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7- Kapitel. Der Abendausgang

»Was, keinen Pudding?« beschwerte sich Michael, als Mary Poppins, den Arm voller Teller, Becher und Messer, den Tisch für den abendlichen Tee zu decken begann.

Sie drehte sich um und warf ihm einen strengen Blick zu.

»Heute abend«, sagte sie kurz, »hab ich Ausgang. Deshalb wirst du Brot und Butter und Erdbeermarmelade essen und Gott dankbar sein. Manch kleiner Junge wäre froh, wenn er das hätte!«

»Ich nicht«, murrte Michael. »Ich möchte Reispudding mit Honig drin.«

»Du möchtest! Du möchtest! Immer möchtest du was. Bald dies, bald das, bald das eine, bald das andere. Nächstens möchtest du noch den Mond haben.«

Er steckte die Hände in die Taschen und ging verdrossen zur Fensterbank. Dort kniete Jane und blickte in den hellen, frostklaren Himmel. Er kletterte neben sie, immer noch mit verdrossener Miene.

»Na schön! Dann möchte ich eben den Mond haben. Nun gerade!« rief er Mary Poppins über die Schulter zu. »Aber ich weiß, ich kriege ihn nicht. Nie gibt mir einer was.«

Vor ihrem bösen Blick wandte er sich eilends ab.

»Jane«, sagte er, »es gibt keinen Pudding.«

»Stör mich jetzt nicht, ich zähle gerade!« sagte Jane, das Gesicht ans Fenster gepreßt, so daß ihre kleine Nasenspitze ganz breitgequetscht wurde.

»Was zählst du denn?« fragte er, nicht allzu interessiert. Ihm lag immer noch sein Reispudding mit Honig im Sinn.

»Sternschnuppen. Guck, da ist wieder eine! Das ist die siebente. Und noch eine! Acht. Und eine über dem Park — das sind neun!«

»O — o — oohh, und dort fällt eine in Admiral Booms Schornstein!« sagte Michael, sich plötzlich aufrichtend, und schon hatte er den Pudding vergessen.

»Und da eine kleine — guck! Sie schießt quer über die Straße. Was für ein kaltes Licht!« rief Jane. »Ach, ich wünschte, wir wären draußen! Wer schießt denn die Sternschnuppen ab, Mary Poppins?«

»Kommen sie aus einer Kanone?« erkundigte sich Michael.

Mary Poppins zog verächtlich die Luft durch die Nase.

»Wofür haltet ihr mich? Für ein Konversationslexikon? Von A bis Z?« fragte sie böse. »Kommt gefälligst und eßt euer Abendbrot!« Sie schob beide zu ihren Stühlen hin und ließ den Rolladen herunter. »Und keinen Unfug mehr. Ich hab's eilig!«

Und sie zwang sie, so rasch zu essen, daß die Kinder Angst hatten, sich zu verschlucken.

»Kann ich noch 'ne Schnitte haben?« fragte Michael und streckte die Hand nach dem Teller mit Butterbroten aus.

»Nein, nicht mehr Du hast schon mehr gegessen, als dir guttut. Nimm einen Ingwerkeks und geh zu Bett.«

»Aber . ..«

»Kein >Aber<, oder es wird dir leid tun!« fuhr sie ihn heftig an.

»Ich werde Bauchweh kriegen, ich weiß es genau«, sagte er zu Jane, doch nur ganz leise, denn wenn Mary Poppins so aussah, war es klüger den Mund zu halten. Jane überhörte seine Klage. Sie kaute langsam an ihrem Ingwerkeks und spähte dabei vorsichtig durch eine Ritze im Rollladen in den frostklaren Himmel.

»Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn .. .«

»Sagte ich >Bett< oder nicht?« fragte eine vertraute Stimme hinter ihnen.

»Ja doch, ich geh schon! Gleich, Mary Poppins!«

Und mit lautem Geschrei rannten sie ins Kinderschlafzimmer, gefolgt von Mary Poppins, die ein einfach abscheuliches Gesicht machte.

Kaum eine halbe Stunde später hatte Mary Poppins sie alle in ihren Bettchen verstaut und stopfte Leintücher und Decken energisch unter die Matratzen.

»So!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Das wäre alles für heute. Und wenn ich noch einen Mucks höre . . .«

Sie führte den Satz nicht zu Ende, aber ihr Blick sprach Bände.

». . . dann setzt's was!« ergänzte Michael. Aber er flüsterte es nur in sein Bettuch, denn er wußte, was ihm blühen würde, wenn sie es hörte. Sie rauschte aus dem Zimmer, ihre gestärkte Schürze knisterte und krachte, und sie ließ die Türe ärgerlich hinter sich zufallen. Die Kinder hörten, wie ihre Füße leicht die Treppe hinabeilten — tapp, tapp — tapp, tapp — von Absatz zu Absatz.

»Sie hat vergessen, das Nachtlicht anzuzünden«, sagte Michael und spähte um die Ecke seines Kopfkissens. »Muß die es heute eilig haben! Ich möchte zu gern wissen, wo sie hingeht!«

»Und hier hat sie den Rolladen oben gelassen!« sagte Jane, die sich im Bett aufgesetzt hatte. »Hurra, jetzt können wir die Sternschnuppen beobachten!«

Die spitzen Dächer des Kirschbaumwegs schimmerten im Frost, und das Mondlicht glitt schräg und leuchtend an ihnen herab und fiel lautlos in die dunklen Buchten zwischen den Häusern. Alles glitzerte und glänzte. Die Erde war ebenso hell wie der Himmel.

»Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig. . .«, sagte Jane und zählte eifrig die niederfallenden Sternschnuppen. Kaum war die eine ver-schwunden, da zeigte sich schon eine andere, bis endlich der ganze Himmel von tanzenden und taumelnden Sternschnuppen zu wimmeln schien.

»Wie beim Feuerwerk«, sagte Michael. »Ach, guck mal die hier! Oder wie beim Zirkus. Glaubst du, es gibt auch im Himmel einen Zirkus, Jane?«

»Ich weiß nicht recht«, meinte Jane unsicher. »Natürlich gibt es den Großen und den Kleinen Bären und Taurus, den Stier. Und Leo, den Löwen. Aber von einem Zirkus weiß ich nichts.«

»Mary Poppins wüßte es«, nickte Michael weise.

»Ja, aber sie würde es uns nicht erzählen«, sagte Jane und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wo war ich stehengeblieben? War es nicht bei einundzwanzig? Ach, Michael, so etwas Schönes — hast du gesehen? Siehst du es?« Erregt hüpfte sie im Bett auf und ab und deutete auf das Fenster.

Ein ungewöhnlich heller Stern, größer als alle, die sie bisher gesehen, schoß quer über den Himmel auf den Kirschbaumweg Nummer siebzehn zu. Er verhielt sich anders als die übrigen, denn anstatt geradeaus durch die Finsternis zu schießen, schlug er einen Purzelbaum nach dem anderen und beschrieb in der Luft seltsame Kurven.

»Duck dich, Michael!« schrie Jane plötzlich. »Er kommt hier herein!«

Sie verschwanden unter der Bettdecke und bohrten den Kopf in die Kissen.

»Glaubst du, er ist wieder weg?« kam es nach einer Weile mit erstickter Stimme von Michaels Bett. »Ich kriege keine Luft mehr!«

»Natürlich bin ich noch da!« antwortete ihm eine leise, klare Stimme. »Wofür hältst du mich denn?«

Aufs höchste überrascht stießen Jane und Michael ihre Bettdecken von sich und setzten sich auf. Dort, am Rande des Fensterbretts, gestützt auf ihren glitzernden Schweif und fröhlich leuchtend, stand die Sternschnuppe.

»Kommt mit, ihr beiden! Beeilt euch!« sagte sie und leuchtete eisig durchs Zimmer.

Michael staunte sie an.

»Aber — ich verstehe nicht. . .«, begann er.

Ein fröhliches, glitzerndes Gekicher klang auf.

»Das passiert dir wohl öfters?« sagte der Stern.

»Meinst du wirklich, wir sollen mitkommen?« fragte Jane.

»Natürlich! Und zieht euch warm an. Es ist kalt draußen!«

Sie sprangen aus den Betten und rannten zu ihren Mänteln.

»Habt ihr Geld?« fragte die Sternschnuppe kurz.

»In meiner Manteltasche hab ich zwei Pence«, sagte Jane unsicher.

»Kupferstücke? Die nützen euch nichts. Hier, fangt!« Und mit leisem Zischen, wie eine Wunderkerze, die abbrennt, begann die Sternschnuppe

Funken zu sprühen. Zwei dieser Funken flogen durchs Zimmer und landeten einer in Janes und einer in Michaels Hand.

»Beeilt euch, oder wir kommen zu spät!«

Die Sternschnuppe fuhr durchs Zimmer, durch die geschlossene Tür und die Treppe hinunter, gefolgt von Jane und Michael, die ihr glitzerndes Geld fest in der geballten Faust hielten.

»Ob das ein Traum ist, möchte ich wissen«, sagte Jane zu sich selbst, als sie über den Kirschbaumweg eilten.

»Folgt mir!« rief der Stern, als er sich am Ende der Straße, dort, wo der frostige Himmel das Pflaster zu berühren schien, in die Luft schwang und verschwand.

»Folgt mir! Folgt mir!« kam die Stimme irgendwoher aus dem Himmel. »Tretet auf einen Stern! Wollt ihr mit, so wagt den Schritt!«

Jane ergriff Michael bei der Hand und hob unentschlossen den Fuß. Zu ihrer Überraschung fand sie, daß der unterste Stern am Himmel ganz leicht zu erreichen war. Vorsichtig balancierend stieg sie hinauf. Der Stern schien fest und tragfähig.

»Komm, Michael!«

Sie eilten an dem frostklaren Himmel empor, wobei sie größere Zwischenräume übersprangen.

»Folgt mir!« rief die Stimme weit voraus. Jane machte halt und blickte hinunter; es verschlug ihr den Atem, als sie sah, wie hoch sie schon waren. Der Kirschbaum weg, ja die ganze Welt wirkte wie eine kleine, glitzernde Christbaumkugel.

»Wird dir schwindlig, Michael?« fragte sie und sprang auf einen großen flachen Stern hinüber.

»Nmm — nein, nicht, wenn du mich festhältst.«

Wieder machten sie halt. Hinter ihnen führte die große Sternentreppe zur Erde nieder, aber vor ihnen war nichts mehr zu sehen, nichts als ein dicker, blauer Fleck nackten Himmels.

Michaels Hand zitterte in der Janes.

»Www — was machen wir jetzt?« sagte er und versuchte, den Schrek-ken in seiner Stimme nicht merken zu lassen.

»Weitergehen! Weitergehen! Immer heran, meine Herrschaften! Schaut her, was wir zu bieten haben! Zahlt euer Eintrittsgeld und trefft eure Wahl! Der doppelschwänzige Drache oder das geflügelte Pferd! Magische Wunder! Wunder des Weltalls! Weitergehen! Weitergehen!«

Eine laute Stimme schien ihnen unmittelbar in die Ohren zu brüllen. Sie blickten verdutzt rundum. Es war niemand zu sehen.

»Immer 'ran, meine Herrschaften! Laßt euch den goldenen Stier und den komischen Clown nicht entgehen! Die Vorstellung der weltberühmten Sternbildertruppe! Einmal gesehen und nie wieder vergessen! Schiebt den Vorhang zur Seite und tretet ein!«

Wieder erklang die Stimme dicht neben ihnen. Jane streckte die Hand aus. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, daß das, was sie für einen leeren Sternenlosen Fleck Himmel gehalten hatten, in Wirklichkeit ein dicker dunkler Vorhang war. Sie drückte dagegen und fühlte, wie er nachgab; sie griff in eine Falte und, Michael hinter sich her ziehend, schob den Vorhang zur Seite.

Ein starker Lichtstrahl blendete sie für einen Augenblick. Als sie wieder sehen konnte, entdeckten sie, daß sie am Rande einer mit leuchtendem Sand bestreuten Manege standen. Der große blaue Vorhang hüllte die Manege von allen Seiten ein und war in der Mitte zu einer Spitze hochgezogen wie bei einem Zelt.

»Na also! Wißt ihr, daß ihr fast zu spät gekommen wärt? Habt ihr schon Eintrittskarten?«

Sie fuhren herum. Neben ihnen — sein leuchtender Fuß glitzerte im Sand — stand ein seltsamer, mächtiger Riese. Er sah aus wie ein Jäger, denn er trug ein sternengeflecktes Leopardenfell über der Schulter und an seinem mit drei großen Sternen geschmückten Gürtel ein Schwert.

»Die Eintrittskarten, bitte!« Er streckte die Hand aus.

»Ich fürchte, wir haben keine. Wissen Sie, wir wußten nicht. . .«, begann Jane.

»Oje, oje, wie unvorsichtig! Kann euch ohne Eintrittskarten leider nicht hineinlassen. Aber was habt ihr denn da in der Hand?«

Jane hielt ihm den goldenen Funken hin.

»Na, wenn das keine Eintrittskarte ist!« Er drückte den Funken zwischen die drei großen Sterne. »Noch ein Glanzstück für Orions Gürtel!« bemerkte er vergnügt.

»Bist du das?« sagte Jane und starrte ihn an.

»Natürlich — wußtest du das nicht? Aber — entschuldigt mich jetzt, ich muß auf die Tür aufpassen. Geht weiter, bitte.«

Die Kinder, die sich ziemlich gehemmt fühlten, gingen Hand in Hand weiter. Zu Rängen geordnet, stiegen rechts die Sitzreihen an, während links ein goldenes Seil den Gang von der Manege trennte. Dort stießen und drängten sich die seltsamsten Tiere; alle schimmerten wie pures Gold. Ein Pferd mit großen goldenen Flügeln tänzelte auf glitzernden Hufen vorbei. Ein goldener Fisch wirbelte mit einer Flosse den Manegensand auf. Drei kleine Böcklein sprangen mutwillig umher, auf zwei Beinen statt auf allen vieren. Und als Jane und Michael genauer hinsahen, kam es ihnen vor, als wären all die Tiere aus Sternen gemacht. Die Flügel des Pferdes bestanden aus Sternen, nicht aus Federn, die drei Böcklein hatten einen Stern auf der Nase und am Schwanz, und der Fisch war mit sternglitzernden Schuppen bedeckt.

»Guten Abend!« sagte er und verbeugte sich im Vorbeistolzieren höflich vor Jane.

»Ein schöner Abend für die Vorstellung!«

Noch ehe Jane antworten konnte, war er schon weg.

»Das ist aber seltsam«, sagte sie. »Solche Tiere hab ich noch nie gesehen!«

»Wieso seltsam?« sagte hinter ihnen eine Stimme.

Zwei Kinder, beides Knaben, ein wenig älter als Jane, standen da und lächelten. Sie waren in schimmernde Kittel gekleidet, und von ihren spitzen Kappen baumelte statt einer Quaste ein Stern.

»Entschuldigt«, sagte Jane höflich. »Aber, wißt ihr, wir sind an — an Pelze und Federn gewöhnt, und diese Tiere sehen aus, als wären sie aus Sternen gemacht.«

»Aber das sind sie ja auch!« sagte der erste Junge mit weit aufgerissenen Augen. »Woraus denn sonst? Es sind die Sternbilder!«

»Aber selbst das Sägemehl ist Gold . . .«, begann Michael.

Der zweite Junge lachte auf. »Sternenstaub, meinst du wohl! Warst du noch nie in einem Zirkus?«

»In so einem nicht.«

»Ein Zirkus ist wie der andere«, sagte der erste Junge. »Unsere Tiere leuchten mehr, das ist alles.«

»Doch wer seid ihr?« fragte Michael.

»Die Zwillinge. Das da ist Pullux, und ich bin Cator. Wir sind unzertrennlich.«

»Wie die siamesischen Zwillinge?«

»Ja. Doch in weit höherem Maß. Die siamesischen Zwillinge hängen nur körperlich aneinander, wir aber sind ein Herz und eine Seele. Wir denken einer des anderen Gedanken und träumen einer des anderen Träume. Aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben und schwätzen. Wir müssen uns fertigmachen — wir sehen uns später noch!«

Die Zwillinge rannten weg und verschwanden durch einen Spalt im Vorhang.

»Hallo!« klang eine düstere Stimme mitten aus der Manege. »Ihr habt wohl nicht zufällig ein Korinthenbrötchen in der Tasche?«

Ein Drache mit zwei großen Schuppenschwänzen kam auf sie zu und stieß Dampf aus den Nüstern.

»Leider nicht«, sagte Jane.

»Auch keine Kekse?« fragte der Drache ärgerlich.

Sie schüttelten die Köpfe.

»Das dachte ich mir«, sagte der Drache und vergoß eine goldene Träne.

»So geht es mir immer in den Zirkusnächten. Ich werde erst nach der Vorstellung gefüttert. Für gewöhnlich bekomme ich ein knuspriges Mädchen zum Abendbrot. . .«

Jane trat rasch einen Schritt zurück und zog Michael an sich.

»Ach, reg dich nicht auf!« beschwichtigte sie der Drache. »Ihr wärt beide viel zu klein. Außerdem seid ihr Menschenkinder, und die schmek-ken nicht. — Man läßt mich hungern«, erklärte er, »damit ich meine Kunststücke besser ausführe. Aber nach der Vorstellung . . .« Ein gieriges Licht trat in seine Augen, und mit weit heraushängender Zunge trollte er sich davon. »Yum, yum!« zischte er leise und gierig vor sich hin.

»Ich bin froh, daß wir nur Menschenkinder sind«, wandte sich Jane an Michael. »Es muß schrecklich sein, von einem Drachen gefressen zu werden!«

Aber Michael war schon vorausgeeilt und sprach eifrig mit den drei kleinen Böcklein.

»Wie geht es?« fragte er gerade, als Jane hinzutrat.

Und das älteste Böcklein, das sich offensichtlich zum Vorsingen bereit erklärt hatte, räusperte sich und begann:

»Horn und Huf, Huf und Horn ... «

»Na, ihr Böcklein!« fuhr Orions laute Stimme dazwischen. »Ihr könnt euer Verschen aufsagen, wenn's soweit ist. Jetzt macht euch fertig, es fängt gleich an! — Folgt mir, bitte!« forderte er die Kinder auf.

Gehorsam trotteten sie hinter der glitzernden Gestalt her, und wo sie vorübergingen, drehten sich die goldenen Tiere um und starrten sie an. Fetzen der geflüsterten Unterhaltung erreichten ihr Ohr.

»Wer ist das?« fragte ein mächtiger, sternfunkelnder Stier; er blieb stehen und wirbelte mit seinen Hufen den Manegensand auf, während er ihnen nachblickte. Und ein Löwe wandte sich um und flüsterte dem Bullen etwas ins Ohr. Sie verstanden »Banks« und »Ausgehabend«, aber mehr nicht. Inzwischen war auf den Rängen jeder Platz mit einer schimmernden, funkelnden Gestalt besetzt. Nur drei Sitze waren noch leer, und zu ihnen führte Orion jetzt die Kinder.

»Das sind eure Plätze. Wir haben sie für euch freigehalten. Direkt unter der Hofloge. Ihr werdet ausgezeichnet sehen. Paßt auf! Es fängt gerade an!«

Jane und Michael wandten den Kopf und sahen, daß die Manege sich geleert hatte, während sie zu ihren Sitzen emporgeklettert waren. Sie knöpften ihre Mäntel auf und beugten sich aufgeregt vor.

Von irgendwoher ertönte eine Trompetenfanfare. Sie schallte durch das ganze Zelt, dazwischen hörte man ein hohes, melodisches Wiehern.

»Die Kometen!« sagte Orion und setzte sich neben Michael. Ein heftig nickendes Haupt erschien am Eingang, und hintereinander galoppierten neun Kometen in die Manege, mit goldgeflochtenen Mähnen und einem silbernen Federbusch auf dem Kopf.

Plötzlich blies die Musik einen Tusch, und wie mit einem Schlag fielen die Kometen auf die Knie und beugten die Köpfe. Ein warmer Lufthauch strich durch die Manege.

»Wie heiß es wird!« rief Jane.

»Pscht, er kommt!« sagte Orion.

»Wer?« flüsterte Michael.

»Der Zirkusdirektor!«

Orion wies mit einer Kopfbewegung nach dem Eingang. Dort erschien jetzt ein gleißendes Licht, das an Helligkeit die Sternbilder überstrahlte. Immer stärker wurde sein Leuchten.

»Da ist er!« Orions Stimme klang merkwürdig sanft.

Bei seinen Worten tauchte zwischen den Vorhängen eine hochragende, goldene Gestalt auf, das volle, strahlende Antlitz von flammenden Lokken umrahmt. Gleichzeitig drang eine Welle warmer Luft in die Manege, die sich kreisförmig immer weiter ausbreitete. Halb unbewußt, von der Hitze ganz benommen, schlüpften die Kinder aus ihren Mänteln.

Orion sprang auf die Füße und hielt die rechte Hand hoch über den Kopf.

»Heil, Sonne, heil!« rief er. Und von den Sternenrängen widerhallte der Ruf: »Heil!«

Die Sonne blickte sich in dem weiten, dunklen Ringzelt um und schwang als Antwort auf die Begrüßung dreimal eine lange, goldene Peitsche um ihr Haupt. Als die Schnur so durch die Luft sauste, gab es ein scharfes, schnelles Klatschen. Mit einem Satz sprangen die Kometen auf und trabten hinaus; ihre golddurchflochtenen Schwänze schwangen eifrig hin und her, und sie reckten stolz ihre federgeschmückten Köpfe.

»Da bin ich wieder, da bin ich wieder!« krähte laut eine heisere Stimme, und in die Manege hüpfte ein komisches Wesen mit silbern bemaltem Gesicht, einem breiten, roten Mund und einer silbernen Halskrause.

»Saturn — der Clown!« flüsterte Orion hinter der Hand den Kindern

zu.

»Wann ist eine Tür keine Tür?« fragte der Clown ins Publikum, schlug einen Purzelbaum und endete im Handstand.

»Wenn sie offensteht!« antworteten Jane und Michael laut.

Ein enttäuschter Ausdruck malte sich auf dem Gesicht des Clowns.

»Ach, den kennt ihr schon?« sagte er vorwurfsvoll. »Das ist aber unfair!«

Die Sonne klatschte mit ihrer Peitsche.

»Schon gut, schon gut«, sagte der Clown. »Ich weiß noch was anderes: Warum rennt eine Henne über die Straße?« fragte er und setzte sich mit einem Plumps in den Sternenstaub.

»Um auf die andere Seite zu kommen!« riefen Jane und Michael.

Die geschwungene Peitschenschnur ringelte sich dem Clown um die Knie.

»Oh — oh — oh! Mach das nicht! Du tust dem armen Jockel ja weh! Guck! wie sie mich alle auslachen! Aber die kriege ich schon! Hört zu!« Er wirbelte in einem doppelten Salto durch die Luft.

»Welches ist der kälteste Vogel? Wer weiß das?«

»Der Zeisig — er ist hinten eisig!« schrien Michael und Jane gellend.

»Hinaus mit dir!« rief die Sonne, und ihre Peitschenschnur ringelte sich um die Schultern des Clowns; dieser schlug Purzelbäume rund um die Manege und schrie:

»Ich armer Jockel! Wieder umsonst! Die kennen meine schönsten Witze, ach, ich armer Kerl, ich armer, alter . . . Ach, Verzeihung, Miß, Verzeihung!« Er brach ab, denn er war gegen Pegasus, das geflügelte Pferd, geprallt, das soeben hereingesprengt kam, eine leuchtend flimmernde Gestalt auf dem Rücken.

»Venus, der Abendstern«, erklärte Orion.

Atemlos sahen Jane und Michael zu, wie die flimmernde Gestalt leicht durch die Manege ritt. Eine Runde um die andere ritt sie, sich vor der Sonne verbeugend, sooft sie an ihr vorbeikam, bis schließlich die Sonne ihr in den Weg trat und einen großen, mit Goldpapier zugeklebten Reifen hochhielt.

Eine Sekunde lang balancierte Venus auf den Zehenspitzen. »Hopp!« sagte die Sonne, und mit unnachahmlicher Grazie sprang Venus durch den Reifen und landete wieder auf dem Pferderücken.

»Hurra!« schrien Jane und Michael, und das Sternenpublikum stimmte mit ein in den Ruf. »Hurra!«

»Laß mich's noch einmal versuchen, laß den armen Jockel noch einen Witz machen, just einen, der selbst eine Katze zum Lachen bringt!« schrie der Clown. Aber Venus schüttelte nur lachend den Kopf und ritt aus der Manege.

Kaum war sie verschwunden, da kamen die drei Böcklein hereinspaziert; sie wirkten ziemlich scheu und verbeugten sich unbeholfen vor der Sonne. Dann stellten sie sich in einer Reihe vor ihr auf die Hinterbeine und sangen in hohen, dünnen Tönen folgendes Lied:

»Horn und Huf, Huf und Horn, In jeder Nacht

Werden drei Böcklein gebor'n.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Blau und schwarz,

Schwarz und blau

Ist es am Abend,

Wenn ich die Böcklein erschau.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Mild und süß,

Süß und mild

Mundet die Milch,

D i e a u s d e r Milchstraße quillt.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Am Himmelsrain

Stehn sie und weiden.

Beim Morgenrot

Müssen die Böcklein scheiden.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie schnell noch ein Tänzchen.

Sind sie nicht zu beneiden?«

Die letzte Zeile sangen sie mit langgezogenen, meckernden Tönen und tanzten aus der Manege.

»Was kommt jetzt?« erkundigte sich Michael, aber Orion brauchte nicht zu antworten, denn schon stand der Drache da. Dampf strömte aus seinen Nüstern, und seine zwei schuppigen Schwänze wirbelten den Ster-nenstaub auf. Hinter ihm trugen Castor und Pollux einen großen, schimmernden Globus herein, auf dem Berge und Flüsse eingezeichnet waren.

»Sieht aus wie der Mond!« meinte Jane.

»Natürlich ist es der Mond«, sagte Orion.

Der Drache stand jetzt auf seinen Hinterbeinen, und die Zwillinge legten ihm zum Balancieren den Mond auf die Nase. Er schwankte einen Augenblick unsicher und kam dann zur Ruhe. Der Drache begann in der Manege einen Walzer zu tanzen, begleitet von der Sternenmusik. Rundum tanzte er, einmal — zweimal — dreimal.

»Das genügt!« sagte die Sonne und knallte mit der Peitsche. Und mit einem Seufzer der Erleichterung schüttelte der Drache den Kopf und ließ den Mond durch die Manege fliegen. Er landete mit einem Schwung auf Michaels Schoß.

»Herrje!« rief er verblüfft. »Was soll ich denn damit?«

»Was du willst«, sagte Orion. »Ich dachte, du wolltest ihn haben.«

Und plötzlich erinnerte sich Michael an seine Unterhaltung mit Mary Poppins heute abend. Da hatte er sich den Mond gewünscht, und jetzt hatte er ihn. Und nun wußte er nicht, was er damit anfangen sollte. Wie komisch!

Aber es blieb ihm keine Zeit, sich Gedanken zu machen, denn abermals ließ die Sonne ihre Peitsche knallen. Michael setzte den Mond auf seine Knie, umschloß ihn mit den Armen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Manege zu.

»Was macht zwei und drei?« fragte die Sonne gerade den Drachen.

Fünfmal fegten die zwei Schwänze über den Sternenstaub.

»Und sechs und vier?« Der Drache dachte eine Weile nach. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun . . . Die beiden Schwänze machten halt.

»Falsch!« sagte die Sonne. »Ganz falsch! Du gehst heut ohne Abendbrot zu Bett!«

Da brach der Drache in bittere Tränen aus und stürzte schluchzend aus der Manege.

»Herrje — herrje — herrjemine, Buhu! Buhu! Buhu!«

Er weinte bitterlich.

»Ich möcht ein Sternenmädchen, Ein würziges, saftiges Brätchen, Vom besten, vom besten, Vom allerbesten Stück.

Buh!

Die Augen: goldene Sterne, Kometenschweif das Haar, Das schmeckte, das schmeckte, Das schmeckte wunderbar.

Buhu!

Und wären es auch zwei, Da fand ich nichts dabei, Im Gegenteil, so 'n großes Stück, Das war ein rechtes Glück.

Denn ich bin ja sooo hungrig! Buuh — hu — uh!«

»Kriegt er nicht wenigstens ein ganz kleines Mädchen?« fragte Michael, dem der arme Drache leid tat.

»Pscht!« sagte Orion, denn gerade sprang eine funkelnde Gestalt in den Ring. Als der Sternenstaub sich wieder gesenkt hatte, fuhren die Kinder erschrocken zurück. Da stand der Löwe und brüllte.

Michael drängte sich ein wenig dichter an Jane.

Der Löwe kauerte sich zusammen und schlich langsam auf die Sonne zu. Seine lange Zunge hing ihm aus dem Maul und schlabberte gefährlich. Aber die Sonne lachte nur, hob den Fuß und versetzte dem Löwen einen freundschaftlichen Tritt auf die goldene Nase. Mit einem Gebrüll, als hätte sie sich verbrannt, sprang die funkelnde Bestie hoch.

Klatschend fuhr die Peitsche durch die Luft. Langsam, widerwillig, die ganze Zeit über grollend, stellte sich der Löwe auf die Hinterbeine. Die Sonne warf ihm ein Springseil zu, das der Löwe zwischen den Vorderpfoten festhielt, während er sang:

»Ich bin der Löwe, Leo — der Löwe.

Der schöne, noble Leo-Löwe.

Blick auf zu mir: in kalter Nacht

Halt ich am Fuß Orions Wacht.

Weit leuchtend, schimmernd, gleißend und

Das schönste Bild am Himmelsrund!«

Am Ende des Liedes schwang er das Seil und hüpfte seilspringend durch die Manege; dabei rollte er die Augen und brüllte.

»Beeil dich, Leo, wir kommen dran!« ertönte eine grollende Stimme hinter dem Vorhang hervor.

»Mach voran, du große Katze!« fügte eine schrille Stimme hinzu.

Der Löwe ließ das Seil fallen und sprang brüllend auf den Vorhang zu, aber die beiden Tiere, die jetzt eintraten, wichen vorsichtig aus, so daß der Löwe sie nicht erreichte.

»Der Große und der Kleine Bär«, sagte Orion.

Langsam trotteten die beiden Bären herein, hielten sich bei den Vorderpfoten und tanzten nach einer langsamen Melodie. Sie tanzten einmal um die Manege herum, wobei sie höchst ernsthaft und feierlich drein-sahen, und machten, als der Tanz zu Ende war, eine schwerfällige Verbeugung vor dem Publikum. Dann sangen sie:

»Der Brummbär und der Quiekebär, Das sind wir! Ach, wie schön es war, Wenn einer eine Wabe hätt; Die steckten wir uns unters Bett Und leckten uns an Honig fett.

Und Brummbrummbär und Quiekebär Und . .,

Und . . .

Und...«

Der Große und der Kleine Bär blieben stecken, stammelten und blickten einander an.

»Hast du vergessen, wie's weitergeht?« brummte Brummbär.

»Ja, ich weiß nicht mehr!« Der Quiekebär schüttelte verzweifelt den Kopf und stierte auf den Sternenstaub hinunter, als hoffte er den vergessenen Text dort zu finden.

In diesem Augenblick rettete das Publikum die Situation. Ein Regen von Honigwaben ergoß sich aus den Rängen und hagelte den beiden Bären um die Ohren. Der Brummbär und der Quiekebär sahen sehr erleichtert aus, bückten sich und hoben die Waben auf.

»Fein!« brummte der Große Bär und grub seine Nase in eine Wabe.

»Ausgezeichnet!« quiekte der Kleine Bär und versuchte auch eine. Dann verbeugten sie sich feierlich vor der Sonne und trollten davon.

Die Sonne winkte mit der Hand, und die Musik wurde lauter und dröhnte triumphierend durch das Zelt.

»Das Signal für die Große Parade«, sagte Orion, während Castor und Pollux schon als Anführer des Aufzuges hereintanzten.

Die Bären kamen wieder und drehten miteinander einen schwerfälligen Walzer. Ihnen auf den Fersen folgte Leo, der Löwe, der immer noch ärgerlich grollte und ihre Spuren beschnüffelte. Dann glitt ein funkelnder Schwan herein, der einen hohen, klaren Gesang anstimmte.

Und nach dem Schwan kam der goldene Fisch, der die drei Böcklein an einer silbernen Leine führte, und hinterher der Drache, der immer noch bitterlich schluchzte. Ein lautes und fürchterliches Gebrüll übertönte die Musik. Das war Taurus, der schnaubende Stier, der wild in die Manege stürmte, wobei er versuchte, den Clown Saturn von seinem Rük-ken zu schütteln. Hintereinander strömten alle Tiere herein, um ihre Plätze einzunehmen. Die Manege war eine hin und her wogende Masse von goldenen Hufen und Hörnern, Mähnen und Schweifen.

»Ist es jetzt aus?« flüsterte Jane.

»Bald«, erwiderte Orion. »Heute wird früh Schluß gemacht. Sie muß um halb elf wieder zurück sein.«

»Wer?« fragten beide Kinder wie aus einem Mund. Doch Orion hörte nicht. Er war aufgestanden und winkte mit dem Arm.

»Kommt, beeilt euch, macht weiter!« rief er.

Und herein kam Venus geritten, auf ihrem geflügelten Pferd, gefolgt von einer glitzernden Schlange, die ihr Schwanzende vorsichtig im Maul hielt und wie ein Reifen dahinrollte.

Zuletzt kamen die Kometen. Stolz trabten sie durch den Vorhang und wippten mit den golddurchflochtenen Schweifen. Die Musik wurde lauter und wilder, und von dem Sternenstaub in der Manege stieg ein goldfarbener Rauch auf, während die Sternbilder, rufend, singend, brüllend und brummend, sich zu einem Kreis ordneten. In der Mitte, als wagten sie sich nicht in ihre Nähe, ließen sie einen Raum frei für die Sonne.

Da stand sie, hoch über alle hinwegragend, die Peitsche zwischen den verschränkten Armen. Sie nickte jedem Tier freundlich zu, wenn es mit gesenktem Haupt an ihr vorbeizog. Und dann sahen Jane und Michael, wie sich der leuchtende Blick von der Manege hob und über die sternen-besetzten Zuschauerränge hinwegglitt, bis er sich der Hofloge zuwandte. Sie fühlten, wie ihnen wärmer wurde, als der Blickstrahl sie erreichte, und mit höchster Überraschung merkten sie, daß die Sonne die Peitsche hob und ihnen zunickte.

Als die Peitsche in die Luft fuhr, machten alle Sterne und Sternbilder kehrt. Dann verbeugten sie sich wie auf Kommando.

»Verbeugen die sich etwa vor uns?« flüsterte Michael.

Ein vertrautes Lachen klang hinter ihnen. Sie drehten sich um. Dort saß, ganz allein in der Hofloge, eine wohlbekannte Gestalt in Strohhut und blauem Mantel und mit einem goldenen Medaillon um den Hals.

»Heil, Mary Poppins, Heil!« ertönte der Chor der Stimmen aus der Zirkusmanege.

Jane und Michael blickten sich an. So also verbrachte Mary Poppins ihren freien Abend! Fast trauten sie ihren Augen nicht — doch da saß sie wirklich, ihre Mary Poppins, in voller Lebensgröße und mit höchst überlegener Miene.

»Heil!« erscholl es abermals.

Mary Poppins hob grüßend die Hand.

Stolz und würdevoll verließ sie die Loge. Sie schien nicht im mindesten überrascht, Jane und Michael hier zu Sehen, aber sie schnaubte, als sie an ihnen vorbeiging.

»Wie oft«, warf sie ihnen über Orions Kopf zu, »habe ich euch gesagt, daß es unhöflich ist, jemanden anzustarren!«

Sie stieg an ihnen vorbei in die Manege hinunter. Der Große Bär hob das goldene Absperrseil hoch. Die Sternbilder wichen zur Seite, und die Sonne trat einen Schritt vor. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme warm und voller Wohllaut.

»Mary Poppins, meine Liebe, du bist uns willkommen!«

Mary Poppins versank in einen tiefen und feierlichen Knicks.

»Die Planeten jubeln dir zu, und die Sternbilder grüßen dich. Steh auf, mein Kind!«

Sie stand auf und neigte voller Achtung den Kopf.

»Deinetwegen, Mary Poppins«, fuhr die Sonne fort, »haben sich die

Sterne in diesem dunkelblauen Zelt versammelt, deinetwegen wurde es ihnen erlassen, heute nacht auf die Erde niederzuscheinen. Deshalb hoffe ich, du hast deinen Ausgehabend genossen!«

»Ich habe nie einen schöneren erlebt. Nie!« sagte Mary Poppins und hob lächelnd den Kopf.

»Liebes Kind!« Die Sonne beugte sich vor. »Aber die Stunden verrinnen, und du mußt um halb elf zu Hause sein. Deshalb wollen wir vor deinem Aufbruch nach alter Gewohnheit den Tanz des kreisenden Himmels tanzen!«

»Hinunter mit euch!« sagte Orion zu den erstaunten Kindern und gab ihnen einen kleinen Schubs. Sie stolperten die Stufen hinunter und fielen fast in die mit Sternenstaub bestreute Manege.

»Wo habt ihr eure Manieren gelassen, wenn ich fragen darf?« zischte eine wohlbekannte Stimme Jane ins Ohr.

» Was soll ich tun?« stammelte Jane.

Mary Poppins blickte sie streng an und deutete mit einer kleinen Handbewegung auf die Sonne. Plötzlich begriff Jane. Sie packte Michael am Arm und, ihn mit sich ziehend, kniete nieder. Die Wärme der Sonne überflutete sie wohlig.

»Steht auf, Kinder«, sagte diese freundlich. »Seid mir herzlich willkommen. Ich kenne euch gut — ich habe manchen Sommertag auf euch hinabgeblickt!«

Jane hob sich auf die Füße und wollte auf sie zulaufen, doch eine Bewegung der Peitsche hielt sie zurück. »Rühr mich nicht an, Kind der Erde!« rief sie warnend und bedeutete ihr durch einen Wink, weiter zurückzutreten. »Das Leben ist süß, und niemand darf der Sonne zu nahe kommen — rühr mich nicht an!«

»Bist du denn wirklich die Sonne?« fragte Michael und staunte.

Die Sonne streckte die Hand aus.

»Sagt, ihr Sterne und Himmelszeichen: wer bin ich? Das Kind hier möchte es wissen.«

»Die Herrin über alle Sterne, o Sonne!« antworteten tausend leuchtende Stimmen.

»Sie ist die Königin von Süd und Nord«, rief Orion, »und die Beherrscherin von Ost und West. Sie umwandert den äußersten Rand der Welt, und die Pole schmelzen vor ihrer Herrlichkeit. Sie treibt den Keim aus der Saat und segnet die Erde mit Fruchtbarkeit. Sie ist wirklich die Sonne.«

Die Sonne lächelte Michael zu.

»Glaubst du es nun?«

Michael nickte.

»So erhebe dich! Und ihr, Himmelsbilder, wählt eure Tanzpartner!«

Die Sonne schwang ihre Peitsche. Die Musik begann wieder zu spie-len, eine rasche und fröhliche Weise. Michael klopfte mit den Füßen den Takt, während er den Mond in seinen Armen wiegte. Aber er drückte ihn wohl ein wenig zu stark, denn plötzlich gab es einen lauten Knall, und der Mond begann zu schrumpfen.

»Oh, oh, seht, was geschehen ist!« rief Michael; er weinte fast.

Kleiner und immer kleiner wurde der Mond, schrumpfte in sich zusammen, bis er kaum noch so groß war wie eine Seifenblase; jetzt war er nur noch ein Lichtfünkchen und jetzt.. . Michaels Hände umschlossen nur noch die leere Luft.

»Das kann doch nicht der wirkliche Mond gewesen sein, oder doch?« erkundigte er sich.

Jane blickte über den schmalen, mit Sternenstaub bestreuten Zwischenraum hinweg fragend auf die Sonne. Die warf das flammende Haupt zurück und lächelte ihr zu.

»Was ist wirklich und was nicht? Wer könnte das sagen? Vielleicht werden wir niemals mehr wissen als das: eine Sache denken, heißt, sie wahr machen. Und wenn Michael gedacht hat, er hielte den Mond in den Armen — nun, dann hat er ihn eben wirklich in den Armen gehalten.«

»Also — ist es wahr«, sagte Jane nachdenklich, »daß wir heute nacht hier sind, oder denken wir das nur?«

Wieder lächelte die Sonne, diesmal ein wenig traurig.

»Kind«, sagte sie, »zerbrich dir nicht weiter den Kopf! Seit Anbeginn der Welt haben alle Menschen diese Frage gestellt. Und ich, die ich den Himmel beherrsche — selbst ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur eines: daß dies der Ausgehabend ist, daß die Sternbilder in eure Augen scheinen, und daß es Wirklichkeit ist, wenn ihr es dafür haltet.. .«

»Kommt, tanzt mit uns, Jane und Michael!« riefen die Zwillinge.

Und Jane vergaß ihre Frage, denn zu viert glitten sie jetzt durch die Manege, im Gleichtakt mit der himmlischen Melodie; aber sie hatte kaum eine halbe Runde getanzt, als sie plötzlich stehenblieb.

»Schau doch! Schau doch! Sie tanzt mit ihr!«

Michael folgte ihrem Blick; seine kurzen, dicken Beinchen blieben am Boden haften, und er starrte hemmungslos.

Mary Poppins und die Sonne tanzten miteinander. Aber nicht so, wie Jane und er mit den Zwillingen tanzten, Brust an Brust und Hand an Hand. Mary Poppins und die Sonne berührten sich nie, sondern drehten sich, einander gegenüberstehend, mit ausgestreckten Armen, wobei sie, trotz des Zwischenraums zwischen sich, genauen Takt hielten.

Um sie herum wirbelten die tanzenden Sternbilder: Venus, die mit ihren Armen Pegasus umhalste, der Stier und der Löwe Arm in Arm, und die drei Böcklein, die in einer Reihe stolz umherhüpften. Der schimmernde Glanz blendete die Kinder, als sie so standen und schauten.

Plötzlich wurde der Tanz langsamer und die Musik leiser. Die Sonne und Mary Poppins, zusammengehörig, obwohl jeder für sich, blieben stehen. Im gleichen Augenblick brachen auch die Tiere ihren Tanz ab und machten halt. Ruhe trat ein. Schweigen legte sich über die Manege.

Die Sonne sprach.

»Nun«, sagte sie ruhig, »die Zeit ist gekommen. Zurück auf eure Plätze am Himmel, meine lieben Sterne und Bilder. Nach Hause zum Schlafen, meine lieben sterblichen Gäste. Gute Nacht, Mary Poppins! Ich sage nicht Lebewohl, denn wir treffen uns wieder; doch bis dahin: laß es dir gut gehen!«

Dann beugte die Sonne auf zugleich erhabene und graziöse Weise den Kopf und küßte, den Zwischenraum zwischen sich und Mary Poppins überbrückend, diese sehr feierlich, vorsichtig, leicht und rasch auf die Wange.

»Aaahhh!« riefen die Sternbilder begeistert. »Der Kuß! Der Kuß!«

Doch als sie ihn empfing, flog Mary Poppins' Hand schützend zur Wange, als hätte der Kuß sie gebrannt. Ein Ausdruck des Schmerzes huschte über ihr Gesicht. Dann hob sie lächelnd den Kopf zur Sonne.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie sanft, mit einer Stimme, wie sie Jane und Michael noch nie bei ihr vernommen hatten.

»Fort!« rief die Sonne und streckte die Peitsche aus. Gehorsam begannen die Sternbilder aus der Manege zu strömen. Schützend legten Castor und Pollux ihre Arme um die Kinder, damit der Große Bär sie im Vorüberrollen nicht streifte, das Horn des Stiers sie nicht verletzte und der Löwe ihnen nichts tat. Aber schon verhallten in Janes und Michaels Ohren die Geräusche der Manege. Der Kopf wurde ihnen schwer und sank auf die Schultern. Neue Arme umschlangen sie, und wie im Traum hörten sie die Stimme der Venus, die sagte: »Gib sie mir! Ich bin der Abendstern. Ich bringe das Lamm ins Stroh und das Kind zu seiner Mutter.«

Sie überließen sich den wiegenden Armen, die sie schaukelnd mit sich forttrugen wie die Flut ein Boot. Hin und her, hin und her.

Ein Licht flackerte über ihre Augen. War das der Drache, der flam-menzüngig vorbeistrich — oder die Kerze im Kinderzimmer, die jemand über sie hielt?

Hin und her, hin und her.

Sie kuschelten sich tiefer in die sanfte, wohlige Wärme. War es die einlullende Wärme der Sonne? Oder die Daunendecke im Kinderbett?

»Ich glaube, es ist die Sonne«, dachte Jane halb im Traum.

»Ich glaube, es ist meine Daunendecke«, dachte Michael.

Und eine weit, weit entfernte Stimme — sie klang wie ein Hauch — rief leise, leise: »Es ist das, was ihr glaubt! Lebt wohl... lebt wohl...«

Michael erwachte mit einem Ruck. Ihm war plötzlich etwas eingefallen.

»Mein Mantel! Mein Mantel! Ich hab ihn unter der Hofloge liegenlassen!«

Er schlug die Augen auf. Am Fußende des Bettes sah er die bunte Ente sitzen. Er sah den Kaminsims mit der Uhr und der großen Porzellanschale und den mit grünem Laubwerk gefüllten Marmeladentopf. Und er sah an dem Haken, an dem er gewöhnlich hing, seinen Mantel und den Hut darüber.

»Aber wo sind die Sterne?« rief er, setzte sich im Bett auf und staunte. »Ich möchte die Sterne und die Sternbilder!«

»Ach? Wirklich?« sagte Mary Poppins, die gerade ins Zimmer trat und in ihrer sauberen Schürze sehr steif und gestärkt aussah. »Ist das alles? Ich wundere mich nur, daß du nicht auch den Mond möchtest!«

»Aber den wollte ich doch!« erinnerte er sich vorwurfsvoll. »Und ich bekam ihn auch! Aber ich drückte ihn zu fest, und er patzte!«

»Platzte!«

»Na schön, platzte!«

»Unsinn!« sagte Mary Poppins und warf ihm seinen Schlafrock zu.

»Ist es schon Morgen?« fragte Jane; sie öffnete die Augen und blickte im Zimmer umher, höchst überrascht darüber, sich in ihrem eigenen Bett wiederzufinden. »Aber wie sind wir denn nach Hause gekommen? Ich tanzte mit dem Zwillingsgestirn, mit Castor und Pollux.«

»Ihr und eure Sterne«, sagte Mary Poppins ärgerlich und schlug die Decken zurück. »Ich werde euch helfen. Heraus aus den Betten! Ich bin sowieso spät daran.«

»Wahrscheinlich hast du heute nacht zu lange getanzt«, sagte Michael, der sich widerwillig aus den Bettdecken schälte, bis er auf dem Fußboden stand.

»Getanzt? Hmpf, ich hab wohl viel Gelegenheit, tanzen zu gehen! Ich, die ich auf die fünf unartigsten Kinder der Welt aufpassen muß!«

Verächtlich schnob Mary Poppins durch die Nase; sie sah unausgeschlafen aus und so, als bedauere sie sich selbst.

»Aber warst du nicht tanzen — an deinem Ausgehabend?« fragte Jane. Sie erinnerte sich, wie Mary Poppins und die Sonne inmitten der mit Sternenstaub bestreuten Manege zusammen getanzt hatten.

Mary Poppins riß die Augen auf.

»Ich hoffe«, bemerkte sie und reckte sich hochmütig, »ich habe an meinem Ausgehabend etwas Besseres zu tun als herumzuschnurren wie ein wild gewordener Kreisel.«

»Aber ich habe dich gesehen!« sagt Jane. »Oben im Himmel. Du sprangst aus der Hofloge hinunter in die Manege, um zu tanzen.«

Mit angehaltenem Atem sahen sie und Michael auf Mary Poppins, deren Gesicht vor Zorn langsam rot anlief.

»Da hast du ja«, sagte sie kurz angebunden, »einen ganz hübschen Alptraum gehabt, das muß ich sagen. Wer hat je so etwas gehört: eine Person in meiner Stellung und springt aus . . .«

»Aber ich hab auch einen Alptraum gehabt«, fiel Michael ein, »und der war wunderbar. Ich war mit Jane oben im Himmel und hab dich gesehen!«

»Was? Springen?«

»Hm — ja — und tanzen.«

»Im Himmel?« Er zitterte, als sie jetzt auf ihn zutrat. Ihr Gesicht war finster und furchteinflößend.

»Noch eine Beleidigung . . .«, sagte sie drohend. »Nur noch eine, und du kannst in die Ecke tanzen. Ich warne dich!«

Er blickte schleunigst zur Seite und machte sich an der Kordel seines Morgenrocks zu schaffen; Mary Poppins, bei der sogar die Schürze vor Zorn knisterte, rauschte durchs Zimmer, um die Zwillinge zu wecken.

Jane saß auf ihrem Bett und beobachtete Mary Poppins, wie sie sich über die Gitterbettchen beugte.

Michael schlüpfte langsam in seine Pantoffeln und seufzte.

»Wir müssen wohl doch geträumt haben«, sagte er traurig. »Ich wollte, es wäre wahr.«

»Es ist wahr«, flüsterte Jane vorsichtig, die Augen nicht von Mary Poppins lassend.

»Woher weißt du das? Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Guck!«

Mary Poppins' Kopf war über Barbaras Bettchen gebeugt. Jane deutete mit einem Nicken hin. »Sieh dir ihr Gesicht an!« flüsterte sie ihm ins Ohr.

Aufmerksam betrachtete Michael Mary Poppins' Gesicht. Da war das schwarze, hinter die Ohren zurückgestrichene Haar; da die wohlbekannten blauen Augen, wie bei einer Holländerpuppe; da die Himmelfahrtsnase und die hellroten, glänzenden Backen.

»Ich sehe nichts . . .«, begann er und brach plötzlich ab. Denn jetzt, als Mary Poppins den Kopf wandte, entdeckte er, was Jane gesehen hatte.

Brennend rot, mitten auf ihrer Wange, saß ein kleines feuriges Mal. Und beim genaueren Hinsehen stellte Michael fest, daß es einen seltsamen Umriß hatte. Es war rund mit flammenzüngigen Zacken und glich einer ganz kleinen Sonne.

»Siehst du's?« sagte Jane sanft. »Das ist die Stelle, wohin sie sie geküßt hat.«

Michael nickte — ein-, zwei-, dreimal.

»Richtig«, sagte er; er stand ganz still und starrte auf Mary Poppins. »Ich seh's. Ich seh's . . .«