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Aber zu guter Letzt mußte sie dem Bäcker wieder verzeihen, denn er war der einzige in der Nachbarschaft, der so flache Kipfel machte mit so knusprigen Zipfeln. Seitdem konnte sie ihn aber nicht mehr leiden, und deshalb zog er, wenn er kam, den Hut tief ins Gesicht, damit Miß Lark denken sollte, er sei jemand anderer. Aber das dachte sie nie.
Jane und Michael merkten es immer, wenn Miß Lark im Garten war oder den Weg entlangkam, denn sie trug so viele Anhänger und Halsketten und Ohrringe, daß es wie ein Glockenspiel klimperte und klingelte. Jedesmal sagte sie das gleiche, wenn sie ihnen begegnete:
»Guten Morgen!« (oder »guten Abend!«, wenn es nach dem Essen war). »Nun, wie geht es uns heute?«
Jane und Michael wußten nie ganz sicher, ob sie sich erkundigte, wie es ihnen ging oder ihr und Andy.
Daher antworteten sie nur: »Guten Abend!« (oder »guten Morgen!«, wenn es vor dem Essen war).
Wo immer die Kinder auch waren, den lieben, langen Tag hörten sie Miß Lark mit lauter Stimme rufen:
»Andy, wo bist du?« oder
»Andy, du sollst doch nicht ohne Mantel hinaus!« oder
»Andy, komm zu Mutter!«
Und wer's nicht besser wußte, hätte geglaubt, Andy sei ein kleiner Junge. Übrigens meinte Jane, Miß Lark bilde sich ein, Andy sei ein kleiner Junge. Aber das war er keineswegs. Er war ein Hund — ein kleiner, seidiger, flaumhaariger Hund, der wie ein Pelzmuff aussieht, solange er nicht kläfft. Sobald er das tut, merkt man natürlich, daß es ein Hund ist. Denn ein Pelzmuff macht niemals so einen fürchterlichen Krach.
Nun, Andy führte ein sehr luxuriöses Leben, man hätte glauben können, er sei der Kalif von Bagdad in einer neuen Verkleidung. Er schlief auf einem seidenen Kissen in Miß Larks Zimmer. Zweimal in der Woche fuhr er im Auto zum Friseur zum Haarwaschen. Zu jeder Mahlzeit bekam er Sahne und manchmal sogar Austern. Und er besaß vier Mäntel mit Karos und Streifen in verschiedenen Farben. Andy bekam jeden Tag Sachen geschenkt, die andere Leute nur zum Geburtstag bekommen. Und wenn er Geburtstag hatte, brannten auf seinem Kuchen zwei Kerzen für jedes Jahr, und nicht nur eine.
All das machte Andy in der Nachbarschaft höchst unbeliebt. Die Leute lachten laut, wenn sie ihn auf dem Weg zum Friseur aufrecht im Auto sitzen sahen, angetan mit seinem besten Mantel und einer Pelzdecke über den Füßen. Und an dem Tag, an dem Miß Lark ihm zwei Paar kleine Lederstiefelchen gekauft hatte, damit er bei jedem Wetter in den Park könne, lief vor dem Haus die Nachbarschaft der ganzen Straße zusammen, um zu sehn, wie er ausgeführt wurde, und alle lachten heimlich hinter der vorgehaltenen Hand.
»Pff!« machte Michael, als sie ihn eines Tages wieder einmal durch den Zaun beobachteten, der Nummer 17 vom Nebenhaus trennte. »Pff, er ist ein Dummerjan!«
»Woher weißt du das?« fragte Jane interessiert.
»Ich weiß es, weil ich heute morgen hörte, wie Pappi ihn so genannt hat«, erwiderte Michael und lachte frech.
»Er ist keineswegs ein Dummerjan, und damit basta!« sagte Mary Poppins.
Und sie hatte recht, Andy war kein Dummerjan, wie ihr gleich merken werdet.
Ihr dürft nicht glauben, daß er Miß Lark etwa nicht schätzte. Das nicht. Er hatte sie sogar auf seine Art gern. Wenn sie ihn für seinen Geschmack auch zu oft küßte, so konnte er doch einem Wesen nicht gram sein, das ihn seit seinen Babytagen sehr verwöhnte. Aber ohne Zweifel langweilte ihn dieses Leben bis zur Verzweiflung. Für ein schönes Stück rohes Fleisch statt der gewohnten Hühnerbrust oder des ewigen Rühreis mit Spargel hätte er die Hälfte seines Vermögens gegeben, wenn er eines gehabt hätte.
Dieser Andy sehnte sich im tiefsten Innern danach, ein ganz gewöhnlicher Hund zu sein. Nie konnte er an seinem Stammbaum vorbei (er hing in Miß Larks Salon an der Wand), ohne daß es ihn heiß überlief. Und oft wünschte er, nie einen Vater, einen Großvater und einen Urgroßvater gehabt zu haben, da Miß Lark so ein Getue damit machte.
Das Verlangen, ein Hund wie alle anderen zu sein, war der Grund, daß sich Andy stets nur ganz gewöhnliche Hunde zu Freunden wählte. Und sooft sich die Gelegenheit bot, rannte er zum Vordertor, saß dort und paßte sie ab, um mit ihnen wenigstens ein paar allgemeine Redensarten tauschen zu können. Aber wenn ihn Miß Lark dort entdeckte, rief sie sofort:
»Andy, Andy, komm herein, mein Liebling! Komm weg von diesen schrecklichen Straßenkötern!«
Ganz klar, daß Andy hineingehen mußte. Miß Lark würde sonst herauskommen und ihn hineintragen — welche Schande! In seiner
Verlegenheit rannte Andy die Stufen hinauf, damit seine Freunde nicht hörten, wie Miß Lark ihn ihren »Goldschatz« nannte, ihren »Wonnekloß«, ihr »Zuckerhäschen«.
Andys besonderer Freund war ein mehr als gewöhnlicher Köter, der reinste Kinderschreck. Halb Airedaler und halb Vorstehhund, hatte er von beiden Teilen die schlechtere Hälfte erwischt. Wenn es in der Straße eine Rauferei gab, konnte man sicher sein, ihn im dicksten Knäuel zu finden. Dauernd gab es Händel mit dem Briefträger oder dem Schutzmann, und am liebsten schnüffelte er in Straßenrinnen und Abfalleimern herum. Er war tatsächlich der Schrecken der ganzen Straße, und mehr als einer war froh, daß es nicht sein Hund war, und sagte es auch.
Aber Andy liebte ihn und schaute fast immer nach ihm aus. Manchmal reichte es nur zu einem kurzen Beschnüffeln im Park, aber bei günstigeren Gelegenheiten, freilich sehr selten, führten sie ausgedehnte Unterhaltungen am Tor. Von diesem Freund erfuhr Andy allen Stadtklatsch, und die Art, wie jener beim Erzählen roh auflachte, verriet, daß er sich nicht gerade sehr fein ausdrückte.
Meist ertönte dann Miß Larks Stimme aus einem Fenster. Darauf erhob sich der fremde Hund, streckte Miß Lark die Zunge heraus, wedelte Andy zu und trollte sich, sein Hinterteil schwenkend, wie um zu zeigen, daß es i h m nichts ausmachte.
Natürlich war es Andy niemals erlaubt, vors Tor zu laufen, wenn er nicht mit Miß Lark zu einem Spaziergang in den Park ging oder mit einem der Mädchen zum Maniküren seiner Pfoten.
Stellt euch also die Überraschung vor, als Andy eines Tages ganz allein hinter Jane und Michael herjagte, die Ohren zurückgelegt und mit hochgestelltem Schwanz, wie auf der Fährte eines Tigers.
Mary Poppins hielt mit einem Ruck den Kinderwagen an, damit ihn Andy auf seiner Jagd nicht mitsamt den Zwillingen umwarf. Und Jane und Michael riefen dem Vorbeijagenden zu: »He, Andy! Wo ist dein Mantel?« Michael versuchte, seine Stimme so hoch und aufgeregt klingen zu lassen wie die von Miß Lark.
»Andy, du ungezogener Bengel!« Das war Jane, und da sie ein Mädchen war, glich ihre Stimme viel eher der von Miß Lark.
Aber Andy guckte beide nur hochmütig an und bellte heftig zu Mary Poppins hinüber.
»Waff-Waff!« machte er mehrmals hintereinander.
»Moment mal! Ich glaube, zuerst rechts und dann das zweite Haus auf der linken Seite!« sagte Mary Poppins.
»Waff?« machte Andy.
»Nein — kein Garten. Nur ein Hinterhof. Das Tor ist gewöhnlich offen.«
Andy bellte wieder.
»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte Mary Poppins, »aber ich glaube, es stimmt. Meistens kommt er um diese Zeit heim.«
Andy warf den Kopf zurück und jagte im Galopp wieder davon.
Janes und Michaels Augen waren vor lauter Staunen rund wie ein Teller.
»Was hat er gesagt?« fragten beide zugleich, atemlos.
»Nur so >guten Tag!<« erwiderte Mary Poppins und schloß ihre Lippen so fest, als sollte ihnen kein Wort mehr entschlüpfen. John und Barbara in ihrem Wagen glucksten.
»So war es gar nicht!« rief Michael.
»So kann's nicht gewesen sein!« meinte Jane.
»Nun, ihr wißt es natürlich besser! Wie gewöhnlich!« sagte Mary Poppins spöttisch.
»Ich glaub, er hat dich gefragt, wo irgendwer wohnt, er muß ...«, fing Michael wieder an.
»Nun, wenn du's weißt, wozu machst du dir die Mühe und fragst?« sagte Mary Poppins von oben herab. »Ich bin doch kein Auskunftsbüro!«
»Oh, Michael, sie wird es uns nie sagen, wenn du so redest! Ach bitte, Mary Poppins, sag uns doch, was Andy von dir wollte!«
»Frag ihn doch! Er weiß es ja — der Herr Alleswisser!« Und Mary Poppins wies mit dem Kopf erzürnt auf Michael.
»O nein, ich weiß es nicht. Ich schwöre dir, ich weiß es nicht, Mary Poppins! Bitte, sag's doch!«