenden Bäume.
»Sie hat nur getan, was sie immer tun wollte. Sie ist geblieben, bis der Wind umschlug«, sagte Jane seufzend und wandte sich vom Fenster weg. Sie trug John wieder in sein Bettchen und legte ihn hinein. Michael erwiderte nichts, aber als er Barbara in ihr Bettchen zurückbrachte und zudeckte, seufzte auch er traurig.
»Ob wir sie wohl irgendwann einmal wiedersehen?« sagte Jane.
Plötzlich hörten sie Stimmen auf der Treppe.
»Kinder, Kinder!« rief Mistreß Banks und öffnete die Tür. »Kinder — ich bin sehr böse. Mary Poppins hat uns verlassen —«
»Wir wissen's«, sagten Jane und Michael.
»Ihr wißt es?« fragte Mistreß Banks erstaunt. »Hat sie euch denn gesagt, daß sie fortgeht?«