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Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen - je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.
Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen konnten. Und sie taten das Ihre dazu, dass dieser Augenblick eintrat.
Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein und er beschäftigte einen Lehrjungen.
Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.
»Mein Leben geht so dahin«, dachte er,»mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.«
Es war nun durchaus nicht so, dass Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es sogar sehr den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinanderzusetzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen und er wusste, dass er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.
»Mein ganzes Leben ist verfehlt«, dachte Herr Fusi.»Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!«
Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.
»Aber«, dachte er missmutig,»für so etwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.«
In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.
Herr Fusi schloss die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.
»Womit kann ich dienen?«, fragte er verwirrt.»Rasieren oder Haare schneiden?«, und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.
»Keines von beidem«, sagte der graue Herr ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme.»Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, dass Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.«
»Das ist mir neu«, erklärte Herr Fusi noch verwirrter.»Offen gestanden, ich wusste bisher nicht einmal, dass es ein solches Institut überhaupt gibt.«
»Nun, jetzt wissen Sie es«, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort:»Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?«
»Ganz recht, der bin ich«, versetzte Herr Fusi.
»Dann bin ich an der rechten Stelle«, meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu.»Sie sind Anwärter bei uns.«
»Wie das?«, fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.
»Sehen Sie, lieber Herr Fusi«, sagte der Agent,»Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich Recht?«
»Darüber habe ich eben nachgedacht«, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.»Na, sehen Sie!«, erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. »Aber woher nimmt man Zeit? Man muss sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?«»Gewiss«, sagte Herr Fusi.
Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben.
»Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden.
Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin einunddreißigmillionenfünfhundertundsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr. Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren.
Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?«
»Nun«, stotterte Herr Fusi verwirrt,»ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.«
»Gut«, fuhr der graue Herr fort,»nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an. Das wäre also dreihundertfünfzehnmillionendreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimilliardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden.«
Und er schrieb diese Zahl groß an den Spiegel:
2 207 520 000 Sekunden
Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte:»Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht.«
Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, dass er so reich sei.
»Ja«, sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, »es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitersehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi?«»Zweiundvierzig«, stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewusst, als habe er eine Unterschlagung begangen.
»Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?«, forschte der graue Herr weiter.
»Acht Stunden etwa«, gestand Herr Fusi.
Der Agent rechnete blitz geschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, dass sich Herrn Fusi die Haut kräuselte.»Zweiundvierzig Jahre - täglich acht Stunden - das macht also bereits vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. Wie viel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern, Herr Fusi?«
»Auch acht Stunden, so ungefähr«, gab Herr Fusi kleinlaut zu.
»Dann müssen wir also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen«, fuhr der Agent unerbittlich fort.»Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die Notwendigkeit sich zu ernähren. Wie viel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten des Tages?«
»Ich weiß nicht genau«, meinte Herr Fusi ängstlich,»vielleicht zwei Stunden?«
»Das scheint mir zu wenig«, sagte der Agent,»aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es in zweiundvierzig Jahren den Betrag von hundertzehnmillionendreihundertsechsundsiebzigtausend. Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend.«
»Aber…«, warf Herr Fusi flehend ein.
»Unterbrechen Sie mich nicht!«, herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete.»Da ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wie viel Zeit kostet Sie das täglich?«
»Vielleicht eine Stunde, aber…«
»Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, dass Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzigtausend. - Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?«
»Nein«, antwortete Herr Fusi,»entschuldigen Sie bitte…«
»Wir sind gleich zu Ende«, sagte der graue Herr.»Aber wir müssen noch auf ein besonderes Kapitel Ihres Lebens zu sprechen kommen. Sie haben da nämlich dieses kleine Geheimnis, Sie wissen schon.«
Herr Fusi begann mit den Zähnen zu klappern, so kalt war ihm geworden.
»Das wissen Sie auch?«, murmelte er kraftlos.»Ich dachte, außer mir und Fräulein Daria…«
»In unserer modernen Welt«, unterbrach ihn der Agent Nr. XYQ/384/b,»haben Geheimnisse nichts mehr verloren. Betrachten Sie die Dinge einmal sachlich und realistisch, Herr Fusi. Beantworten Sie mir eine Frage: Wollen Sie Fräulein Daria heiraten?«
»Nein«, sagte Herr Fusi,»das geht doch nicht…«
»Ganz recht«, fuhr der graue Herr fort,»denn Fräulein Daria wird ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben, weil ihre Beine verkrüppelt sind. Trotzdem besuchen Sie sie täglich eine halbe Stunde, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu?«
»Sie freut sich doch immer so«, antwortete Herr Fusi, den Tränen nah.
»Aber nüchtern betrachtet«, versetzte der Agent,»ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit. Und zwar insgesamt bereits siebenundzwanzigmillionenfünfhundertvierundneunzigtausend Sekunden. Und wenn wir nun dazurechnen, dass Sie die Gewohnheit haben, jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Viertelstunde am Fenster zu sitzen und über den vergangenen Tag nachzudenken, dann bekommen wir nochmals eine abzuschreibende Summe von dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend. Nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen eigentlich übrig bleibt, Herr Fusi.«Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:
Schlaf 441504 000 Sekunden
Arbeit 441504 000 „
Nahrung 110 376 000 „
Mutter 55 188 000 „
Wellensittich 13 797 000 „
Einkauf usw. 55 188 000 „
Freunde, Singen usw. 165 564 000 „
Geheimnis 27 594 000 „
Fenster 13 797 000 „
Zusammen: 1 324 512 000 Sekunden
»Diese Summe«, sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den Spiegel, dass es wie Revolverschüsse klang,»diese Summe also ist die Zeit, die Sie bis jetzt bereits verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?«
Herr Fusi sagte gar nichts. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, denn trotz der eisigen Kälte brach ihm der Schweiß aus. Der graue Herr nickte ernst.
»Ja, Sie sehen ganz recht«, sagte er,»es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind einunddreißigmillionenfünfhundertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölftausend.«
Er schrieb die Zahl unter die Summe der verlorenen Zeit:
1324512000 Sekunden
–1324512000 „
0 000 000 000 Sekunden
Er steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen auf Herrn Fusi wirken zu lassen. Und er tat seine Wirkung.
Das, dachte Herr Fusi zerschmettert, ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens.
Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, dass er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen.
»Finden Sie nicht«, ergriff nun der Agent Nr. XYQ/384/b in sanftem Ton wieder das Wort,»dass Sie so nicht weiterwirtschaften können, Herr Fusi? Wollen Sie nicht lieber zu sparen anfangen?«Herr Fusi nickte stumm und mit blau gefrorenen Lippen.
»Hätten Sie beispielsweise«, klang die aschenfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr,»schon vor zwanzig Jahren angefangen täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen Sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionenzweihundertundachtzigtausend Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also zweiundfünfzigmillionenfünfhundertundsechzigtausend. Und ich bitte Sie, Herr Fusi, was sind schon zwei lumpige kleine Stunden angesichts einer solchen Summe?«
»Nichts«, rief Herr Fusi,»eine lächerliche Kleinigkeit!«
»Es freut mich, dass Sie das einsehen«, fuhr der Agent gleichmütig fort.»Und wenn wir nun noch ausrechnen, was Sie unter denselben Bedingungen in weiteren zwanzig Jahren erspart haben würden, so kämen wir auf die stolze Summe von einhundertfünfmillioneneinhundertundzwanzigtausend Sekunden. Dieses ganze Kapital stünde Ihnen in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr zur freien Verfügung.«
»Großartig!«, stammelte Herr Fusi und riss die Augen auf.
»Warten Sie ab«, fuhr der graue Herr fort,»denn es kommt noch viel besser. Wir, das heißt die Zeit-Spar-Kasse, bewahren nämlich die eingesparte Zeit nicht nur für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen dafür. Das heißt, Sie hätten in Wirklichkeit noch viel mehr.«
»Wie viel mehr?«, fragte Herr Fusi atemlos.
»Das läge ganz bei Ihnen«, erklärte der Agent,»je nachdem, wie viel Sie eben einsparen würden und wie lange Sie das Ersparte bei uns liegen lassen.«
»Liegen lassen?«, erkundigte sich Herr Fusi.»Was heißt das?«
»Nun, ganz einfach«, meinte der graue Herr.»Wenn Sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen, dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu. Ihr Vermögen verdoppelt sich alle fünf Jahre, verstehen Sie? Nach zehn Jahren wäre es bereits das Vierfache der ursprünglichen Summe, nach fünfzehn Jahren das Achtfache und so weiter. Wenn Sie vor zwanzig Jahren angefangen hätten, täglich nur zwei Stunden einzusparen, dann stünde für Sie in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr, also nach vierzig Jahren insgesamt, das Zweihundertsechsundfünfzigfache der bis dahin von Ihnen ersparten Zeit zur Verfügung. Das wären sechsundzwanzigmilliardenneunhundertundzehnmillionensiebenhundertundzwanzigtausend.«
Und er nahm noch einmal seinen grauen Stift heraus und schrieb auch diese Zahl an den Spiegel: 26 910 720 000 Sekunden.
»Sie sehen selbst, Herr Fusi«, sagte er dann und lächelte zum ersten Mal dünn,»es wäre mehr als das Zehnfache Ihrer ursprünglichen gesamten Lebenszeit. Und das bei nur zwei ersparten Stunden täglich. Bedenken Sie, ob dies nicht ein lohnendes Angebot ist.«
»Das ist es!«, sagte Herr Fusi erschöpft.»Das ist es ganz ohne Zweifel! Ich bin ein Unglücksrabe, dass ich nicht schon längst angefangen habe zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein und ich muss gestehen - ich bin verzweifelt!«
»Dazu«, erwiderte der graue Herr sanft,»besteht durchaus kein Grund. Es ist niemals zu spät. Wenn Sie wollen, können Sie noch heute anfangen. Sie werden sehen, es lohnt sich.«
»Und ob ich will!«, rief Herr Fusi.»Was muss ich tun?«
»Aber, mein Bester«, antwortete der Agent und zog die Augenbrauen hoch,»Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden Zeit raubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es überhaupt sein muss. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, eine große, gut gehende Uhr in ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren können.«
»Nun gut«, meinte Herr Fusi,»das alles kann ich tun, aber die Zeit, die mir auf diese Weise übrig bleibt - was soll ich mit ihr machen? Muss ich sie abliefern? Und wo? Oder soll ich sie aufbewahren? Wie geht das Ganze vor sich?«
»Darüber«, sagte der graue Herr und lächelte zum zweiten Mal dünn,»machen Sie sich nur keine Sorgen. Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sicher sein, dass uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste bisschen verloren geht. Sie werden es schon merken, dass Ihnen nichts übrig bleibt.«
»Also gut«, entgegnete Herr Fusi verdattert,»ich verlasse mich also darauf.«
»Tun Sie das getrost, mein Bester«, sagte der Agent und stand auf.»Ich darf Sie also hiermit in der großen Gemeinde der Zeit-Sparer als neues Mitglied begrüßen. Nun sind auch Sie ein wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch, Herr Fusi. Ich beglückwünsche Sie!«Damit nahm er seinen Hut und seine Mappe.
»Einen Augenblick noch!«, rief Herr Fusi.»Müssen wir denn nicht irgendeinen Vertrag abschließen? Muss ich nichts unterschreiben? Bekomme ich nicht irgendein Dokument?«
Der Agent Nr. XYQ/384/b drehte sich in der Tür um und musterte Herrn Fusi mit leichtem Unwillen.»Wozu?«, fragte er.»Das Zeit-Sparen lässt sich nicht mit irgendeiner anderen Art des Sparens vergleichen. Es ist eine Sache des vollkommenen Vertrauens - auf beiden Seiten! Uns genügt Ihre Zusage. Sie ist unwiderruflich. Und wir kümmern uns um Ihre Ersparnisse. Wie viel Sie allerdings ersparen, das liegt ganz bei Ihnen. Wir zwingen Sie zu nichts. Leben Sie wohl, Herr Fusi!«Damit stieg der Agent in sein elegantes, graues Auto und brauste davon.
Herr Fusi sah ihm nach und rieb sich die Stirn. Langsam wurde ihm wieder wärmer, aber er fühlte sich krank und elend. Der blaue Dunst aus der kleinen Zigarre des Agenten hing noch lange in dichten Schwaden im Raum und wollte nicht weichen.
Erst als der Rauch vergangen war, wurde es Herrn Fusi wieder besser. Aber im gleichen Maß wie der Rauch verging, verblassten auch die Zahlen auf dem Spiegel. Und als sie schließlich ganz verschwunden waren, war auch die Erinnerung an den grauen Besucher in Herrn Fusis Gedächtnis ausgelöscht - die an den Besucher, nicht aber die an den Beschluss! Den hielt er nun für seinen eigenen. Der Vorsatz, von nun an Zeit zu sparen, um irgendwann in der Zukunft ein anderes Leben beginnen zu können, saß in seiner Seele fest wie ein Stachel mit Widerhaken.
Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatsächlich statt in einer halben Stunde schon nach zwanzig Minuten fertig.
Und genauso hielt er es von nun an bei jedem Kunden. Seine Arbeit machte ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war ja nun auch nicht mehr wichtig. Er stellte zusätzlich zu seinem Lehrjungen noch zwei weitere Gehilfen ein und gab scharf darauf Acht, dass sie keine Sekunde verloren. Jeder Handgriff war nach einem genauen Zeitplan festgelegt. In Herrn Fusis Laden hing nun ein Schild mit der Aufschrift: gesparte zeit ist doppelte zeit!
An Fräulein Daria schrieb er einen kurzen, sachlichen Brief, dass er wegen Zeitmangels leider nicht mehr kommen könne. Seinen Wellensittich verkaufte er einer Tierhandlung. Seine Mutter steckte er in ein gutes, aber billiges Altersheim und besuchte sie dort einmal im Monat. Und auch sonst befolgte er alle Ratschläge des grauen Herrn, die er ja nun für seine eigenen Beschlüsse hielt.
Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam: Von all der Zeit, die er einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar kürzer und kürzer. Ehe er sich's versah, war schon wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr herum und noch ein Jahr und noch eines. Da er sich ja an den Besuch des grauen Herrn nicht mehr erinnerte, hätte er sich wohl eigentlich ernstlich fragen müssen, wo all seine Zeit denn blieb. Aber diese Frage stellte er sich sowenig wie alle anderen Zeit-Sparer. Es war etwas wie eine blinde Besessenheit über ihn gekommen. Und wenn er manchmal mit Schrecken gewahr wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur umso verbissener.
Wie Herrn Fusi, so ging es schon vielen Menschen in der großen Stadt.
Und täglich wurden es mehr, die damit anfingen, das zu tun, was sie»Zeit sparen«nannten. Und je mehr es wurden, desto mehr folgten nach, denn auch denen, die eigentlich nicht wollten, blieb gar nichts anderes übrig, als mitzumachen.
Täglich wurden im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen die Vorteile neuer zeitsparender Einrichtungen erklärt und gepriesen, die den Menschen dereinst die Freiheit für das»richtige«Leben schenken würden. An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate, auf denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern:
zeit-sparern geht es immer besser!
Oder:
zeit-sparern gehört die zukunft!
Oder:
mach mehr aus deinem leben - spare zeit!
Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die Zeit-Sparer besser gekleidet als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten missmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. Bei ihnen war die Redensart»Geh doch zu Momo!«natürlich unbekannt. Sie hatten niemand, der ihnen so zuhören konnte, dass sie davon gescheit, versöhnlich oder gar froh geworden wären. Aber selbst, wenn es dort so jemand gegeben hätte, es wäre doch höchst zweifelhaft gewesen, ob sie je zu ihm hingegangen wären - es sei denn, man hätte die Sache in fünf Minuten erledigen können. Andernfalls hätten sie es für verlorene Zeit gehalten. Selbst ihre freien Stunden mussten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war.
So konnten sie keine richtigen Feste mehr feiern, weder fröhliche noch ernste. Träumen galt bei ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte. Aber es war natürlich kein fröhlicher Lärm wie der auf einem Kinderspielplatz, sondern ein wütender und missmutiger, der die große Stadt von Tag zu Tag lauter erfüllte.
Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig - im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete. Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern hingen deshalb Schilder, auf denen stand:
zeit ist kostbar - verliere sie nicht!
Oder:
zeit ist (wie) geld - darum spare!
Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon ausgenommen.
Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man sparte sich die Mühe die Häuser so zu bauen, dass sie zu den Menschen passten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem Zeit sparender, die Häuser alle gleich zu bauen. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont - eine Wüste der Ordnung!
Und genau so verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten: schnurgerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.
Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Momo eines Tages,»es kommt mir so vor, als ob unsere alten Freunde jetzt immer seltener zu mir kommen. Manche hab ich schon lang nicht mehr gesehen.«
Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer saßen neben ihr auf den grasbewachsenen Steinstufen der Ruine und sahen dem Sonnenuntergang zu.
»Ja«, meinte Gigi nachdenklich,»mir geht's genauso. Es werden immer weniger, die meinen Geschichten zuhören. Es ist nicht mehr wie früher. Irgendwas ist los.«
»Aber was?«, fragte Momo.
Gigi zuckte die Schultern und löschte gedankenvoll einige Buchstaben, die er auf eine alte Schiefertafel gekratzt hatte, mit Spucke aus. Die Schiefertafel hatte der alte Beppo vor einigen Wochen in einer Mülltonne gefunden und Momo mitgebracht. Sie war natürlich nicht mehr ganz neu und hatte in der Mitte einen großen Sprung, aber sonst war sie noch gut zu gebrauchen.
Seither zeigte Gigi Momo jeden Tag, wie man den oder jenen Buchstaben schreibt. Und da Momo ein sehr gutes Gedächtnis hatte, konnte sie mittlerweile schon ganz gut lesen. Nur mit dem Schreiben ging es noch nicht so recht.
Beppo Straßenkehrer, der über Momos Frage nachgedacht hatte, nickte langsam und sagte:»Ja, das ist wahr. Es kommt näher. In der Stadt ist es schon überall. Es ist mir schon lang aufgefallen.«
»Was denn?«, fragte Momo.
Beppo dachte eine Weile nach, dann antwortete er:»Nichts Gutes.«
Und abermals nach einer Weile fügte er hinzu:»Es wird kalt.«
»Ach was!«, sagte Gigi und legte Momo tröstend den Arm um die Schulter,»dafür kommen jetzt immer mehr Kinder hierher.«
»Ja, deswegen«, meinte Beppo,»deswegen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Momo.
Beppo überlegte lang und antwortete schließlich:»Sie kommen nicht wegen uns. Sie suchen nur einen Unterschlupf.«
Alle drei blickten hinunter auf die runde Grasfläche in der Mitte des Amphitheaters, wo mehrere Kinder ein neues Ballspiel spielten, das sie erst diesen Nachmittag erfunden hatten. Es waren einige von Momos alten Freunden darunter: der Junge mit der Brille, der Paolo gerufen wurde, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, der dicke Junge mit der hohen Stimme, dessen Name Massimo lautete und der andere Junge, der immer etwas verwahrlost aussah und Franco hieß. Aber außerdem waren da noch andere Kinder, die erst seit wenigen Tagen dazugehörten und ein kleinerer Junge, der erst diesen Nachmittag gekommen war. Es schien tatsächlich so, wie Gigi gesagt hatte: Es wurden immer mehr, von Tag zu Tag.
Eigentlich hätte Momo sich gern darüber gefreut. Aber die meisten von diesen Kindern konnten einfach nicht spielen. Sie saßen nur verdrossen und gelangweilt herum und guckten Momo und ihren Freunden zu. Manchmal störten sie auch absichtlich und verdarben alles. Nicht selten gab es jetzt Zank und Streit. Das blieb freilich nicht so, denn Momos Gegenwart tat auch bei diesen Kindern ihre Wirkung und bald fingen sie an selber die besten Ideen zu haben und begeistert mitzuspielen. Aber es kamen eben fast täglich neue Kinder, sie kamen sogar von weit her aus anderen Stadtteilen. Und so fing alles immer wieder von vorn an, denn wie man weiß, genügt ja oft ein einziger Spielverderber, um den anderen alles zu zerstören.
Und dann war da noch etwas, das Momo nicht recht begreifen konnte. Es hatte auch erst in allerjüngster Zeit angefangen. Immer häufiger kam es jetzt vor, dass Kinder allerlei Spielzeug brachten, mit dem man nicht wirklich spielen konnte, zum Beispiel ein ferngesteuerter Tank, den man herumfahren lassen konnte -, aber weiter taugte er zu nichts. Oder eine Weltraumrakete, die an einer Stange im Kreis herumsauste -, aber sonst konnte man nichts damit anfangen. Oder ein kleiner Roboter, der mit glühenden Augen dahinwackelte und den Kopf drehte -, aber zu etwas anderem war er nicht zu gebrauchen.
Es waren natürlich sehr teure Spielsachen, wie Momos Freunde nie welche besessen hatten - und Momo selbst schon gar nicht. Vor allem waren alle diese Dinge so vollkommen bis in jede kleinste Einzelheit hinein, dass man sich dabei gar nichts mehr selber vorzustellen brauchte. So saßen die Kinder oft stundenlang da und schauten gebannt und doch gelangweilt so einem Ding zu, das da herumschnurrte, dahinwackelte oder im Kreis sauste -, aber es fiel ihnen nichts dazu ein. Darum kehrten sie schließlich doch wieder zu ihren alten Spielen zurück, bei denen ihnen ein paar Schachteln, ein zerrissenes Tischtuch, ein Maulwurfshügel oder eine Hand voll Steinchen genügten. Dabei konnte man sich alles vorstellen.
Irgendetwas schien auch heute Abend das Spiel nicht recht gelingen zu lassen. Die Kinder taten eines nach dem anderen nicht mehr mit, bis schließlich alle um Gigi, Beppo und Momo herumsaßen. Sie hofften, dass Gigi vielleicht zu erzählen anfangen würde, aber das ging nicht. Der kleinere Junge, der heute zum ersten Mal erschienen war, hatte nämlich ein Kofferradio bei sich. Er saß ein wenig abseits von den anderen und hatte den Apparat ganz laut gedreht. Es war eine Reklamesendung.
»Könntest du deinen blöden Kasten nicht vielleicht leiser drehen?«, fragte der verwahrloste Junge, der Franco hieß, in drohendem Ton.»Ich kann dich nicht verstehen«, sagte der fremde Junge und grinste,»mein Radio geht so laut.«
»Dreh's sofort leise!«, rief Franco und stand auf.
Der fremde Junge wurde ein bisschen blass, antwortete aber trotzig:»Du hast mir überhaupt nichts zu sagen und niemand. Ich kann mein Radio so laut drehen, wie ich mag.«
»Da hat er Recht«, meinte der alte Beppo,»wir können's ihm nicht verbieten. Wir können ihn höchstens bitten.«
Franco setzte sich wieder hin.
»Er soll doch woanders hingehen«, sagte er erbittert,»er verdirbt uns schon den ganzen Nachmittag alles.«
»Er wird schon seinen Grund haben«, antwortete Beppo und blickte den fremden Jungen freundlich und aufmerksam durch seine kleine Brille an.»Bestimmt hat er den.«
Der fremde Junge schwieg. Nach einer kleinen Weile drehte er sein Radio leise und schaute in eine andere Richtung. Momo ging zu ihm und setzte sich still neben ihn. Er schaltete das Radio ab.
Eine Weile war es still.
»Erzählst du uns was, Gigi?«, bat eines der Kinder, die neu waren.»O ja, bitte«, riefen die anderen,»eine lustige Geschichte! - Nein, eine aufregende! - Nein, ein Märchen! - Ein Abenteuer!«
Aber Gigi wollte nicht. Es war das erste Mal, dass das geschah.»Ich möchte viel lieber«, sagte er schließlich,»dass ihr mir was erzählt über euch und euer Zuhause, was ihr so macht und warum ihr hier seid.«
Die Kinder blieben stumm. Ihre Gesichter waren plötzlich traurig und verschlossen.
»Wir haben jetzt ein sehr schönes Auto«, ließ sich schließlich eines vernehmen.»Am Samstag, wenn mein Papa und meine Mama Zeit haben, dann wird es gewaschen. Wenn ich brav war, darf ich dabei helfen. Später will ich auch so eins.«
»Aber ich«, sagte ein kleines Mädchen,»ich darf jetzt jeden Tag ins Kino, wenn ich mag. Damit ich aufgehoben bin, weil sie leider keine Zeit haben.«
Und nach einer kleinen Pause setzte es hinzu:»Ich will aber nicht aufgehoben sein. Deswegen geh ich heimlich hierher und spar mir das Geld. Wenn ich genug Geld hab, dann kauf ich mir eine Fahrkarte, und dann fahr ich zu den sieben Zwergen.«
»Du bist dumm!«, rief ein anderes Kind.»Die gibt's doch gar nicht.«
»Doch gibt's die!«, sagte das kleine Mädchen trotzig.»Ich hab's sogar in einem Reiseprospekt gesehen.«
»Ich hab schon elf Märchenschallplatten«, erklärte ein kleiner Junge,»die kann ich mir so oft anhören, wie ich will. Früher hat mein Vater mir Abends, wenn er von der Arbeit gekommen ist, immer selber was erzählt. Das war schön. Aber jetzt ist er eben nie mehr da. Oder er ist müde und hat keine Lust.«
»Und deine Mutter?«, fragte das Mädchen Maria.
»Die ist jetzt auch immer den ganzen Tag weg.«
»Ja«, sagte Maria,»bei uns ist es genauso. Aber zum Glück hab ich Dedé.«Sie gab dem kleinen Geschwisterchen, das auf ihrem Schoß saß, einen Kuss und fuhr fort:»Wenn ich von der Schule komm, dann mach ich uns das Essen warm. Dann mach ich meine Aufgaben. Und dann…«, sie zuckte die Schultern,»na ja, dann laufen wir eben so rum, bis es Abend ist. Meistens kommen wir ja hierher.«
Alle Kinder nickten, denn mehr oder weniger ging es ihnen allen so.
»Ich bin eigentlich ganz froh«, meinte Franco und sah dabei gar nicht froh aus,»dass meine Alten keine Zeit mehr für mich haben. Sonst fangen sie bloß an zu streiten und ich krieg dann Prügel.«
Jetzt wandte sich ihnen plötzlich der Junge mit dem Kofferradio zu und sagte:»Aber ich, ich kriege jetzt viel mehr Taschengeld als früher!«
»Klar«, antwortete Franco,»das machen sie, damit sie uns loswerden! Sie mögen uns nicht mehr. Aber sie mögen sich selbst auch nicht mehr. Sie mögen überhaupt nichts mehr. Das ist meine Meinung.«
»Das ist nicht wahr!«, schrie der fremde Junge zornig.»Mich mögen meine Eltern sogar sehr. Sie können doch nichts dafür, dass sie keine Zeit mehr haben. Das ist eben so. Dafür haben sie mir aber jetzt sogar das Kofferradio geschenkt. Es war sehr teuer. Das ist doch ein Beweis - oder?«
Alle schwiegen.
Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu weinen an. Er versuchte es zu unterdrücken und wischte sich die Augen mit seinen schmutzigen Fäusten, aber die Tränen liefen in hellen Streifen durch die Schmutzflecken auf seinen Wangen.
Die anderen Kinder sahen ihn teilnahmsvoll an oder blickten zu Boden. Sie verstanden ihn nun. Eigentlich war jedem von ihnen ebenso zumute. Sie fühlten sich alle im Stich gelassen.
»Ja«, sagte der alte Beppo nach einer Weile noch einmal,»es wird kalt.«
»Ich darf vielleicht bald nicht mehr kommen«, sagte Paolo, der Junge mit der Brille.
»Warum denn nicht?«, fragte Momo verwundert.
»Meine Eltern haben gesagt«, erklärte Paolo,»ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt. Deswegen habt ihr so viel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viele gibt, haben andere Leute immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr hierher kommen, weil ich sonst genauso werde wie ihr.«
Wieder nickten einige der Kinder, denen man schon Ähnliches gesagt hatte.
Giei blickte die Kinder der Reihe nach an.»Glaubt ihr das etwa auch von uns? Oder warum kommt ihr trotzdem?«
Nach kurzem Stillschweigen meinte Franco:»Mir ist das gleich. Ich werd ja später sowieso Straßenräuber, sagt mein Alter immer. Ich bin auf eurer Seite.«
»Ach so«, sagte Gigi und zog die Augenbrauen hoch,»ihr haltet uns also auch für Tagediebe?«
Die Kinder schauten verlegen zu Boden. Schließlich blickte Paolo dem alten Beppo forschend ins Gesicht.
»Meine Eltern lügen doch nicht«, sagte er leise. Und dann fragte er noch leiser:»Seid ihr denn keine?«
Da erhob sich der alte Straßenkehrer in seiner ganzen, nicht sehr beträchtlichen Größe, streckte drei Finger in die Höhe und sprach:»Ich hab noch nie - noch niemals habe ich in meinem Leben dem lieben Gott oder einem Mitmenschen das kleinste bisschen Zeit gestohlen. Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe!«
»Ich auch!«, fügte Momo hinzu.
»Und ich auch!«, sagte Gigi ernst.
Die Kinder schwiegen beeindruckt. Keines unter ihnen bezweifelte die Worte der drei Freunde.
»Und überhaupt, jetzt will ich euch mal was sagen«, fuhr Gigi fort.»Früher sind die Leute immer gern zu Momo gekommen, damit sie ihnen zuhört. Sie haben sich dabei selbst gefunden, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber jetzt fragen sie danach nicht mehr viel. Früher sind die Leute auch immer gern gekommen, um mir zuzuhören. Dabei haben sie sich selbst vergessen. Danach fragen sie auch nicht mehr viel. Sie haben keine Zeit mehr für so was, sagen sie. Und für euch haben sie auch keine Zeit mehr. Merkt ihr was? Es ist doch merkwürdig, wofür sie keine Zeit mehr haben!«
Er machte die Augen schmal und nickte. Dann fuhr er fort:»Neulich habe ich in der Stadt einen alten Bekannten getroffen, einen Friseur, Fusi heißt er. Ich hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen und hätte ihn bald nicht mehr wiedererkannt, so verändert war er, nervös, mürrisch, freudlos. Früher war er ein netter Kerl gewesen, konnte sehr hübsch singen und hatte über alles seine ganz besonderen Gedanken. Für alles das hat er plötzlich keine Zeit mehr. Der Mann ist nur noch sein eigenes Gespenst, er ist überhaupt nicht mehr Fusi, versteht ihr? Wenn er's nur allein wäre, dann würde ich einfach denken, dass er ein bisschen verrückt geworden ist. Aber wo man hinschaut, sieht man solche Leute. Und es werden immer mehr. Jetzt fangen sogar unsere alten Freunde auch damit an! Ich frage mich wirklich, ob es Verrücktheit gibt, die ansteckend ist?«
Der alte Beppo nickte.»Bestimmt«, sagte er,»es muss eine Art Ansteckung sein.«
»Aber dann«, meinte Momo ganz bestürzt,»müssen wir unseren Freunden doch helfen!«
An diesem Abend berieten sie alle gemeinsam noch lang, was sie tun könnten. Aber von den grauen Herren und deren rastloser Tätigkeit ahnten sie nichts.
Während der nächsten Tage machte Momo sich auf die Suche nach ihren alten Freunden, um von ihnen zu erfahren, was los war und warum sie nicht mehr zu ihr kamen.
Zuerst ging sie zu Nicola, dem Maurer. Sie kannte das Haus gut, wo er oben unter dem Dach ein kleines Zimmer bewohnte. Aber er war nicht da. Die anderen Leute im Haus wussten nur, dass er jetzt drüben in den großen Neubauvierteln auf der anderen Seite der Stadt arbeite und eine Menge Geld verdiene. Er käme jetzt nur noch selten nach Hause und wenn, dann meistens sehr spät. Er sei jetzt auch oft nicht mehr ganz nüchtern und man könne überhaupt nicht mehr gut mit ihm auskommen.
Momo beschloss, auf ihn zu warten. Sie setzte sich vor seine Zimmertür auf die Treppe. Es wurde langsam dunkel und sie schlief ein. Es musste schon spät in der Nacht sein, als sie durch polternde Schritte und rauen Gesang geweckt wurde. Es war Nicola, der die Treppe heraufschwankte. Als er das Kind sah, blieb er verdutzt stehen.
»He, Momo!«, brummte er und es bereitete ihm sichtlich Verlegenheit, dass sie ihn so sah.»Gibt's dich auch noch! Was suchst du denn hier?«
»Dich«, antwortete Momo schüchtern.
»Na, du bist mir vielleicht eine!«, sagte Nicola und schüttelte lächelnd den Kopf.»Kommt hier mitten in der Nacht her, um nach ihrem alten Freund Nicola zu sehen. Ja, ich hätte dich ja auch schon längst mal wieder besucht, aber ich hab einfach keine Zeit mehr für solche… Privatsachen.«
Er machte eine fahrige Bewegung mit der Hand und setzte sich schwer neben Momo auf die Treppe.
»Was meinst du, was bei mir jetzt los ist, Kind! Das ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten ändern sich. Da drüben, wo ich jetzt bin, da wird ein anderes Tempo vorgelegt. Das geht wie der Teufel. Jeden Tag hauen wir ein ganzes Stockwerk drauf, eins nach dem anderen. Ja, das ist eine andere Sache als früher! Da ist alles organisiert, jeder Handgriff, verstehst du, bis ins Letzte hinein…«
Er redete weiter und Momo hörte ihm aufmerksam zu. Und je länger sie das tat, desto weniger begeistert klang seine Rede. Plötzlich hielt er inne und wischte sich mit seinen schwieligen Händen übers Gesicht.»Alles Unsinn, was ich da rede«, sagte er auf einmal traurig.»Du siehst, Momo, ich hab wieder mal zu viel getrunken. Ich geb's zu. Ich trink jetzt oft zu viel. Anders kann ichs nicht aushalten, was wir da machen. Das geht einem ehrlichen Maurer gegen das Gewissen. Viel zu viel Sand im Mörtel, verstehst du? Das hält alles vier, fünf Jahre, dann fällt es zusammen, wenn einer hustet. Alles Pfusch, hundsgemeiner Pfusch! Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Häuser, die wir da bauen. Das sind überhaupt keine Häuser, das sind - das sind - Seelensilos sind das! Da dreht sich einem der Magen um! Aber was geht mich das alles an? Ich kriege eben mein Geld und basta. Na ja, die Zeiten ändern sich. Früher, da war das anders bei mir, da war ich stolz auf meine Arbeit, wenn wir was gebaut hatten, was sich sehen lassen konnte. Aber jetzt… Irgendwann, wenn ich genug verdient hab, häng ich meinen Beruf an den Nagel und mach was anderes.«
Er ließ den Kopf hängen und starrte trübe vor sich hin. Momo sagte nichts, sie hörte ihm nur zu.
»Vielleicht«, fuhr Nicola leise nach einer Weile fort,»sollte ich wirklich mal wieder zu dir kommen und dir alles erzählen. Ja, wirklich, das sollte ich. Sagen wir gleich morgen, ja? Oder lieber übermorgen? Na, ich muss sehen, wie ich's einrichten kann. Aber ich komm bestimmt. Also, abgemacht?«
»Abgemacht«, antwortete Momo und freute sich. Und dann trennten sie sich, denn sie waren beide sehr müde.
Aber Nicola kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Er kam überhaupt nicht. Vielleicht hatte er wirklich nie mehr Zeit.
Als Nächsten besuchte Momo den Wirt Nino und seine dicke Frau. Das kleine alte Haus, mit dem regenfleckigen Verputz und der Weinlaube vor der Tür, lag am Stadtrand. Wie früher ging Momo hinten herum zur Küchentür. Die stand offen und Momo hörte schon von weitem, dass Nino und seine Frau Liliana einen heftigen Wortwechsel hatten. Liliana hantierte mit Töpfen und Pfannen am Herd. Ihr dickes Gesicht glänzte von Schweiß. Nino redete gestikulierend auf seine Frau ein. In einer Ecke saß das Baby der beiden in einem Korb und schrie.
Momo setzte sich leise neben das Baby. Sie nahm es auf den Schoß und schaukelte es sacht, bis es still war. Die beiden Eheleute unterbrachen ihr Wortgefecht und schauten hin.
»Ach, Momo, du bist es«, sagte Nino und lächelte flüchtig.»Nett, dass man dich mal wieder sieht.«
»Willst du was zu essen?«, fragte Liliana ein wenig barsch. Momo schüttelte den Kopf.
»Was willst du denn?«, erkundigte Nino sich nervös.»Wir haben im Moment wahrhaftig keine Zeit für dich.«
»Ich wollte nur fragen«, antwortete Momo leise,»warum ihr schon so lang nicht mehr zu mir gekommen seid?«
»Ich weiß auch nicht!«, sagte Nino gereizt.»Wir haben jetzt wirklich andere Sorgen.«
»Ja«, rief Liliana und klapperte mit den Töpfen,»er hat jetzt ganz andere Sorgen! Zum Beispiel, wie man alte Gäste hinausekelt, das sind jetzt seine Sorgen! Erinnerst du dich an die alten Männer, Momo, die früher immer an dem Tisch in der Ecke saßen? Weggejagt hat er sie! Hinausgeworfen hat er sie!«
»Das habe ich nicht getan!«, verteidigte sich Nino.»Ich habe sie höflich gebeten, sich ein anderes Lokal zu suchen. Dazu habe ich als Wirt das Recht.«
»Das Recht, das Recht!«, erwiderte Liliana aufgebracht.»So was tut man einfach nicht. Das ist unmenschlich und gemein. Du weißt genau, dass sie kein anderes Lokal finden. Bei uns haben sie keine Menschenseele gestört!«
»Natürlich haben sie keine Menschenseele gestört!«, rief Nino.»Weil nämlich kein anständiges, zahlendes Publikum zu uns gekommen ist, solang diese unrasierten alten Kerle da herumhockten. Glaubst du, so was gefällt den Leuten? Und an dem einzigen Glas billigen Rotwein, das jeder von denen sich pro Abend leisten kann, ist für uns nichts zu verdienen! Da bringen wir es nie zu was!«
»Wir sind bis jetzt ganz gut ausgekommen«, gab Liliana zurück.
»Bis jetzt, ja!«, antwortete Nino heftig.
»Aber du weißt ganz genau, dass es so nicht weitergeht. Der Hausbesitzer hat mir die Pacht erhöht. Ich muss jetzt ein Drittel mehr bezahlen als früher. Alles wird teurer. Woher soll ich das Geld nehmen, wenn ich aus meinem Lokal ein Asyl für arme alte Tatterer mache? Warum soll ich die anderen schonen? Mich schont ja auch keiner.«
Die dicke Liliana stellte eine Pfanne so hart auf den Herd, dass es knallte.
»Jetzt will ich dir mal was sagen«, rief sie und stemmte die Arme in ihre breiten Hüften.»Zu diesen armen alten Tatterern, wie du sie nennst, gehört zum Beispiel auch mein Onkel Ettore! Und ich erlaube nicht, dass du meine Familie beschimpfst! Er ist ein guter und ehrlicher Mann, auch wenn er nicht so viel Geld hat wie dein zahlendes Publikum!«
»Ettore kann ja wiederkommen!«, erwiderte Nino mit großer Geste.
»Ich hab's ihm gesagt, er kann bleiben, wenn er will. Aber er will ja nicht.«
»Natürlich will er nicht - ohne seine alten Freunde! Was stellst du dir vor? Soll er vielleicht ganz allein da draußen in einem Winkel hocken?«
»Dann kann ich's eben nicht ändern!«, schrie Nino.»Ich habe jedenfalls keine Lust, mein Leben als kleiner Spelunkenwirt zu beenden - bloß aus Rücksicht auf deinen Onkel Ettore! Ich will es auch zu was bringen! Ist das vielleicht ein Verbrechen? Ich will diesen Laden hier in Schwung bringen! Ich will etwas machen aus meinem Lokal! Und ich tue es nicht nur für mich. Ich tue es genauso für dich und für unser Kind. Kannst du das denn nicht begreifen, Liliana?«
»Nein«, sagte Liliana hart,»wenn es nur mit Herzlosigkeit geht - wenn es schon so anfängt, dann ohne mich! Dann geh ich eines Tages auf und davon. Mach, was du willst!«
Und sie nahm Momo das Baby, das inzwischen wieder zu weinen angefangen hatte, aus dem Arm und lief aus der Küche.
Längere Zeit sagte Nino nichts. Er zündete sich eine Zigarette an und drehte sie zwischen den Fingern.
Momo schaute ihn an.
»Na ja«, sagte er schließlich,»es waren ja nette Kerle. Ich mochte sie ja selber gern. Weißt du, Momo, es tut mir ja selber Leid, dass ich… aber was soll ich machen? Die Zeiten ändern sich eben. Vielleicht hat Liliana Recht«, fuhr er nach einer Weile fort.»Seit die Alten weg sind, kommt mir mein Lokal irgendwie fremd vor. Kalt, verstehst du? Ich kann's selbst nicht mehr leiden. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Aber alle machen's doch heute so. Warum soll ich allein es anders machen? Oder meinst du, ich soll's?«Momo nickte unmerklich.
Nino schaute sie an und nickte ebenfalls. Dann lächelten sie beide.
»Gut, dass du gekommen bist«, sagte Nino.»Ich hatte schon ganz vergessen, dass wir früher bei so was immer gesagt haben: Geh doch zu Momo! - Aber jetzt werde ich wieder kommen, mit Liliana. Übermorgen ist bei uns Ruhetag, da kommen wir. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete Momo.
Dann gab Nino ihr noch eine Tüte voll Äpfel und Orangen und sie ging nach Hause.
Und Nino und seine dicke Frau kamen tatsächlich. Auch das Baby brachten sie mit und einen Korb voll guter Sachen.
»Stell dir vor, Momo«, sagte Liliana strahlend,»Nino ist zu Onkel Ettore und den anderen Alten, jedem Einzelnen, hingegangen, hat sich entschuldigt und sie gebeten, wiederzukommen.«
»Ja«, fügte Nino lächelnd hinzu und kratzte sich hinter dem Ohr,»sie sind alle wieder da - mit dem Aufschwung meines Lokals wird es wohl nichts werden. Aber es gefällt mir wieder.«
Er lachte und seine Frau sagte:»Wir werden schon weiterleben, Nino.«
Es wurde ein sehr schöner Nachmittag und als sie schließlich gingen, versprachen sie, bald wiederzukommen.
Und so suchte Momo einen ihrer alten Freunde nach dem anderen auf. Sie ging zu dem Schreiner, der ihr damals das Tischchen und die Stühle aus Kistenbrettern gemacht hatte. Sie ging zu den Frauen, die ihr das Bett gebracht hatten. Kurz, sie sah nach allen, denen sie früher zugehört hatte und die davon gescheit, entschlossen oder froh geworden waren. Alle versprachen wiederzukommen. Manche hielten ihr Versprechen nicht oder konnten es nicht halten, weil sie keine Zeit dazu fanden. Aber viele alte Freunde kamen tatsächlich wieder und es war fast so wie früher.
Ohne es zu wissen, kam Momo damit den grauen Herren in die Quere. Und das konnten sie nicht dulden.
Kurze Zeit später - es war an einem besonders heißen Mittag - fand Momo auf den Steinstufen der Ruine eine Puppe.
Nun war es schon öfter vorgekommen, dass Kinder eines der teuren Spielzeuge, mit denen man nicht wirklich spielen konnte, einfach vergessen und liegen gelassen hatten. Aber Momo konnte sich nicht erinnern, diese Puppe bei einem der Kinder gesehen zu haben. Und sie wäre ihr bestimmt aufgefallen, denn es war eine ganz besondere Puppe. Sie war fast so groß wie Momo selbst und so naturgetreu gemacht, dass man sie beinahe für einen kleinen Menschen halten konnte. Aber sie sah nicht aus wie ein Kind oder ein Baby, sondern wie eine schicke junge Dame oder eine Schaufensterfigur. Sie trug ein rotes Kleid mit kurzem Rock und Riemchenschuhe mit hohen Absätzen.
Momo starrte sie fasziniert an.
Als sie sie nach einer Weile mit der Hand berührte, klapperte die Puppe einige Male mit den Augendeckeln, bewegte den Mund und sagte mit einer Stimme, die etwas quäkend klang, als käme sie aus einem Telefon:»Guten Tag. Ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.«
Momo fuhr erschrocken zurück, aber dann antwortete sie unwillkürlich:»Guten Tag, ich heiße Momo.«
Wieder bewegte die Puppe ihre Lippen und sagte:»Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um mich.«
»Ich glaub nicht, dass du mir gehörst«, meinte Momo.»Ich glaub eher, dass dich jemand hier vergessen hat.«
Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder und sie sagte:»Ich möchte noch mehr Sachen haben.«
»So?«, antwortete Momo und überlegte.»Ich weiß nicht, ob ich was hab, das zu dir passt. Aber warte mal, ich zeig dir meine Sachen, dann kannst du ja sagen, was dir gefällt.«
Sie nahm die Puppe und kletterte mit ihr durch das Loch in der Mauer in ihr Zimmer hinunter. Sie holte eine Schachtel mit allerlei Schätzen unter dem Bett hervor und stellte sie vor Bibigirl hin.»Hier«, sagte sie,»das ist alles, was ich hab. Wenn dir was gefällt, dann sag's nur.«
Und sie zeigte ihr eine hübsche bunte Vogelfeder, einen schön gemaserten Stein, einen goldenen Knopf, ein Stückchen buntes Glas. Die Puppe sagte nichts und Momo stieß sie an.
»Guten Tag«, quäkte die Puppe,»ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.«
»Ja«, sagte Momo,»ich weiß schon. Aber du wolltest dir doch was aussuchen, Bibigirl. Hier hab ich zum Beispiel eine schöne rosa Muschel. Gefällt sie dir?«
»Ich gehöre dir«, antwortete die Puppe,»alle beneiden dich um mich.«
»Ja, das hast du schon gesagt«, meinte Momo.»Aber wenn du nichts von meinen Sachen magst, dann können wir vielleicht spielen, ja?«
»Ich möchte noch mehr Sachen haben«, wiederholte die Puppe.
»Mehr hab ich nicht«, sagte Momo. Sie nahm die Puppe und kletterte wieder ins Freie hinaus. Dort setzte sie die vollkommene Bibigirl auf den Boden und nahm ihr gegenüber Platz.
»Wir spielen jetzt, dass du zu mir zu Besuch kommst«, schlug Momo vor.
»Guten Tag«, sagte die Puppe,»ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.«
»Wie nett, dass Sie mich besuchen!«, erwiderte Momo.»Woher kommen Sie denn, verehrte Dame?«
»Ich gehöre dir«, fuhr Bibigirl fort,»alle beneiden dich um mich.«
»Also hör mal«, meinte Momo,»so können wir doch nicht spielen, wenn du immer das Gleiche sagst.«
»Ich möchte noch mehr Sachen haben«, antwortete die Puppe und klimperte mit den Wimpern.
Momo versuchte es mit einem anderen Spiel und als auch das misslang, mit noch einem anderen und noch einem und noch einem. Aber es wurde einfach nichts daraus. Ja, wenn die Puppe gar nichts gesagt hätte, dann hätte Momo an ihrer Stelle antworten können und es hätte sich die schönste Unterhaltung ergeben. Aber so verhinderte Bibigirl gerade dadurch, dass sie redete, jedes Gespräch.
Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, dass es die Langeweile war.
Momo fühlte sich hilflos. Am liebsten hätte sie die vollkommene Puppe einfach liegen lassen und etwas anderes gespielt, aber sie konnte sich aus irgendeinem Grund nicht von ihr losreißen. So saß Momo schließlich nur noch da und starrte die Puppe an, die ihrerseits wieder mit blauen, gläsernen Augen Momo anstarrte, als hätten sie sich gegenseitig hypnotisiert.
Schließlich wandte Momo ihren Blick mit Willen von der Puppe weg - und erschrak ein wenig. Ganz nah stand nämlich ein elegantes aschengraues Auto, dessen Kommen sie nicht bemerkt hatte. In dem Auto saß ein Herr, der einen spinnwebfarbenen Anzug anhatte, einen grauen steifen Hut auf dem Kopf trug und eine kleine graue Zigarre rauchte. Auch sein Gesicht sah aus wie graue Asche.
Der Herr musste sie wohl schon eine ganze Weile beobachtet haben, denn er nickte Momo lächelnd zu. Und obwohl es so heiß an diesem Mittag war, dass die Luft in der Sonnenglut flimmerte, begann Momo plötzlich zu frösteln.
Jetzt öffnete der Mann die Wagentür, stieg aus und kam auf Momo zu. In der Hand trug er eine bleigraue Aktentasche.
»Was für eine schöne Puppe du hast!«, sagte er mit eigentümlich tonloser Stimme.»Darum können dich alle deine Spielkameraden beneiden.«
Momo zuckte nur die Schultern und schwieg.
»Die war bestimmt sehr teuer?«, fuhr der graue Herr fort.»Ich weiß nicht«, murmelte Momo verlegen,»ich hab sie gefunden.«
»Was du nicht sagst!«, erwiderte der graue Herr.»Du bist ja ein richtiger Glückspilz, scheint mir.«
Momo schwieg wieder und zog sich ihre viel zu große Männerjacke enger um den Leib. Die Kälte nahm zu.
»Ich habe allerdings nicht den Eindruck«, meinte der graue Herr mit dünnem Lächeln,»als ob du dich so besonders freust, meine Kleine.«
Momo schüttelte ein wenig den Kopf. Es war ihr plötzlich, als sei alle Freude für immer aus der Welt verschwunden - nein, als habe es überhaupt niemals so etwas gegeben. Und alles was sie dafür gehalten hatte, war nichts als Einbildung gewesen. Aber gleichzeitig fühlte sie etwas, das sie warnte.
»Ich habe dich schon seit einer ganzen Weile beobachtet«, fuhr der graue Herr fort,»und mir scheint, du weißt überhaupt nicht, wie man mit einer so fabelhaften Puppe spielen muss. Soll ich es dir zeigen?«
Momo blickte den Mann überrascht an und nickte.
»Ich will noch mehr Sachen haben«, quäkte die Puppe plötzlich.
»Na, siehst du, Kleine«, meinte der graue Herr,»sie sagt es dir sogar selbst. Mit einer so fabelhaften Puppe kann man nicht spielen wie mit irgendeiner anderen, das ist doch klar. Dazu ist sie auch nicht da. Man muss ihr schon etwas bieten, wenn man sich nicht mit ihr langweilen will. Pass mal auf, Kleine!«
Er ging zu seinem Auto und öffnete den Kofferraum.
»Zuerst einmal«, sagte er,»braucht sie viele Kleider. Hier ist zum Beispiel ein entzückendes Abendkleid.«
Er zog es hervor und warf es Momo zu.
»Und hier ist ein Pelzmantel aus echtem Nerz. Und hier ist ein seidener Schlafrock. Und hier ein Tennisdress. Und ein Skianzug. Und ein Badekostüm. Und ein Reitanzug. Ein Pyjama. Ein Nachthemd. Ein anderes Kleid. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins…«
Er warf alle die Sachen zwischen Momo und die Puppe, wo sie sich langsam zum Haufen türmten.
»So«, sagte er und lächelte wieder dünn,»damit kannst du erst einmal eine Weile spielen, nicht wahr, Kleine? Aber das wird nach ein paar Tagen auch langweilig, meinst du? Nun gut, dann musst du eben mehr Sachen für deine Puppe haben.«
Wieder beugte er sich über den Kofferraum und warf Sachen zu Momo herüber.
»Hier ist zum Beispiel eine richtige kleine Handtasche aus Schlangenleder, mit einem echten kleinen Lippenstift und einem Puderdöschen drin. Hier ist ein kleiner Fotoapparat. Hier ein Tennisschläger. Hier ein Puppenfernseher, der echt funktioniert. Hier ein Armband, eine Halskette, Ohrringe, ein Puppenrevolver, Seidenstrümpfchen, ein Federhut, ein Strohhut, ein Frühjahrshütchen, Golfschlägerchen, ein kleines Scheckbuch, Parfümfläschchen, Badesalz, Körperspray…«Er machte eine Pause und blickte Momo prüfend an, die wie gelähmt zwischen all den Sachen am Boden saß.
»Du siehst«, fuhr der graue Herr fort,»es ist ganz einfach. Man muss nur immer mehr und mehr haben, dann langweilt man sich niemals. Aber vielleicht denkst du, dass die vollkommene Bibigirl eines Tages alles haben wird und dass es dann eben doch wieder langweilig werden könnte. Nein, meine Kleine, keine Sorge! Da haben wir nämlich einen passenden Gefährten für Bibigirl.«
Und nun zog er aus dem Kofferraum eine andere Puppe hervor. Sie war ebenso groß wie Bibigirl, ebenso vollkommen, nur dass es ein junger Mann war. Der graue Herr setzte ihn neben Bibigirl, die Vollkommene, und erklärte:»Das ist Bubiboy! Für ihn gibt es auch wieder eine unendliche Menge Zubehör. Und wenn das alles, alles langweilig geworden ist, dann gibt es noch eine Freundin von Bibigirl und sie hat eine ganze eigene Ausstattung, die nur ihr passt. Und zu Bubiboy gibt es noch einen dazupassenden Freund und der hat wieder Freunde und Freundinnen. Du siehst also, es braucht nie wieder Langeweile zu geben, denn die Sache ist endlos fortzusetzen und es bleibt immer noch etwas, dass du dir wünschen kannst.«
Während er redete, holte er eine Puppe nach der anderen aus dem Kofferraum seines Wagens, dessen Inhalt unerschöpflich schien und stellte sie um Momo herum, die noch immer reglos dasaß und dem Mann eher erschrocken zuguckte.
»Nun?«, sagte der Mann schließlich und paffte dicke Rauchwolken.»Hast du jetzt begriffen, wie man mit einer solchen Puppe spielen muss?«
»Schon«, antwortete Momo. Sie begann jetzt vor Kälte zu zittern. Der graue Herr nickte zufrieden und sog an seiner Zigarre.»Nun möchtest du alle diese schönen Sachen natürlich gern behalten, nicht wahr? Also gut, meine Kleine, ich schenke sie dir! Du bekommst das alles - nicht sofort, sondern eines nach dem anderen, versteht sich! - und noch viel, viel mehr. Du brauchst auch nichts dafür zu tun. Du sollst nur damit spielen, so wie ich es dir erklärt habe. Nun, was sagst du dazu?«
Der graue Herr lächelte Momo erwartungsvoll an, aber da sie nichts sagte, sondern nur ernst seinen Blick erwiderte, setzte er hastig hinzu:»Du brauchst dann deine Freunde gar nicht mehr, verstehst du? Du hast ja nun genug Zerstreuung, wenn all diese schönen Sachen dir gehören und du immer noch mehr bekommst, nicht wahr? Und das willst du doch? Du willst doch diese fabelhafte Puppe? Du willst sie doch unbedingt, wie?«
Momo fühlte dunkel, dass ihr ein Kampf bevorstand, ja, dass sie schon mittendrin war. Aber sie wusste nicht, worum dieser Kampf ging und nicht gegen wen. Denn je länger sie diesem Besucher zuhörte, desto mehr ging es ihr mit ihm, wie es ihr vorher mit der Puppe gegangen war: Sie hörte eine Stimme, die redete, sie hörte Worte, aber sie hörte nicht den, der sprach. Sie schüttelte den Kopf.
»Was denn, was denn?«, sagte der graue Herr und zog die Augenbrauen hoch.»Du bist immer noch nicht zufrieden? Ihr heutigen Kinder seid aber wirklich anspruchsvoll! Möchtest du mir wohl sagen, was dieser vollkommenen Puppe denn nun noch fehlt?«
Momo blickte zu Boden und dachte nach.
»Ich glaub«, sagte sie leise,»man kann sie nicht lieb haben.«
Der graue Herr erwiderte eine ganze Weile nichts. Er starrte glasig vor sich hin wie die Puppen. Schließlich raffte er sich zusammen.»Darauf kommt es überhaupt nicht an«, sagte er eisig.
Momo schaute ihm in die Augen. Der Mann machte ihr Angst, vor allem durch die Kälte, die von seinem Blick ausging. Aber irgendwie tat er ihr seltsamerweise auch Leid, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb.
»Aber meine Freunde«, sagte sie,»die hab ich lieb.«
Der graue Herr verzog das Gesicht, als habe er plötzlich Zahnschmerzen. Aber er hatte sich gleich wieder in der Gewalt und lächelte messerdünn.
»Ich glaube«, erwiderte er sanft,»wir sollten einmal ernsthaft miteinander reden, Kleine, damit du lernst, worauf es ankommt.«
Er zog ein graues Notizbüchlein aus der Tasche und blätterte darin, bis er fand, was er suchte.
»Du heißt Momo, nicht wahr?«
Momo nickte. Der graue Herr klappte das Büchlein zu, steckte es wieder ein und setzte sich ein wenig ächzend zu Momo auf die Erde. Eine Weile sagte er nichts, sondern paffte nur nachdenklich an seiner kleinen grauen Zigarre.
»Also Momo - nun höre mir einmal gut zu!«, begann er schließlich.
Das hatte Momo ja schon die ganze Zeit versucht. Aber ihm war viel schwerer zuzuhören, als allen anderen, denen sie bisher zugehört hatte. Sonst konnte sie sozusagen ganz in den anderen hineinschlüpfen und verstehen, wie er es meinte und wie er wirklich war. Aber bei diesem Besucher gelang es ihr einfach nicht. Sooft sie es versuchte, hatte sie das Gefühl, ins Dunkle und Leere zu stürzen, als sei da gar niemand. Das war ihr noch nie widerfahren.
»Das Einzige«, fuhr der Mann fort,»worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat. Wer es weiterbringt, wer mehr wird und mehr hat als die anderen, dem fällt alles Übrige ganz von selbst zu: Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter. Du meinst also, dass du deine Freunde lieb hast. Wir wollen das einmal ganz sachlich untersuchen.«
Der graue Herr paffte einige Nullen in die Luft. Momo steckte die nackten Füße unter ihren Rock und verkroch sich, soweit es möglich war, in ihrer großen Jacke.
»Da erhebt sich als Erstes die Frage«, begann der graue Herr nun wieder,»was haben deine Freunde eigentlich davon, dass es dich gibt? Nützt es ihnen zu irgendetwas? Nein. Hilft es ihnen, voranzukommen, mehr zu verdienen, etwas aus ihrem Leben zu machen? Gewiss nicht. Unterstützt du sie in ihrem Bestreben Zeit zu sparen? Im Gegenteil. Du hältst sie von allem ab, du bist ein Klotz an ihrem Bein, du ruinierst ihr Vorwärtskommen! Vielleicht ist es dir bisher noch nicht bewusst geworden, Momo, - jedenfalls schadest du deinen Freunden einfach dadurch, dass du da bist. Ja, du bist in Wirklichkeit ohne es zu wollen, ihr Feind! Und das nennst du also jemand lieb haben?«
Momo wusste nicht, was sie erwidern sollte. So hatte sie die Dinge noch nie betrachtet. Einen Augenblick lang war sie sogar unsicher, ob der graue Herr nicht vielleicht Recht hatte.
»Und deshalb«, fuhr der graue Herr fort,»wollen wir deine Freunde vor dir beschützen. Und wenn du sie wirklich lieb hast, dann hilfst du uns dabei. Wir wollen, dass sie es zu etwas bringen. Wir sind ihre wahren Freunde. Wir können nicht stillschweigend mit ansehen, dass du sie von allem abhältst, was wichtig ist. Wir wollen dafür sorgen, dass du sie in Ruhe lässt. Und darum schenken wir dir all die schönen Sachen.«
»Wer»wir«?«, fragte Momo mit bebenden Lippen.»Wir von der Zeit-Spar-Kasse«, antwortete der graue Herr.»Ich bin Agent BLW/553/c. Ich persönlich meine es nur gut mir dir, denn die Zeit-Spar-Kasse lässt nicht mit sich spaßen.«
In diesem Augenblick erinnerte Momo sich plötzlich an das, was Beppo und Gigi über Zeit sparen und Ansteckung gesagt hatten. Ihr kam die schreckliche Ahnung, dass dieser graue Herr etwas damit zu tun hatte. Sehnlich wünschte sie, dass die beiden Freunde jetzt hier wären. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt. Aber sie beschloss, sich trotzdem keine Angst machen zu lassen. Sie nahm all ihre Kraft und ihren Mut zusammen und stürzte sich ganz und gar in die Dunkelheit und Leere hinein, hinter der der graue Herr sich vor ihr verbarg. Der hatte Momo aus den Augenwinkeln beobachtet. Die Veränderung in ihrem Gesicht war ihm nicht entgangen. Er lächelte ironisch, während er sich am Stummel seiner grauen Zigarre eine neue anzündete.
»Gib dir keine Mühe«, sagte er,»mit uns kannst du es nicht aufnehmen.«
Momo gab nicht nach.
»Hat dich denn niemand lieb?«, fragte sie flüsternd.
Der graue Herr krümmte sich und sank plötzlich ein wenig in sich zusammen. Dann antwortete er mit aschengrauer Stimme:»Ich muss schon sagen, so jemand wie du ist mir noch nicht vorgekommen, wirklich nicht. Und ich kenne viele Menschen. Wenn es mehr von deiner Sorte gäbe, dann könnten wir unsere Spar-Kasse bald zumachen und uns selbst in Nichts auflösen -, denn wovon sollten wir dann noch existieren?«
Der Agent unterbrach sich. Er starrte Momo an und schien gegen etwas anzukämpfen, das er nicht begreifen konnte und mit dem er nicht fertig wurde. Sein Gesicht wurde noch eine Spur aschengrauer. Als er nun wieder zu reden begann, war es, als geschehe es gegen seinen Willen, als brächen die Worte von selbst aus ihm hervor und er könne es nicht verhindern. Dabei verzerrte sich sein Gesicht mehr und mehr vor Entsetzen über das, was mit ihm geschah. Und nun hörte Momo endlich seine wahre Stimme:»Wir müssen unerkannt bleiben«, vernahm sie wie von weitem,»niemand darf wissen, dass es uns gibt und was wir tun… Wir sorgen dafür, dass kein Mensch uns im Gedächtnis behalten kann… Nur solang wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen… ein mühseliges Geschäft, den Menschen ihre Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen… denn alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren… Wir reißen sie an uns… wir speichern sie auf… wir brauchen sie… uns hungert danach… Ah, ihr wisst es nicht, was das ist, eure Zeit!… Aber wir, wir wissen es und saugen euch aus bis auf die Knochen… Und wir brauchen mehr… immer mehr… denn auch wir werden mehr… immer mehr… immer mehr…«
Diese letzten Worte hatte der graue Herr fast röchelnd hervorgestoßen, aber nun hielt er sich mit beiden Händen selbst den Mund zu. Die Augen quollen ihm hervor und er stierte Momo an. Nach einer Weile schien es, als ob er aus einer Art Betäubung wieder zu sich käme.
»Was - was war das?«, stammelte er.»Du hast mich ausgehorcht! Ich bin krank! Du hast mich krank gemacht, du!«- Und dann in beinahe flehendem Ton:»Ich habe lauter Unsinn geredet, liebes Kind. Vergiss es! Du musst mich vergessen, so wie alle anderen uns vergessen! Du musst! Du musst!«
Und er packte Momo und schüttelte sie. Sie bewegte die Lippen, vermochte aber nichts zu sagen.
Da sprang der graue Herr auf, blickte sich wie gehetzt um, packte seine bleigraue Aktentasche und rannte zu seinem Auto. Und nun geschah etwas höchst Sonderbares: Wie in einer umgekehrten Explosion flogen all die Puppen und die ganzen anderen umhergestreuten Sachen von allen Seiten in den Kofferraum hinein, der knallend zuschlug. Dann raste das Auto davon, dass die Steine spritzten.
Momo saß noch lang auf ihrem Platz und versuchte zu begreifen, was sie da gehört hatte. Nach und nach wich die schreckliche Kälte aus ihren Gliedern und in gleichem Maße wurde ihr alles immer klarer und klarer. Sie vergaß nichts. Denn sie hatte die wirkliche Stimme eines grauen Herren gehört. Vor ihr im dürren Gras stieg eine kleine Rauchsäule auf. Dort qualmte der zerdrückte Stummel der grauen Zigarre und zerfiel langsam zu Asche.
Am späteren Nachmittag kamen Gigi und Beppo. Sie fanden Momo im Schatten der Mauer sitzend, noch immer ein wenig blass und verstört. Sie setzten sich zu ihr und erkundigten sich besorgt, was mit ihr los wäre.
Stockend begann Momo zu berichten, was sie erlebt hatte. Und schließlich wiederholte sie Wort für Wort die ganze Unterhaltung mit dem grauen Herren.
Während der Erzählung schaute der alte Beppo Momo sehr ernst und prüfend an. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Auch nachdem Momo geendet hatte, schwieg er.
Gigi dagegen hatte mit wachsender Erregung zugehört. Seine Augen begannen zu glänzen, so wie sie es oft taten, wenn er selber beim Erzählen in Fahrt kam.
»Jetzt, Momo«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Schulter,»hat unsere große Stunde geschlagen! Du hast entdeckt, was bisher noch niemand wusste! Und jetzt werden wir nicht nur unsere alten Freunde, nein, jetzt werden wir die ganze Stadt retten! Wir drei, ich, Beppo und du, Momo!«
Er war aufgesprungen und hatte beide Hände ausgestreckt. In seiner Phantasie sah er vor sich eine riesige Menschenmenge, die ihm, dem Befreier, zujubelte.
»Schon«, sagte Momo ein wenig verwirrt,»aber wie wollen wir das machen?«
»Was meinst du?«, fragte Gigi irritiert.
»Ich meine«, erklärte Momo,»wie wollen wir das machen, die grauen Herren besiegen?«
»Na ja«, sagte Gigi,»so genau weiß ich das im Moment natürlich auch noch nicht. Das müssen wir uns erst ausdenken. Aber eines ist doch klar: Nachdem wir jetzt wissen, dass es sie gibt und was sie tun, müssen wir den Kampf mit ihnen aufnehmen - oder hast du etwa Angst?«
Momo nickte verlegen.»Ich glaub, es sind keine gewöhnlichen Männer. Der, der bei mir war, sah irgendwie anders aus. Und die Kälte ist ganz schlimm. Und wenn es viele sind, dann sind sie bestimmt sehr gefährlich. Ich hab schon Angst.«
»Ach was!«, rief Gigi begeistert.»Die Sache ist doch ganz einfach! Diese grauen Herren können ja nur ihrem finsteren Geschäft nachgehen, wenn sie unerkannt sind. Das hat dein Besucher doch selbst verraten. Also! Wir brauchen nur dafür zu sorgen, dass sie erkennbar werden. Denn wer sie einmal erkannt hat, der behält sie in Erinnerung und wer sich an sie erinnert, der erkennt sie sofort! Also können sie uns überhaupt nichts anhaben - wir sind unangreifbar!«
»Glaubst du?«, fragte Momo etwas zweifelnd.
»Selbstverständlich!«, fuhr Gigi mit leuchtenden Augen fort.»Sonst wäre dein Besucher doch nicht so Hals über Kopf vor dir geflohen. Sie zittern vor uns!«
»Aber dann«, meinte Momo,»werden wir sie vielleicht gar nicht finden? Vielleicht verstecken sie sich vor uns.«
»Das kann allerdings leicht sein«, gab Gigi zu.»Dann müssen wir sie eben aus ihrem Versteck herauslocken.«
»Und wie?«, fragte Momo.»Sie sind, glaub ich, sehr schlau.«
»Nichts leichter als das!«, rief Gigi und lachte.»Wir fangen sie mit ihrer eigenen Gier. Mit Speck fängt man Mäuse, also fängt man Zeit-Diebe mit Zeit. Wir haben doch genug davon! Du müsstest dich zum Beispiel als Köder hinsetzen und sie anlocken. Und wenn sie dann kommen, dann werden Beppo und ich aus unserem Versteck hervorbrechen und sie überwältigen.«
»Aber mich kennen sie jetzt schon«, wandte Momo ein.»Ich glaub nicht, dass sie darauf hereinfallen.«
»Gut«meinte Gigi, bei dem die Einfalle anfingen sich zu überstürzen,»dann werden wir eben etwas anderes machen. Der graue Herr hat doch was von der Zeit-Spar-Kasse gesagt. Das muss doch wohl ein Gebäude sein. Es steht irgendwo in der Stadt. Wir müssen es nur finden. Und das werden wir bestimmt, denn ich bin sicher, dass es ein ganz besonderes Gebäude ist: grau, unheimlich, fensterlos, ein riesenhafter Geldschrank aus Beton! Ich sehe es vor mir. Wenn wir es gefunden haben, dann gehen wir hinein. Jeder von uns hat in beiden Händen eine Pistole.»Gebt auf der Stelle alle gestohlene Zeit heraus!«, sage ich…«
»Wir haben aber gar keine Pistolen«, unterbrach ihn Momo bekümmert.
»Dann machen wir es eben ohne Pistolen«, antwortete Gigi großartig.»Das wird sie sogar noch mehr erschrecken. Unsere Erscheinung allein wird schon genügen, sie in panische Furcht zu versetzen.«
»Es wäre vielleicht gut«, sagte Momo,»wenn wir dabei ein bisschen mehr wären, nicht bloß wir drei. Ich meine, dann würden wir die Zeit-Spar-Kasse vielleicht auch eher finden, wenn noch andere mitsuchen.«
»Das ist eine sehr gute Idee«, entgegnete Gigi.»Wir sollten alle unsere alten Freunde mobilisieren. Und die vielen Kinder, die jetzt immer kommen. Ich schlage vor, wir gehen sofort alle drei los und jeder benachrichtigt so viele, wie er finden kann. Und die sollen es wieder den anderen weitersagen. Wir treffen uns alle morgen Nachmittag um drei hier zur großen Beratung!«
Sie machten sich also gleich auf den Weg, Momo in der einen Richtung, Beppo und Gigi in der anderen. Als die beiden Männer schon eine Weile gegangen waren, blieb Beppo, der bis jetzt noch immer geschwiegen hatte, plötzlich stehen.
»Hör mal, Gigi«, sagte er,»ich mach mir Sorgen.«
Gigi drehte sich nach ihm um.»Worüber denn?«
Beppo blickte den Freund eine Weile an und sagte dann:»Ich glaube Momo.«
»Ja und?«, fragte Gigi verwundert.
»Ich meine«, fuhr Beppo fort,»ich glaube, dass es wahr ist, was Momo uns erzählt hat.«
»Gut, und was weiter?«, fragte Gigi, der nicht verstand, was Beppo wollte.
»Weißt du«, erklärte Beppo,»wenn es nämlich wahr ist, was Momo da gesagt hat, dann müssen wir uns gut überlegen, was wir tun. Wenn es sich wirklich um eine geheime Verbrecherbande handelt - mit so jemand legt man sich nicht so ohne weiteres an, verstehst du? Wenn wir die einfach so herausfordern, dann kann das Momo in eine schlimme Lage bringen. Von uns will ich gar nicht reden, aber wenn wir jetzt auch noch die Kinder mit hineinziehen, dann bringen wir sie vielleicht in Gefahr. Wir müssen uns wirklich überlegen, was wir tun.«
»Ach was!«, rief Gigi und lachte.»Was du dir immer für Sorgen machst! Je mehr mitmachen, desto besser ist es doch.«
»Mir scheint«, erwiderte Beppo ernst,»du glaubst gar nicht, dass es wahr ist, was Momo erzählt hat.«
»Was heißt denn wahr!«, antwortete Gigi.»Du bist ein Mensch ohne Phantasie, Beppo. Die ganze Welt ist eine große Geschichte und wir spielen darin mit. Doch, Beppo, doch, ich glaube alles, was Momo erzählt hat, genauso wie du!«
Beppo wusste nichts darauf zu erwidern, aber seine Sorgen waren durch Gigis Antwort keineswegs geringer geworden.
Dann trennten sie sich und jeder ging in eine andere Richtung um die Freunde und die Kinder von der morgigen Versammlung zu benachrichtigen, Gigi mit leichtem, Beppo mit schwerem Herzen.
In dieser Nacht träumte Gigi vom künftigen Ruhm als Befreier der Stadt. Er sah sich im Frack, Beppo im Bratenrock und Momo in einem Kleid aus weißer Seide. Und dann wurden ihnen allen Dreien goldene Ketten um den Hals gelegt und Lorbeerkränze aufgesetzt. Großartige Musik ertönte und die Stadt veranstaltete zu Ehren ihrer Retter einen Fackelzug, wie er noch nie zuvor Menschen dargebracht worden war, so lang und so prächtig.
Zur gleichen Zeit lag der alte Beppo auf seinem Bett und konnte keinen Schlaf finden. Je länger er nachdachte, desto deutlicher wurde ihm die Gefährlichkeit der ganzen Sache. Natürlich würde er Gigi und Momo nicht allein ins Verderben rennen lassen - er würde mitgehen, was auch immer daraus werden mochte. Aber er musste wenigstens versuchen, sie zurückzuhalten.
Am nächsten Nachmittag um drei Uhr hallte die Ruine des alten Amphitheaters wider vom aufgeregten Geschrei und Geschnatter vieler Stimmen. Die Erwachsenen unter den alten Freunden waren zwar leider nicht gekommen (außer Beppo und Gigi natürlich), aber etwa fünfzig bis sechzig Kinder von nah und fern, arme und reiche, wohlerzogene und wilde, größere und kleinere. Manche hatten, wie das Mädchen Maria, Geschwisterchen dabei, die an der Hand geführt oder auf dem Arm getragen wurden und nun mit großen Augen, den Finger im Mund, diese ungewöhnliche Versammlung betrachteten. Franco, Paolo und Massimo waren natürlich auch da, die übrigen Kinder gehörten fast alle zu denen, die erst in letzter Zeit ins Amphitheater gekommen waren. Sie interessierten sich natürlich ganz besonders für die Sache, um die es hier gehen sollte. Übrigens war auch der kleinere Junge mit dem Kofferradio erschienen - ohne Kofferradio allerdings. Er saß neben Momo, der er heute gleich als Erstes gesagt hatte, dass er Claudio heiße und froh sei, dass er mitmachen dürfe.
Als schließlich ersichtlich war, dass keine Nachzügler mehr kommen würden, erhob sich Gigi Fremdenführer und gebot mit großer Gebärde Schweigen. Die Unterhaltungen und das Geschnatter verstummten, und erwartungsvolle Stille breitete sich in dem steinernen Rund aus.»Liebe Freunde«, begann Gigi mit lauter Stimme,»ihr alle wisst ja schon ungefähr, worum es geht. Das hat man euch bei der Einladung zu dieser Geheimversammlung mitgeteilt. Bis heute war es so, dass immer mehr Menschen immer weniger Zeit hatten, obgleich mit allen Mitteln fortwährend Zeit gespart wurde. Aber seht ihr, gerade diese Zeit, die da gespart wurde, war es, die den Menschen abhanden kam. Und warum? Momo hat es entdeckt! Den Menschen wird diese Zeit buchstäblich von einer Bande von Zeit-Dieben gestohlen! Und dieser eiskalten Verbrecherorganisation das Handwerk zu legen, das ist es, wozu wir eure Hilfe brauchen. Wenn ihr alle bereit seid, mitzumachen, dann wird dieser ganze Spuk, der über die Menschen gekommen ist, mit einem Schlag zu Ende sein. Meint ihr nicht, dass es sich dafür zu kämpfen lohnt?«
Er machte eine Pause und die Kinder klatschten Beifall.
»Wir werden nachher«, fuhr Gigi fort,»darüber beraten, was wir unternehmen wollen. Aber nun soll euch zuerst Momo erzählen, wie sie einem dieser Kerle begegnet ist und wie er sich verraten hat.«
»Moment mal«, sagte der alte Beppo und stand auf,»hört mal zu, Kinder! Ich bin dagegen, dass Momo redet. Das geht so nicht. Wenn sie redet, bringt sie sich selber und euch alle in die größte Gefahr…«
»Doch«, riefen einige Kinder,»Momo soll erzählen!«
Andere fielen ein und schließlich riefen alle im Chor:» Momo! Momo! Momo!«
Der alte Beppo setzte sich, nahm seine Brille ab und strich sich mit den Fingern müde über die Augen.
Momo stand verwirrt auf. Sie wusste nicht recht, wessen Wunsch sie folgen sollte, dem Beppos oder dem der Kinder. Schließlich begann sie zu erzählen. Die Kinder hörten gespannt zu. Als sie geendet hatte, folgte eine lange Stille.
Während Momos Bericht war ihnen allen etwas bänglich zumut gewesen. So unheimlich hatten sie sich diese Zeit-Diebe nicht vorgestellt. Ein kleines Geschwisterchen fing laut zu weinen an, wurde aber gleich wieder beschwichtigt.
»Nun?«, fragte Gigi in die Stille hinein.»Wer von euch traut sich, mit uns zusammen den Kampf gegen diese grauen Herren aufzunehmen? «
»Warum hat Beppo nicht gewollt«, fragte Franco,»dass Momo uns ihr Erlebnis erzählt?«
»Er meint«, erklärte Gigi und lächelte aufmunternd,»dass die grauen Herren jeden, der ihr Geheimnis kennt, als Gefahr für sich betrachten und ihn deshalb verfolgen werden. Aber ich bin sicher, dass es gerade umgekehrt ist, dass jeder, der ihr Geheimnis kennt, gegen sie gefeit ist und sie ihm nichts mehr anhaben können. Das ist doch klar! Gib es doch zu, Beppo!«
Aber der schüttelte nur langsam den Kopf. Die Kinder schwiegen.
»Eines steht jedenfalls fest«, ergriff Gigi wieder das Wort,»wir müssen jetzt auf Gedeih und Verderb zusammenhalten! Wir müssen vorsichtig sein, aber wir dürfen uns keine Angst machen lassen. Und darum frage ich euch nun noch einmal, wer von euch will mitmachen?«
»Ich!«, rief Claudio und stand auf. Er war ein bisschen blass. Seinem Beispiel folgten erst zögernd, dann immer entschlossener andere, bis zuletzt alle Anwesenden sich gemeldet hatten.
»Nun, Beppo«, meinte Gigi und wies auf die Kinder,»was sagst du dazu?«
»Gut«, antwortete Beppo und nickte traurig,»ich mach natürlich auch mit.«
»Also«, wandte Gigi sich wieder an die Kinder,»dann wollen wir jetzt beraten, was wir tun sollen. Wer hat irgendeinen Vorschlag?«
Alle dachten nach.
Schließlich fragte Paolo, der Junge mit der Brille:»Aber wie können die das? Ich meine, wie kann man denn Zeit wirklich stehlen? Wie soll denn das gehen?«
»Ja«, rief Claudio,»was ist denn Zeit überhaupt?«
Niemand wusste eine Antwort.
Auf der anderen Seite des steinernen Rundes erhob sich nun das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé auf dem Arm und sagte:»Vielleicht ist es so was wie Atome? Sie können ja auch Gedanken, die einer bloß im Kopf denkt, mit einer Maschine aufschreiben. Das hab ich selber im Fernsehen gesehen. Es gibt doch heute für alles Spezialfachleute.«
»Ich hab eine Idee!«, rief der dicke Massimo mit seiner Mädchenstimme.»Wenn man Filmaufnahmen macht, ist doch alles auf dem Film drauf. Und bei Tonbandaufnahmen ist alles auf dem Band. Vielleicht haben sie einen Apparat, mit dem man die Zeit aufnehmen kann. Wenn wir wüssten, wo sie drauf ist, dann könnten wir sie einfach wieder ablaufen lassen, dann wäre sie wieder da!«
»Jedenfalls«, sagte Paolo und schob seine Brille auf der Nase hoch,»müssen wir erst mal einen Wissenschaftler finden, der uns hilft. Sonst können wir gar nichts machen.«
»Du immer mit deinen Wissenschaftlern!«, rief Franco.»Denen kann man schon gleich nicht trauen! Nimm mal an, wir finden einen, der Bescheid weiß - woher willst du wissen, dass er nicht mit den Zeit-Dieben zusammenarbeitet? Dann sitzen wir schön in der Tinte!«Das war ein berechtigter Einwand.
Jetzt erhob sich ein sichtlich wohlerzogenes Mädchen und sagte:»Ich finde, das Beste wäre, wir melden das Ganze der Polizei.«
»So weit kommt's noch!«, protestierte Franco.»Die Polizei, was die schon machen kann! Das sind doch keine gewöhnlichen Räuber! Entweder weiß die Polizei schon längst Bescheid, dann ist sie offenbar machtlos. Oder sie hat noch nichts von dem ganzen Saustall gemerkt - dann ist es sowieso hoffnungslos. Das ist meine Meinung.«Eine Stille der Ratlosigkeit folgte.
»Aber irgendwas müssen wir doch tun«, meinte Paolo schließlich.»Und zwar möglichst schnell, ehe die Zeit-Diebe etwas von unserer Verschwörung merken.«
Nun erhob sich Gigi Fremdenführer.
»Liebe Freunde«, begann er,»ich habe mir die ganze Angelegenheit gründlich überlegt. Ich habe Hunderte von Plänen entwickelt und wieder verworfen, bis ich schließlich einen gefunden habe, der mit Sicherheit zum Ziel führen wird. Wenn ihr alle mitmacht! Ich wollte nur zuerst hören, ob einer von euch vielleicht einen besseren Plan hat. Also, ich will euch nun sagen, was wir tun werden.«
Er machte eine Pause und blickte langsam im ganzen Rund umher. Mehr als fünfzig Kindergesichter waren ihm zugewandt. So viele Zuhörer hatte er schon lange nicht mehr gehabt.
»Die Macht dieser grauen Herren«, fuhr er fort,»liegt darin, wie ihr nun wisst, dass sie unerkannt und im Geheimen arbeiten können. Also ist das einfachste und wirkungsvollste Mittel, um sie unschädlich zu machen, dass alle Leute die Wahrheit über sie erfahren. Und wie werden wir das machen? Wir werden eine große Kinder-Demonstration veranstalten! Wir werden Plakate und Transparente malen und damit durch alle Straßen ziehen. Wir werden die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf uns lenken. Und wir werden die ganze Stadt hierher zu uns ins alte Amphitheater einladen, um sie aufzuklären. Es wird eine ungeheure Aufregung unter den Leuten geben! Tausende und Abertausende werden herbeiströmen! Und wenn sich hier eine unübersehbare Menschenmenge versammelt hat, dann werden wir das schreckliche Geheimnis aufdecken! Und dann - dann wird sich die Welt mit einem Schlag ändern! Man wird niemand mehr die Zeit stehlen können. Jeder wird so viel davon haben, wie er nur haben will, denn von nun an ist ja wieder genug da. Und das, meine Freunde, können wir, wir alle gemeinsam schaffen, wenn wir nur wollen. Wollen wir?«
Ein vielstimmiger Jubelschrei war die Antwort.
»Ich stelle also fest«, schloss Gigi seine Rede,»wir haben einstimmig den Beschluss gefasst, die ganze Stadt für den nächsten Sonntagnachmittag ins alte Amphitheater einzuladen. Aber bis dahin muss strengstes Stillschweigen über unseren Plan bewahrt werden, verstanden? Und nun, Freunde - an die Arbeit!«
Diesen und die folgenden Tage herrschte heimlicher, aber fieberhafter Hochbetrieb in der Ruine. Papier und Töpfe voll Farbe und Pinsel und Leim und Bretter und Pappe und Latten und was sonst noch alles nötig war, wurde herbeigeschafft. (Wie und woher, wollen wir lieber nicht fragen.) Und während die einen Transparente und Plakate und Umhängetafeln fabrizierten, dachten sich die anderen, die gut schreiben konnten, eindrucksvolle Texte aus und malten sie darauf. Es waren Aufrufe, die zum Beispiel Folgendes mitteilten:
Und auf allen stand außerdem Ort und Datum der Einladung. Als schließlich alles fertig war, stellten sich die Kinder im Amphitheater auf, Gigi, Beppo und Momo an der Spitze und dann zogen sie mit ihren Tafeln und Transparenten im langen Gänsemarsch in die Stadt. Dazu machten sie Lärm mit Blechdeckeln und Pfeifchen, riefen Sprechchöre und sangen folgendes Lied, das Gigi eigens für diesen Anlass gedichtet hatte:
Das Lied hatte natürlich noch mehr Strophen, achtundzwanzig insgesamt, aber die brauchen wir hier nicht alle aufzuführen. Ein paarmal griff die Polizei ein und trieb die Kinder auseinander, wenn sie den Straßenverkehr behinderten. Aber die Kinder ließen sich dadurch keineswegs entmutigen. Sie sammelten sich an anderen Stellen wieder neu und fingen von vorn an. Sonst passierte ihnen nichts und graue Herren konnten sie, trotz angestrengtester Aufmerksamkeit, nirgends entdecken.
Aber viele andere Kinder, die den Umzug sahen und bisher noch nichts von der ganzen Sache gewusst hatten, schlossen sich an und gingen mit, bis es viele hundert und schließlich sogar tausend waren. Überall in der großen Stadt zogen nun Kinder in langen Prozessionen durch die Straßen und luden die Erwachsenen zu der wichtigen Versammlung ein, die die Welt verändern sollte.
Die große Stunde war vorüber.
Sie war vorüber und keiner der Eingeladenen war gekommen. Gerade diejenigen Erwachsenen, die es am meisten anging, hatten von den Umzügen der Kinder kaum etwas bemerkt. Nun war also alles umsonst gewesen.
Die Sonne neigte sich schon tief dem Horizont zu und stand groß und rot in einem purpurnen Wolkenmeer. Ihre Strahlen streiften nur noch die obersten Stufen des alten Amphitheaters, in dem seit Stunden Hunderte von Kindern saßen und warteten. Kein Stimmengewirr und kein fröhlicher Lärm war mehr zu hören. Alle saßen still und traurig da.
Die Schatten verlängerten sich rasch, bald würde es dunkel werden. Die Kinder begannen zu frösteln, denn es wurde kühl. Eine Kirchturmuhr in der Ferne schlug achtmal. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass die Sache ganz und gar misslungen war.
Die ersten Kinder standen auf und gingen schweigend fort, andere schlossen sich ihnen an. Niemand sagte ein Wort. Die Enttäuschung war zu groß.
Schließlich kam Paolo zu Momo und sagte:»Es hat keinen Zweck mehr zu warten, Momo. Jetzt kommt keiner mehr. Gute Nacht, Momo.«
Und er ging.
Dann kam Franco zu ihr und sagte:»Da kann man nichts machen. Mit den Erwachsenen brauchen wir nicht mehr zu rechnen, das haben wir ja jetzt gesehen. Ich war ja immer schon misstrauisch gegen sie, aber jetzt will ich überhaupt nichts mehr mit ihnen zu tun haben.«Dann ging auch er und ihm folgten andere. Und schließlich, als es schon dunkel wurde, gaben auch die letzten Kinder die Hoffnung
zogen ab.
Momo blieb mit Beppo und Gigi allein.
Nach einer Weile stand auch der alte Straßenkehrer auf.
»Gehst du auch?«, fragte Momo.
»Ich muss«, antwortete Beppo,»ich hab Sonderdienst.«
»In der Nacht?«
»Ja, sie haben uns ausnahmsweise zum Müllabladen eingeteilt. Da muss ich jetzt hin.«
»Aber es ist doch Sonntag! Und überhaupt, das hast du doch noch nie gemusst!«
»Nein, aber jetzt haben sie uns dazu eingeteilt. Ausnahmsweise, sagen sie. Weil sie sonst nicht fertig werden. Personalmangel und so.«
»Schade«, meinte Momo,»ich war froh gewesen, wenn du heute hier geblieben wärst.«
»Ja, mir ist es gar nicht recht, dass ich jetzt weg muss«, sagte Beppo.
»Also, auf Wiedersehen, bis morgen.«
Er schwang sich auf sein quietschendes Fahrrad und verschwand in der Dunkelheit.
Gigi pfiff leise ein melancholisches Lied vor sich hin. Er konnte sehr schön pfeifen und Momo hörte ihm zu. Aber plötzlich brach er die Melodie ab.
»Ich muss ja auch weg!«, sagte er.»Heute ist ja Sonntag, da muss ich ja Nachtwächter spielen! Hab ich dir schon erzählt, dass das mein neuester Beruf ist? Ich hätt's beinah vergessen.«
Momo schaute ihn groß an und sagte nichts.
»Sei nicht traurig«, fuhr Gigi fort,»dass unser Plan nicht so gelungen ist, wie wir dachten. Ich hatte mir auch was anderes vorgestellt. Aber trotzdem - eigentlich hat es doch Spaß gemacht! Es war großartig.«
Da Momo beharrlich schwieg, fuhr er ihr tröstend durch die Haare und fügte hinzu:»Nimm's doch nicht so schwer, Momo. Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Wir denken uns einfach was Neues aus, eine neue Geschichte, ja?«
»Das war keine Geschichte«, sagte Momo leise.
Gigi stand auf.»Ich versteh schon, aber wir reden morgen weiter darüber, einverstanden? Ich muss jetzt los, ich bin sowieso schon zu spät dran. Und du solltest dich jetzt schlafen legen.«
Und er ging, sein melancholisches Lied pfeifend, davon.
So blieb Momo ganz allein in dem großen steinernen Rund sitzen. Die Nacht war sternenlos. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt. Ein seltsamer Wind erhob sich. Er war nicht stark, aber unablässig und er war von einer eigentümlichen Kälte. Es war sozusagen ein aschengrauer Wind.
Weit draußen vor der großen Stadt erhoben sich die gewaltigen Müllhalden. Es war ein richtiges Gebirge aus Asche, Scherben, Blechbüchsen, alten Matratzen, Plastikresten, Pappschachteln und all den anderen Sachen, die in der großen Stadt jeden Tag weggeworfen wurden und die hier darauf warteten, nach und nach in die riesigen Verbrennungsöfen zu wandern.
Bis spät in die Nacht hinein half der alte Beppo, zusammen mit seinen Kollegen, den Müll von den Lastwagen zu schaufeln, die in langer Reihe und mit leuchtenden Scheinwerfern standen, um entladen zu werden. Und je mehr abgefertigt waren, desto mehr hatten sich schon wieder an die Reihe angeschlossen.
»Eilt euch, Leute!«, hieß es ständig.»Los, los! Sonst werden wir nie fertig!«
Beppo hatte geschaufelt und geschaufelt, bis ihm das Hemd am Leibe klebte. Gegen Mitternacht endlich war es vorüber. Da Beppo ja schon alt und sowieso nicht gerade von sehr kräftiger Statur war, saß er nun erschöpft auf einer umgekehrten, zerlöcherten Plastikwanne und versuchte zu Atem zu kommen.
»He, Beppo«, rief einer seiner Kollegen,»wir fahren jetzt heim. Kommst du mit?«
»Einen Augenblick«, sagte Beppo und drückte die Hand auf sein Herz, das wehtat.
»Ist dir nicht gut, Alter?«, fragte ein anderer.
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Beppo,»fahrt nur schon los. Ich ruhe mich nur noch einen Augenblick aus.«
»Also dann«, riefen die anderen,»gute Nacht!«Und sie fuhren weg. Es wurde still. Nur die Ratten raschelten da und dort im Müll und pfiffen manchmal. Beppo schlief ein, den Kopf in seine Arme gestützt. Wie lange er so geschlafen hatte, wusste er nicht, als ihn plötzlich ein kalter Windstoß weckte. Er blickte auf und war mit einem Schlag hellwach.
Auf dem ganzen riesigen Müll-Gebirge standen graue Herren in feinen Anzügen, runde steife Hüte auf den Köpfen, bleigraue Aktentaschen in den Händen und kleine graue Zigarren zwischen den Lippen. Sie alle schwiegen und blickten unverwandt zur höchsten Stelle der Müllhalde, wo eine Art Richtertisch aufgebaut war, hinter dem drei Herren saßen, die sich sonst in nichts von den übrigen unterschieden.
Im ersten Augenblick durchfuhr Beppo Angst. Er fürchtete entdeckt zu werden. Hier durfte er nicht sein, das war ihm klar, ohne dass er darüber nachdenken musste.
Aber dann bemerkte er bald, dass die grauen Herren wie gebannt zu dem Richtertisch hinaufblickten. Vielleicht sahen sie ihn überhaupt nicht oder vielleicht hielten sie ihn einfach für irgendeine weggeworfene Sache. Jedenfalls beschloss Beppo, sich mucksmäuschenstill zu verhalten.
»Der Agent BLW/553/c möge vor das Hochgericht treten!«, erscholl in die Stille hinein die Stimme des Herren, der oben am Tisch in der Mitte saß.
Der Ruf wurde weiter unten wiederholt und erklang wie ein zweites Echo nochmals weit entfernt. Dann öffnete sich eine Gasse in der Menge und ein grauer Herr stieg langsam die Müllhalde hinauf. Das Einzige, was ihn von allen anderen deutlich unterschied, war, dass das Grau seines Gesichtes fast weiß war.
Endlich stand er vor dem Richtertisch.»Sie sind Agent BLW/553/c?«, fragte der in der Mitte.
»Jawohl.«
»Seit wann arbeiten Sie für die Zeit-Spar-Kasse?«
»Seit meiner Entstehung.«
»Das versteht sich von selbst. Sparen Sie sich solche überflüssigen Bemerkungen! Wann sind Sie entstanden?«
»Vor elf Jahren, drei Monaten, sechs Tagen, acht Stunden, zweiunddreißig Minuten und - in diesem Augenblick genau - achtzehn Sekunden.«
Obwohl diese Unterhaltung leise geführt wurde und überdies weit entfernt stattfand, konnte der alte Beppo seltsamerweise jedes Wort verstehen.
»Ist Ihnen bekannt«, fuhr der Herr in der Mitte mit seiner Befragung fort,»dass es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kindern in dieser Stadt gibt, die heute überall Tafeln und Plakate herumgetragen haben und die sogar den ungeheuerlichen Plan hatten, die ganze Stadt zu sich einzuladen, um sie über uns aufzuklären?«
»Es ist mir bekannt«, antwortete der Agent.
»Wie erklären Sie sich«, fragte der Richter unerbittlich weiter,»dass diese Kinder überhaupt über uns und unsere Tätigkeit Bescheid wissen?«
»Ich kann es mir auch nicht erklären«, gab der Agent zur Antwort.»Aber wenn ich mir hierzu eine Bemerkung erlauben darf, so möchte ich dem Hohen Gericht nahe legen, diese ganze Angelegenheit doch nicht ernster zu nehmen, als sie ist. Eine hilflose Kinderei, nicht mehr! Und außerdem bitte ich das Gericht zu bedenken, dass es uns ganz mühelos gelungen ist, die geplante Versammlung zu vereiteln, indem wir den Leuten einfach keine Zeit dazu ließen. Aber selbst wenn uns das nicht gelungen wäre, ich bin sicher, die Kinder hätten den Leuten nichts als irgendeine kindliche Räubergeschichte mitzuteilen gewusst. Nach meiner Ansicht hätten wir die Versammlung sogar stattfinden lassen sollen, um dadurch…«
»Angeklagter!«, unterbrach ihn der Herr in der Mitte scharf.»Ist Ihnen bewusst, wo Sie sich befinden?«
Der Agent knickte ein wenig zusammen.»Jawohl«, hauchte er.
»Sie befinden sich«, fuhr der Richter fort,»nicht vor einem Menschengericht, sondern vor Ihresgleichen. Sie wissen genau, dass Sie uns nicht anlügen können. Warum versuchen Sie es trotzdem?«
»Es ist - Berufsgewohnheit«, stammelte der Angeklagte.
»Wie ernst oder nicht das Unternehmen der Kinder zu nehmen ist«, sagte der Richter,»das überlassen Sie gefälligst dem Urteil des Vorstandes. Aber auch Sie selbst, Angeklagter, wissen sehr gut, dass nichts und niemand unserer Arbeit so gefährlich ist wie gerade die Kinder.«
»Ich weiß es«, gab der Angeklagte kleinlaut zu.
»Kinder«, erklärte der Richter,»sind unsere natürlichen Feinde. Wenn es sie nicht gäbe, so wäre die Menschheit längst ganz in unserer Gewalt. Kinder lassen sich sehr viel schwerer zum Zeit-Sparen bringen als alle anderen Menschen. Daher lautet eines unserer strengsten Gesetze: Kinder kommen erst zuletzt an die Reihe. Ist Ihnen dies Gesetz bekannt gewesen, Angeklagter?«
»Sehr wohl, Hohes Gericht«, keuchte der.
»Dennoch haben wir untrügliche Beweise dafür«, versetzte der Richter»dass einer von uns, ich wiederhole, einer von uns mit einem Kind gesprochen und ihm obendrein noch die Wahrheit über uns verraten haben muss. Angeklagter, wissen Sie vielleicht, wer dieser eine von uns war?«
»Ich war es«, antwortete der Agent BLW/553/c zerschmettert.»Und warum haben Sie somit gegen unser strengstes Gesetz verstoßen?«, forschte der Richter.
»Weil dieses Kind«, verteidigte sich der Angeklagte,»in seiner Wirkung auf andere Menschen unserer Arbeit ungemein im Wege ist. Ich habe in der besten Absicht für die Zeit-Spar-Kasse gehandelt.«
»Ihre Absichten interessieren uns nicht«, gab der Richter eisig zurück.»Uns interessiert ausschließlich das Ergebnis. Und das Ergebnis in Ihrem Fall, Angeklagter, war nicht nur keinerlei Zeitgewinn für uns, sondern obendrein haben Sie diesem Kind auch noch einige unserer wichtigsten Geheimnisse verraten. Gestehen Sie das ein, Angeklagter?«
»Ich gestehe es ein«, hauchte der Agent mit gesenktem Kopf.
»Sie bekennen sich also schuldig?«
»Jawohl, aber ich bitte das Hohe Gericht, doch auch den mildernden Umstand anzuerkennen, dass ich regelrecht verhext worden bin. Durch die Art, wie dieses Kind mir zuhörte, lockte es alles aus mir heraus. Ich kann es mir selbst nicht erklären, wie es dazu gekommen ist, aber ich schwöre, es war so.«
»Ihre Entschuldigungen interessieren uns nicht. Mildernde Umstände lassen wir nicht gelten. Unser Gesetz ist unverbrüchlich und duldet keinerlei Ausnahme. Immerhin werden wir uns dieses merkwürdigen Kindes ein wenig annehmen. Wie heißt es?«
»Momo.«
»Knabe oder Mädchen?«
»Ein kleines Mädchen.«
»Wohnhaft?«
»In der Ruine des Amphitheaters.«
»Gut«, versetzte der Richter, der alles in sein kleines Notizbüchlein geschrieben hatte,»Sie können versichert sein, Angeklagter, dass dieses Kind uns nicht noch einmal schaden wird. Dafür werden wir mit allen Mitteln sorgen. Mag Ihnen das zum Trost gereichen, wenn wir nun unverzüglich zur Vollstreckung des Urteils schreiten.«
Der Angeklagte begann zu zittern.
»Und wie lautet das Urteil?«, flüsterte er.
Die drei Herren hinter dem Richtertisch beugten sich zueinander, flüsterten sich etwas zu und nickten.
Dann wandte sich der in der Mitte wieder dem Angeklagten zu und verkündete:»Das Urteil über Agent BLW/553/c lautet einstimmig: Der Angeklagte wird des Hochverrats für schuldig befunden. Er hat seine Schuld selbst eingestanden. Unser Gesetz schreibt vor, dass ihm zur Strafe unverzüglich jegliche Zeit entzogen wird.«
»Gnade! Gnade!«, schrie der Angeklagte auf. Aber schon hatten ihm zwei andere graue Herren, die neben ihm standen, die bleigraue Aktentasche und die kleine Zigarre entrissen.
Und nun geschah etwas Sonderbares. Im selben Augenblick, wo der Verurteilte die Zigarre nicht mehr hatte, begann er rasch immer durchsichtiger und durchsichtiger zu werden. Auch sein Geschrei wurde dünner und leiser.
So stand er da, hielt sich die Hände vors Gesicht und löste sich buchstäblich in Nichts auf. Ganz zuletzt war es, als ob der Wind noch ein paar Aschenflöckchen im Kreis herumwirbelte, dann waren auch diese verschwunden.
Schweigend entfernten sich alle grauen Herren, die zugesehen und die zu Gericht gesessen hatten. Die Dunkelheit verschlang sie und nur noch der graue Wind wehte über die öde Halde.
Beppo Straßenkehrer saß noch immer reglos auf seinem Platz und starrte auf die Stelle, wo der Angeklagte verschwunden war. Ihm war, als sei er zu Eis gefroren und taue nun langsam wieder auf. Jetzt wusste er aus eigener Anschauung, dass es die grauen Herren gab.
Etwa zur gleichen Stunde - die Turmuhr in der Ferne hatte Mitternacht geschlagen - saß die kleine Momo noch immer auf den Steinstufen der Ruine. Sie wartete. Sie hätte nicht sagen können, worauf. Aber irgendwie war ihr, als ob sie noch warten solle. Und so hatte sie sich bis jetzt noch nicht entschließen können, schlafen zu gehen. Plötzlich fühlte sie, wie etwas sie leise an ihrem nackten Fuß berührte. Sie beugte sich hinunter, denn es war ja sehr dunkel, und erkannte eine große Schildkröte, die ihr mit erhobenem Kopf und seltsam lächelndem Mund mitten ins Gesicht blickte. Ihre schwarzen klugen Augen glänzten so freundlich, als ob sie gleich zu sprechen anfangen wollte. Momo beugte sich vollends zu ihr hinunter und krabbelte sie mit dem Finger unter dem Kinn.
»Ja, wer bist du denn?«, fragte sie leise.»Nett von dir, dass wenigstens du mich besuchen kommst, Schildkröte. Was willst du denn von mir?«
Momo wusste nicht, ob sie es zuerst nur nicht wahrgenommen hatte oder ob es tatsächlich in diesem Augenblick erst sichtbar wurde, jedenfalls bildeten sich nun plötzlich auf dem Rückenpanzer der Schildkröte schwach leuchtende Buchstaben, die sich aus den Mustern der Hornplatten zu formen schienen.
»komm mit!«, entzifferte Momo langsam.
Erstaunt setzte sie sich auf.»Meinst du mich?«
Aber die Schildkröte hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Nach einigen Schritten hielt sie inne und schaute sich nach dem Kind um.
»Sie meint wirklich mich!«, sagte Momo zu sich selbst. Dann stand sie auf und ging hinter dem Tier her.
»Geh nur!«, sagte sie leise.»Ich folge dir.«
Und Schrittchen für Schrittchen ging sie hinter der Schildkröte her, die sie langsam, sehr langsam aus dem steinernen Rund herausführte und dann die Richtung auf die große Stadt einschlug.
Der alte Beppo radelte auf seinem quietschenden Fahrrad durch die Nacht. Er eilte sich, so sehr er konnte. Immer wieder klangen ihm die Worte des grauen Richters im Ohr:»… Wir werden uns dieses merkwürdigen Kindes annehmen… Sie können versichert sein, Angeklagter, dass es uns nicht noch einmal schaden wird… dafür werden wir mit allen Mitteln sorgen…«
Kein Zweifel, Momo war in größter Gefahr! Er musste sofort zu ihr, musste sie vor den Grauen warnen, musste sie vor ihnen beschützen - obwohl er nicht wusste wie. Aber das würde er schon herausfinden. Beppo trat in die Pedale. Sein weißer Haarschopf flatterte. Der Weg bis zum Amphitheater war noch weit.
Die ganze Ruine war grell erleuchtet von den Scheinwerfern vieler eleganter grauer Autos, die sie von allen Seiten umstellt hatten. Dutzende von grauen Herren eilten die grasbewachsenen Stufen hinauf und hinunter und durchsuchten jeden Schlupfwinkel. Schließlich entdeckten sie auch das Loch in der Mauer, hinter dem Momos Zimmer lag. Einige von ihnen kletterten hinein und guckten unter das Bett und sogar in den gemauerten Ofen.
Dann kamen sie wieder heraus, klopften sich die feinen grauen Anzüge ab und zuckten die Schultern.
»Der Vogel ist ausgeflogen«, sagte einer.
»Es ist empörend«, meinte ein anderer,»dass Kinder in der Nacht herumstrolchen, anstatt ordentlich in ihren Betten zu liegen.«
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, erklärte ein dritter.»Das sieht fast so aus, als hätte sie jemand rechtzeitig gewarnt.«
»Undenkbar!«, sagte der erste.»Der Betreffende hätte ja schon früher als wir von unserem Beschluss wissen müssen!«
Die grauen Herren blickten einander alarmiert an.»Falls sie tatsächlich von dem Betreffenden gewarnt worden ist«, gab der dritte zu bedenken,»dann ist sie sicherlich nicht mehr hier in der Gegend. Wir würden gerade durch weiteres Suchen hier nur unnütz Zeit verlieren.«
»Haben Sie einen besseren Vorschlag?«
»Nach meiner Ansicht müssten wir sofort die Zentrale benachrichtigen, damit diese den Befehl zum Großeinsatz gibt.«
»Die Zentrale wird uns als Erstes fragen, ob wir die Umgebung auch tatsächlich gründlich abgesucht haben und das mit Recht.«
»Also gut«, sagte der erste graue Herr,»durchsuchen wir zunächst die Umgebung. Aber wenn das Mädchen inzwischen von dem Betreffenden Hilfe bekommen hat, dann machen wir damit einen großen Fehler.«
»Lächerlich!«, fuhr ihn der andere böse an.»In diesem Fall kann die Zentrale immer noch Großeinsatz anordnen. Dann werden sich sämtliche verfügbaren Agenten an der Jagd beteiligen. Das Kind hat nicht die geringste Chance uns zu entkommen. Und nun - an die Arbeit, meine Herren! Sie wissen, was auf dem Spiel steht.«
In dieser Nacht wunderten sich viele Leute in der Gegend, warum der Lärm der vorbeirasenden Autos überhaupt nicht mehr verstummen wollte. Selbst die kleinsten Seitenstraßen und holperigsten Kieswege waren bis zum Morgengrauen von einem Getöse erfüllt wie sonst nur die großen Hauptverkehrsstraßen.
Man konnte kein Auge zutun. - Zur nämlichen Stunde wanderte die kleine Momo, von der Schildkröte geführt, langsam durch die große Stadt, die jetzt niemals mehr schlief, selbst zu dieser späten Nachtzeit nicht.
Rastlos jagten und hasteten die Menschen in riesigen Massen durcheinander, schoben sich gegenseitig ungeduldig beiseite, rempelten sich an oder trotteten hintereinander her in endlosen Kolonnen. Auf den Fahrbahnen drängten sich die Autos, dazwischen dröhnten riesige Omnibusse, die ständig überfüllt waren. An den Häuserfassaden flammten die Leuchtreklamen auf, übergössen das Gewühl mit ihrem bunten Licht und erloschen wieder.
Momo, die alles das noch nie gesehen hatte, ging wie im Traum und mit großen Augen immer hinter der Schildkröte her. Sie überquerten weite Plätze und hell erleuchtete Straßen, die Autos rasten hinter ihnen und vor ihnen vorüber, Passanten umdrängten sie, aber niemand beachtete das Kind mit der Schildkröte.
Die beiden mussten auch niemals jemand ausweichen, wurden niemals angestoßen, kein Auto musste ihretwegen bremsen. Es war, als wisse die Schildkröte mit völliger Sicherheit vorher, wo in welchem Augenblick gerade kein Auto fahren, kein Fußgänger gehen würde. So mussten sie sich niemals eilen und niemals anhalten, um zu warten. Und Momo begann sich zu wundern, wie man so langsam gehen und doch so schnell vorankommen konnte.
Als Beppo Straßenkehrer endlich beim alten Amphitheater ankam, entdeckte er, noch ehe er abgestiegen war, im schwachen Schein seiner Fahrradlampe die vielen Reifenspuren rund um die Ruine. Er ließ sein Rad ins Gras fallen und lief zu dem Loch in der Mauer.»Momo!«, raunte er zuerst und dann noch einmal lauter:»Momo!«Keine Antwort.
Beppo schluckte, seine Kehle war trocken. Er kletterte durch das Loch in den stockdunklen Raum hinunter, stolperte und verstauchte sich den Fuß. Mit zitternden Fingern entzündete er ein Streichholz und schaute sich um.
Das Tischchen und die beiden Stühle aus Kistenholz waren umgestoßen, die Decken und die Matratze waren aus dem Bett gerissen. Und Momo war nicht da.
Beppo biss sich auf die Lippen und unterdrückte ein heiseres Aufschluchzen, das ihm für einen Augenblick die Brust zerreißen wollte.
»Mein Gott«, murmelte er,»o mein Gott, sie haben sie schon weggeholt. Mein kleines Mädchen haben sie schon weggeholt. Ich bin zu spät gekommen. Was soll ich denn jetzt machen? Was mach ich denn jetzt nur?«Dann verbrannte ihm das Streichholz die Finger, er warf es weg und stand im Finstern.
So rasch er konnte, kletterte er wieder ins Freie und humpelte auf seinem verstauchten Fuß zu seinem Fahrrad. Er schwang sich hinauf und strampelte los.
»Gigi muss ran!«, sagte er immer wieder vor sich hin.»Jetzt muss Gigi ran! Hoffentlich find ich den Schuppen, wo er schläft.«
Beppo wusste, dass Gigi sich seit kurzem ein paar zusätzliche Pfennige verdiente, indem er jeden Sonntag nachts im Werkzeugschuppen einer kleinen Autoausschlachterei schlief. Dort sollte er aufpassen, dass nicht wieder, wie früher schon öfter, noch brauchbare Autoteile abhanden kamen.
Als Beppo den Schuppen endlich erreicht hatte und mit der Faust gegen die Tür hämmerte, hielt Gigi sich zunächst mucksmäuschenstill, für den Fall, dass es sich um die Autoteil-Diebe handeln sollte. Aber dann erkannte er Beppos Stimme und machte auf.
»Was ist denn los?«, jammerte er erschrocken.»Ich kann es nicht leiden, wenn man mich so brutal aus dem Schlaf reißt.«
»Momo!…«, stieß Beppo hervor, der nach Atem rang,»Momo ist irgendwas Schreckliches passiert!«
»Was sagst du?«, fragte Gigi und setzte sich fassungslos auf seine Liegestatt.»Momo? Was ist denn geschehen?«
»Ich weiß es selbst noch nicht«, keuchte Beppo,»was Schlimmes.«
Und nun erzählte er alles, was er erlebt hatte: vom Hochgericht auf der Müllhalde, von den Reifenspuren um die Ruine und dass Momo nicht mehr da war. Es dauerte natürlich eine Weile, bis er alles vorgebracht hatte, denn trotz aller Angst und Sorge um Momo konnte er nun einmal nicht schneller reden.
»Ich hab's von Anfang an geahnt«, schloss er seinen Bericht.»Ich hab gewusst, dass es nicht gut gehen würde. Jetzt haben sie sich gerächt. Sie haben Momo entführt! O Gott, Gigi, wir müssen ihr helfen! Aber wie? Aber wie?«
Während Beppos Worten war langsam alle Farbe aus Gigis Gesicht gewichen. Ihm war, als sei ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Bis zu diesem Augenblick war alles für ihn ein großes Spiel gewesen. Er hatte es so ernst genommen, wie er jedes Spiel und jede Geschichte nahm - ohne dabei je an Folgen zu denken. Zum ersten Mal in seinem Leben ging eine Geschichte ohne ihn weiter, machte sich selbständig und alle Phantasie der Welt konnte sie nicht rückgängig machen! Er fühlte sich wie gelähmt.
»Weißt du, Beppo«, begann er nach einer Weile,»es könnte ja auch sein, dass Momo einfach ein bisschen spazieren gegangen ist. Das tut sie doch manchmal. Einmal ist sie sogar schon drei Tage und Nächte im Land herumgestrolcht. Ich meine, bis jetzt haben wir vielleicht noch gar keinen Grund, uns solche Sorgen zu machen.«
»Und die Reifenspuren?«, fragte Beppo aufgebracht.»Und die herausgerissene Matratze?«
»Na ja«, gab Gigi ausweichend zur Antwort,»nehmen wir mal an, es wäre wirklich irgendwer da gewesen. Wer sagt dir denn, dass er Momo gefunden hat? Vielleicht war sie schon vorher weg. Sonst wäre doch nicht alles durchgesucht und umgewühlt.«
»Wenn sie sie aber doch gefunden haben«, schrie Beppo,»was dann?«
Er packte den jüngeren Freund an den Jackenaufschlägen und schüttelte ihn.»Gigi, sei kein Narr! Die grauen Herren sind Wirklichkeit! Wir müssen irgendwas tun und zwar sofort!«
»Beruhige dich doch, Beppo«, stotterte Gigi erschrocken.»Natürlich werden wir etwas unternehmen. Aber das muss gut überlegt sein. Wir wissen ja noch nicht mal, wo wir Momo überhaupt suchen sollen.«
Beppo ließ Gigi los.»Ich geh zur Polizei!«, stieß er hervor.
»Sei doch vernünftig!«, rief Gigi entsetzt.»Das kannst du doch nicht machen! Nimm mal an, die gehen los und finden unsere Momo wirklich. Weißt du, was die dann mit ihr machen? Weißt du das, Beppo? Weißt du, wo streunende elternlose Kinder hinkommen? In so ein Heim stecken sie sie, wo Gitter an den Fenstern sind! Das willst du unserer Momo antun?«
»Nein«, murmelte Beppo und starrte ratlos vor sich hin,»das will ich nicht. Aber wenn sie doch vielleicht in Not ist?«
»Aber stell dir vor, wenn sie's nicht ist«, fuhr Gigi fort,»wenn sie vielleicht wirklich nur ein bisschen herumstrolcht und du hetzt ihr die Polizei auf den Hals. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn sie dich dann zum letzten Mal anschaut.«
Beppo sank auf einen Stuhl am Tisch nieder und legte das Gesicht auf die Arme.
»Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, stöhnte er,»ich weiß es einfach nicht.«
»Ich finde«, meinte Gigi,»wir sollten auf jeden Fall bis morgen oder übermorgen warten, ehe wir was unternehmen. Wenn sie dann immer noch nicht zurück ist, können wir ja zur Polizei gehen. Aber wahrscheinlich ist bis dahin alles längst wieder in Ordnung und wir lachen alle drei über den ganzen Unsinn.«
»Meinst du?«, murmelte Beppo, den auf einmal eine steinerne Müdigkeit übermannte. Für den alten Mann war es heute ein bisschen viel gewesen.
»Aber sicher«, antwortete Gigi und zog Beppo den Schuh von dem verstauchten Fuß. Er half ihm auf das Lager hinüber und packte den Fuß in ein nasses Tuch.
»Wird schon wieder werden«, sagte er sanft,»wird alles wieder werden.«
Als er sah, dass Beppo schon eingeschlafen war, seufzte er und legte sich selbst auf den Fußboden, seine Jacke als Kissen unter den Kopf geschoben. Aber schlafen konnte er nicht. Die ganze Nacht musste er an die grauen Herren denken. Und zum ersten Mal in seinem bisher so unbekümmerten Leben überfiel ihn Angst.
Aus der Zentrale der Zeit-Spar-Kasse war der Befehl zum Großeinsatz gegeben worden. Sämtliche Agenten in der großen Stadt hatten Anweisung erhalten, jede andere Tätigkeit zu unterbrechen und sich ausschließlich mit der Suche nach dem Mädchen Momo zu beschäftigen. In allen Straßen wimmelte es von den grauen Gestalten; sie saßen auf den Dächern und in den Kanalisationsschächten, sie kontrollierten unauffällig die Bahnhöfe und den Flugplatz, die Autobusse und die Straßenbahnen - kurzum, sie waren überall. Aber das Mädchen Momo fanden sie nicht.
»Du, Schildkröte«, fragte Momo,»wo führst du mich eigentlich hin?«Die beiden wanderten eben durch einen dunklen Hinterhof.
»keine angst!«, stand auf dem Rücken der Schildkröte.»Hab ich auch nicht«, sagte Momo, nachdem sie es entziffert hatte. Aber sie sagte es mehr zu sich selbst um sich Mut zu machen, denn ein wenig bang war ihr schon.
Der Weg, den die Schildkröte sie führte, wurde immer sonderbarer und verschlungener. Sie waren schon durch Gärten gelaufen, über Brücken, durch Unterführungen, Toreinfahrten und Hausflure, ja, einige Male sogar schon durch Keller. Hätte Momo gewusst, dass ein ganzes Heer von grauen Herren sie verfolgte und suchte, sie hätte vermutlich noch viel mehr Angst gehabt. Aber davon ahnte sie nichts und deshalb folgte sie geduldig und Schritt für Schritt der Schildkröte auf ihrem scheinbar so verworrenen Weg. Und das war gut. So wie die Schildkröte vorher ihren Weg durch den Straßenverkehr gefunden hatte, schien sie nun auch genau vorauszuwissen, wann und wo die Verfolger auftauchen würden. Manchmal kamen die grauen Herren schon einen Augenblick später an einer Stelle vorüber, an der die beiden eben gewesen waren. Aber sie begegneten ihnen niemals.
»Ein Glück, dass ich schon so gut lesen kann«, sagte Momo ahnungslos,»findest du nicht?«
Auf dem Rückenparizer der Schildkröte blinkte wie ein Warnlicht die Schrift:»still!«
Momo verstand nicht warum, aber sie befolgte die Anweisung. In geringer Entfernung gingen drei dunkle Gestalten vorüber.
Die Häuser des Stadtteils, in dem sie jetzt waren, wurden immer grauer und schäbiger. Hohe Mietskasernen, an denen der Verputz abbröckelte, säumten die Straßen voller Löcher, in denen das Wasser stand. Hier war alles dunkel und menschenleer.
In die Zentrale der Zeit-Spar-Kasse kam die Nachricht, dass das Mädchen Momo gesehen worden sei.
»Gut«, war die Antwort,»habt ihr sie fest?«
»Nein, sie war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben ihre Spur wieder verloren.«
»Wie kann das sein?«
»Das fragen wir uns selbst. Irgendwas stimmt da nicht.«
»Wo befand sie sich, als ihr sie gesehen habt?«
»Das ist es ja gerade. Es handelt sich um eine Gegend der Stadt, die uns völlig unbekannt ist.«
»Eine solche Gegend gibt es nicht«, stellte die Zentrale fest.
»Offenbar doch. Es ist - wie soll man sagen? - als ob diese Gegend ganz am Rande der Zeit liegt. Und das Kind bewegte sich auf diesen Rand zu.«
»Was?«, schrie die Zentrale.»Verfolgung aufnehmen! Ihr müsst sie fassen, um jeden Preis! Habt ihr verstanden?«
»Verstanden!«, kam die aschengraue Antwort.
Zuerst dachte Momo, es sei die Morgendämmerung; aber dieses seltsame Licht war so plötzlich gekommen, genau genommen in dem Augenblick, als sie in diese Straße eingebogen waren. Hier war es nicht mehr Nacht, aber es war auch nicht Tag. Und diese Dämmerung glich weder der des Morgens noch der des Abends. Es war ein Licht, das die Konturen aller Dinge unnatürlich scharf und klar hervorhob und doch von nirgendwo herzukommen schien - oder vielmehr von überallher zugleich. Denn die langen schwarzen Schatten, die sogar die kleinsten Steinchen auf der Straße warfen, liefen in ganz verschiedene Richtungen, als würde jener Baum dort von links, dieses Haus von rechts und das Denkmal da drüben von vorn beleuchtet.
Übrigens sah das Denkmal selbst auch recht sonderbar aus. Auf einem großen würfelförmigen Sockel aus schwarzem Stein stand ein riesengroßes weißes Ei. Das war alles. Aber auch die Häuser waren anders als alle, die Momo je gesehen hatte. Sie waren von einem fast blendenden Weiß. Hinter den Fenstern lagen schwarze Schatten, sodass man nicht sehen konnte, ob dort überhaupt jemand wohnte. Aber irgendwie hatte Momo das Gefühl, dass diese Häuser gar nicht gebaut waren, um bewohnt zu werden, sondern um einem anderen, geheimnisvollen Zweck zu dienen.
Diese Straßen waren vollkommen leer, nicht nur von Menschen, sondern auch von Hunden, Vögeln und Autos. Alles schien reglos und wie in Glas eingeschlossen. Nicht der kleinste Windhauch regte sich. Momo wunderte sich, wie schnell sie hier vorankamen, obgleich die Schildkröte eher noch langsamer ging als bisher.
Außerhalb dieses seltsamen Stadtteils, dort wo Nacht war, jagten drei elegante Autos mit leuchtenden Scheinwerfern die zerlöcherte Straße entlang. In jedem saßen mehrere graue Herren. Einer, der im vordersten Wagen saß, hatte Momo entdeckt, als sie in die Straße mit den weißen Häusern eingebogen war, wo das seltsame Licht anfing.
Als sie jedoch diese Ecke erreicht hatten, geschah etwas höchst Unbegreifliches. Die Autos kamen plötzlich nicht mehr vom Fleck. Die Fahrer traten aufs Gas, die Räder jaulten, aber die Autos liefen am Ort, etwa so, als ob sie auf einem fahrenden Band stünden, das mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung lief. Und je mehr sie beschleunigten, desto weniger kamen sie vorwärts. Als die grauen Herren das merkten, sprangen sie fluchend aus den Wagen und versuchten Momo, die sie weit in der Ferne gerade noch erkennen konnten, zu Fuß einzuholen. Sie rannten mit verzerrten Gesichtern und als sie endlich erschöpft innehalten mussten, waren sie im Ganzen gerade zehn Meter weit vorangekommen. Und das Mädchen Momo war irgendwo in der Ferne zwischen den schneeweißen Häusern verschwunden.
»Aus«, sagte einer der Herren,»aus und vorbei! Jetzt kriegen wir sie nicht mehr.«
»Ich begreife nicht«, meinte ein anderer,»warum wir nicht mehr vom Fleck gekommen sind.«
»Ich auch nicht«, antwortete der erste,»die Frage ist nur, ob man uns das als mildernde Umstände für unser Versagen zugute halten wird.«
»Sie meinen, man wird uns vor Gericht stellen?«
»Na, belobigen wird man uns ganz bestimmt nicht.«
Alle beteiligten Herren ließen die Köpfe hängen und setzten sich auf Kühler und Stoßstangen ihrer Autos. Sie hatten es nicht mehr eilig.
Schon weit, weit fort, irgendwo im Gewirr der leeren, schneeweißen Straßen und Plätze, ging Momo hinter der Schildkröte her. Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte die Straße unter ihnen dahin, als flögen die Gebäude vorüber. Wiederum bog die Schildkröte um eine Ecke, Momo folgte ihr - und blieb überrascht stehen. Diese Straße bot einen völlig anderen Anblick als alle vorigen.
Es war eigentlich mehr ein enges Gässchen. Die Häuser, die sich links und rechts aneinander drängten, sahen aus wie lauter zierliche Paläste aus Glas, voller Türmchen, Erkerchen und Terrassen, die undenkliche Zeiten auf dem Meeresgrund gestanden hatten und nun plötzlich aufgestiegen waren, von Tang und Algen überhangen und mit Muscheln und Korallen bewachsen. Und das Ganze spielte sanft in allen Farben wie Perlmutter.
Dieses Gässchen lief auf ein einzelnes Haus zu, das seinen Abschluss bildete und quer zu den übrigen stand. In seiner Mitte befand sich ein großes grünes Tor, das kunstvoll mit Figuren bedeckt war.
Momo blickte zu dem Straßenschild hinauf, das sich gleich über ihr an der Wand befand. Es war aus weißem Marmor und auf ihm stand in goldenen Lettern:
Momo hatte mit Schauen und Buchstabieren nur ein paar Augenblicke gesäumt, dennoch war die Schildkröte nun schon weit voraus, fast am Ende der Gasse vor dem letzten Haus.
»Warte doch auf mich, Schildkröte!«, rief Momo, aber sonderbarerweise konnte sie ihre eigene Stimme nicht hören.
Dagegen schien die Schildkröte sie gehört zu haben, denn sie blieb stehen und schaute sich um. Momo wollte ihr folgen, aber als sie nun in die Niemals-Gasse hineinging, war es ihr plötzlich, als ob sie unter Wasser gegen einen mächtigen Strom angehen müsse, oder gegen einen gewaltigen und doch unspürbaren Wind, der sie einfach zurückblies. Sie stemmte sich schräg gegen den rätselhaften Druck, zog sich an Mauervorsprüngen weiter und kroch manchmal auf allen Vieren.»Ich komm nicht dagegen an!«, rief sie schließlich der Schildkröte zu, die sie klein am anderen Ende der Gasse sitzen sah.»Hilf mir doch!«
Langsam kam die Schildkröte zurück. Als sie schließlich vor Momo saß, erschien auf ihrem Panzer der Rat:»rückwärts gehen!«Momo versuchte es. Sie drehte sich um und ging rückwärts. Und plötzlich gelang es ihr, ohne jede Schwierigkeit weiterzukommen. Aber es war höchst merkwürdig, was dabei mit ihr geschah. Während sie nämlich so rückwärts ging, dachte sie zugleich auch rückwärts, sie atmete rückwärts, sie empfand rückwärts, kurz - sie lebte rückwärts! Schließlich stieß sie gegen etwas Festes. Sie drehte sich um und stand vor dem letzten Haus, das die Straße quer abschloss. Sie erschrak ein wenig, weil die figurenbedeckte Tür aus grünem Metall von hier aus nun plötzlich ganz riesenhaft erschien.
»Ob ich sie überhaupt aufkriege?«, dachte Momo zweifelnd. Aber im selben Augenblick öffneten sich schon die beiden mächtigen Torflügel. Momo blieb noch einen Moment lang stehen, denn sie hatte über der Tür ein weiteres Schild entdeckt. Es wurde von einem weißen Einhorn getragen und auf ihm war zu lesen:
Da Momo nicht besonders schnell lesen konnte, waren die beiden Torflügel schon wieder dabei, sich langsam zu schließen, als sie fertig war.
Sie huschte rasch noch hindurch, dann schlug das gewaltige Tor mit leisem Donner hinter ihr zu.
Sie befand sich jetzt in einem hohen, sehr langen Gang. Links und rechts standen in regelmäßigen Abständen nackte Männer und Frauen aus Stein, welche die Decke zu tragen schienen. Von der geheimnisvollen Gegenströmung war hier nichts mehr zu bemerken. Momo folgte der Schildkröte, die vor ihr her krabbelte, durch den langen Gang. An dessen Ende blieb das Tier vor einem sehr kleinen Türchen sitzen, gerade groß genug, dass Momo gebückt durchkommen konnte.
»wir sind da«, stand auf dem Rückenpanzer der Schildkröte. Momo hockte sich nieder und sah direkt vor ihrer Nase auf der kleinen Tür ein Schildchen mit der Aufschrift:
Momo holte tief Atem und drückte dann entschlossen auf die kleine Klinke. Als das Türchen sich öffnete, wurde ein vielstimmiges musikalisches Ticken und Schnarren und Klingen und Schnurren von drinnen hörbar. Das Kind folgte der Schildkröte und die kleine Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Im aschengrauen Licht endloser Gänge und Nebengänge huschten die Agenten der Zeit-Spar-Kasse umher und flüsterten sich aufgeregt das Neueste zu: Sämtliche Herren des Vorstandes waren zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengetreten!
Das konnte nur bedeuten, dass größte Gefahr vorhanden war, so folgerten die einen.
Das konnte nur heißen, dass ungeahnte neue Möglichkeiten des Zeitgewinns sich ergeben hatten, schlossen die anderen daraus. Im großen Sitzungssaal tagten die grauen Herren des Vorstandes. Sie saßen einer neben dem anderen an einem schier endlosen Konferenztisch. Jeder hatte wie immer seine bleigraue Aktentasche bei sich und jeder rauchte seine kleine graue Zigarre. Nur die runden steifen Hüte hatten sie abgelegt und nun war zu sehen, dass sie alle spiegelnde Glatzen hatten.
Die Stimmung - soweit man bei diesen Herren überhaupt von so etwas wie Stimmung reden konnte - war allgemein gedrückt. Der Vorsitzende am Kopfende des langen Tisches erhob sich. Das Gemurmel erstarb und zwei endlose Reihen grauer Gesichter wandten sich ihm zu.
»Meine Herren«, begann er,»unsere Lage ist ernst. Ich sehe mich gezwungen, Sie alle unverzüglich mit den bitteren, aber unabänderlichen Tatsachen bekannt zu machen.
Bei der Jagd nach dem Mädchen Momo haben wir nahezu alle unsere verfügbaren Agenten eingesetzt. Diese Jagd dauerte im Ganzen sechs Stunden, dreizehn Minuten und acht Sekunden. Alle beteiligten Agenten mussten dabei unvermeidlich ihren eigentlichen Daseinszweck, nämlich Zeit einzubringen, vernachlässigen. Zu diesem Ausfall kommt jedoch noch die Zeit, welche während der Suche von unseren Agenten selbst verbraucht worden ist. Aus diesen beiden Minusposten ergibt sich ein Zeitverlust, der nach ganz exakten Berechnungen dreimilliardensiebenhundertachtunddreißigmillionenzweihundertneunundfünfzigtausendeinhundertvierzehn Sekunden beträgt.
Meine Herren, das ist mehr als ein ganzes Menschenleben! Ich brauche wohl nicht erst zu erklären, was das für uns bedeutet.«
Er machte eine Pause und wies mit großer Gebärde auf eine riesige Stahltür mit vielfachen Nummern- und Sicherheitsschlössern an der Stirnseite des Saales in der Wand.
»Unsere Zeit-Speicher, meine Herren«, rief er mit erhobener Stimme,»sind nicht unerschöpflich! Wenn die Jagd sich wenigstens gelohnt hätte! Allein, es handelt sich um völlig nutzlos vertane Zeit! Das Mädchen Momo ist uns entkommen.
Meine Herren, ein zweites Mal darf so etwas einfach nicht mehr geschehen. Ich werde mich jeder weiteren Unternehmung von derartig kostspieligen Ausmaßen auf das Entschiedenste widersetzen. Wir müssen sparen, meine Herren, nicht verschleudern! Ich bitte Sie also, alle weiteren Pläne in diesem Sinne zu fassen. Mehr habe ich nicht zu sagen. Danke.«
Er setzte sich und stieß dicke Rauchwolken aus. Erregtes Flüstern ging durch die Reihen.
Nun erhob sich ein zweiter Redner am anderen Ende der langen Tafel und alle Gesichter wandten sich ihm zu.
»Meine Herren«, sagte er,»uns allen liegt das Wohlergehen unserer Zeit-Spar-Kasse gleichermaßen am Herzen. Es scheint mir jedoch völlig unnötig, dass wir uns von der ganzen Angelegenheit beunruhigen lassen oder gar so etwas wie eine Katastrophe daraus machen. Nichts ist weniger der Fall. Wir alle wissen, dass unsere Zeit-Speicher schon so gewaltige Vorräte beherbergen, dass selbst ein Vielfaches des erlittenen Verlustes uns nicht ernstlich in Gefahr bringen könnte. Was ist für uns schon ein Menschenleben? Wahrhaftig eine Kleinigkeit!
Dennoch stimme ich mit unserem verehrten Vorsitzenden darin überein, dass sich etwas Derartiges nicht wiederholen sollte. Aber ein Vorfall wie der mit dem Mädchen Momo ist völlig einmalig. Etwas Ähnliches ist bisher noch nie geschehen und es ist höchst unwahrscheinlich, dass es je ein zweites Mal geschehen wird.
Schließlich hat der Herr Vorsitzende mit Recht getadelt, dass uns das Mädchen Momo entkommen ist. Aber was wollten wir denn mehr, als dieses Kind unschädlich machen? Nun, das ist doch vollkommen erreicht! Das Mädchen ist verschwunden, aus dem Bereich der Zeit geflohen! Wir sind es los. Ich denke, wir können mit diesem Ergebnis zufrieden sein.«
Der Redner setzte sich selbstgefällig lächelnd. Von einigen Seiten war schwacher Beifall zu hören.
Nun erhob sich ein dritter Redner in der Mitte des langen Tisches.»Ich will mich kurz fassen«, erklärte er mit verkniffenem Gesicht.»Ich halte die beruhigenden Worte, die wir eben gehört haben, für unverantwortlich. Dieses Kind ist kein gewöhnliches Kind. Wir alle wissen, dass es über Fähigkeiten verfügt, die uns und unserer Sache höchst gefährlich werden können. Dass der ganze Vorfall bisher einmalig ist, beweist keineswegs, dass es sich nicht wiederholen kann. Wachsamkeit ist geboten! Wir dürfen uns nicht eher zufrieden geben, als bis wir dieses Kind wirklich in unserer Gewalt haben. Nur so können wir sicher sein, dass es uns nie wieder schaden wird. Denn da es den Bereich der Zeit verlassen konnte, kann es auch jeden Augenblick zurückkehren. Und es wird zurückkehren!«
Er setzte sich. Die anderen Herren des Vorstandes zogen die Köpfe ein und saßen geduckt da.
»Meine Herren«, ergriff nun ein vierter Redner, der dem dritten gegenübersaß, das Wort,»entschuldigen Sie, aber ich muss es nun doch in aller Deutlichkeit aussprechen: Wir gehen fortwährend um den heißen Brei herum. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass eine fremde Macht sich in diese Angelegenheit eingemischt hat. Ich habe alle Möglichkeiten exakt durchgerechnet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Menschenkind lebend und aus eigener Kraft den Bereich der Zeit verlassen kann, beträgt genau 1: 42 Millionen. Mit anderen Worten, es ist praktisch ausgeschlossen.«
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen der Vorstandsmitglieder.
»Alles spricht dafür«, fuhr der Redner fort, nachdem sich das Gemurmel gelegt hatte,»dass dem Mädchen Momo geholfen worden ist, sich unserem Zugriff zu entziehen. Sie alle wissen, von wem ich rede. Es handelt sich um jenen sogenannten Meister Hora.«
Bei diesem Namen zuckten die meisten der grauen Herren zusammen, als seien sie geschlagen worden, andere sprangen auf und begannen heftig gestikulierend durcheinander zu schreien.
»Bitte, meine Herren«, rief der vierte Redner mit ausgebreiteten Armen,»ich bitte Sie dringend, sich zu beherrschen. Ich weiß so gut wie Sie alle, dass die Nennung dieses Namens - nun, sagen wir einmal, nicht ganz schicklich ist. Es kostet mich selbst Überwindung, aber wir wollen und müssen klar sehen! Wenn jener - Sogenannte dem Mädchen Momo geholfen hat, dann hat er seine Gründe dafür. Und diese Gründe, das liegt wohl auf der Hand, sind gegen uns gerichtet. Kurzum, meine Herren, wir müssen damit rechnen, dass jener - Sogenannte dieses Kind nicht nur einfach zurückschickt, sondern dass er es obendrein noch gegen uns ausrüsten wird. Dann wird eine tödliche Gefahr für uns werden. Wir müssen also nicht nur bereit sein, die Zeit eines Menschenlebens ein zweites Mal zu opfern oder ein Vielfaches davon - nein, meine Herren, wir müssen, wenn es sein muss, alles, ich wiederhole, alles einsetzen! Denn in diesem Fall könnte uns jegliche Sparsamkeit verdammt teuer zu stehen kommen. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine.«
Die Aufregung unter den grauen Herren nahm zu, alle redeten durcheinander. Ein fünfter Redner sprang auf seinen Stuhl und fuchtelte wild mit den Händen.
»Ruhe, Ruhe!«, schrie er.»Der Herr Vorredner beschränkt sich leider darauf, allerlei katastrophale Möglichkeiten anzudeuten. Aber offenbar weiß er selbst nicht, was wir dagegen tun sollen! Er sagt, wir sollen zu jedem Opfer bereit sein - nun gut! Wir sollen zum Äußersten entschlossen sein - nun gut! Wir sollen nicht sparsam mit unseren Vorräten umgehen - nun gut! Aber das alles sind doch nur leere Worte! Er soll uns doch sagen, was wir wirklich tun können! Keiner von uns weiß, womit jener Sogenannte das Mädchen Momo gegen uns ausrüsten wird! Wir werden einer uns völlig unbekannten Gefahr gegenüberstehen. Das ist doch das Problem, das es zu lösen gilt!«
Der Lärm im Saal steigerte sich zum Tumult. Alles schrie durcheinander, manche hieben mit den Fäusten auf den Tisch ein, andere hatten die Hände vors Gesicht geschlagen, Panikstimmung hatte alle ergriffen.
Mühsam verschaffte sich ein sechster Redner Gehör.
»Aber meine Herren«, sagte er immer wieder beschwichtigend, bis endlich Stille eintrat,»aber meine Herren, ich muss Sie doch bitten, kühle Vernunft zu bewahren. Das ist jetzt das Wichtigste. Nehmen wir ruhig einmal an, das Mädchen Momo kommt - wie auch immer ausgerüstet - von jenem Sogenannten zurück, so brauchen wir uns doch überhaupt nicht persönlich zum Kampf stellen. Wir selbst sind zu einer solchen Begegnung nicht besonders gut geeignet - wie uns ja das betrübliche Geschick unseres inzwischen aufgelösten Agenten BLW/553/c so eindringlich vor Augen führt. Aber das ist ja auch gar nicht nötig. Wir haben doch genügend Helfershelfer unter den Menschen! Wenn wir diese in unauffälliger und geschickter Weise einsetzen, meine Herren, dann können wir das Mädchen Momo und die mit ihm verbundene Gefahr aus der Welt schaffen ohne selbst in Erscheinung zu treten. Ein solches Vorgehen wäre sparsam, es wäre für uns gefahrlos und es wäre zweifellos wirksam.«
Ein Aufatmen ging durch die Menge der Vorstandsmitglieder. Dieser Vorschlag leuchtete ihnen allen ein. Wahrscheinlich wäre er sofort angenommen worden, wenn sich nicht am oberen Ende des Tisches ein siebenter Redner zu Wort gemeldet hätte.
»Meine Herren«, begann er,»wir denken nur immerfort darüber nach, wie wir das Mädchen Momo loswerden können. Gestehen wir es nur, die Furcht treibt uns dazu. Aber Furcht ist ein schlechter Ratgeber, meine Herren. Mir scheint nämlich, wir lassen uns da eine große, ja einmalige Gelegenheit entgehen. Ein Sprichwort sagt: Wen man nicht besiegen kann, den soll man sich zum Freund machen. Nun, warum versuchen wir nicht, das Mädchen Momo auf unsere Seite zu ziehen?«
»Hört, hört!«, riefen einige Stimmen.»Erklären Sie das genauer!«
»Es liegt doch auf der Hand«, fuhr der Redner fort,»dass dieses Kind tatsächlich den Weg zu dem Sogenannten gefunden hat, den Weg, den wir von Anfang an vergeblich gesucht haben! Das Kind könnte also vermutlich jederzeit wieder hinfinden, es könnte uns diesen Weg führen! Dann können wir auf unsere Weise mit dem Sogenannten verhandeln. Ich bin sicher, dass wir sehr schnell mit ihm fertig werden würden. Und wenn wir erst einmal an seiner Stelle sitzen, dann brauchen wir hinfort nicht mehr mühsam Stunden, Minuten und Sekunden zu raffen, nein, wir hätten auf einen Schlag die gesamte Zeit aller Menschen in unserer Gewalt! Und wer die Zeit der Menschen besitzt, der hat unbegrenzte Macht! Meine Herren, bedenken Sie, wir wären am Ziel! Und dazu könnte uns das Mädchen Momo nützen, das Sie alle beseitigen wollen!«
Totenstille hatte sich im Saal ausgebreitet.
»Aber Sie wissen doch«, rief einer,»dass man das Mädchen Momo nicht anlügen kann! Denken Sie doch an den Agenten BLW/553/c! Jeder von uns würde das gleiche Schicksal erleiden!«
»Wer spricht denn von Lügen?«, antwortete der Redner.»Wir werden ihr natürlich unseren Plan offen mitteilen.«
»Aber dann«, schrie ein anderer gestikulierend,»wird sie niemals mitmachen! Das ist ganz undenkbar!«
»Dessen würde ich nicht so sicher sein, mein Bester«, mischte sich nun ein neunter Redner in die Debatte,»wir müssten ihr nur natürlich etwas bieten, das sie verlockt. Ich denke da zum Beispiel daran, ihr selbst so viel Zeit zu versprechen, wie sie nur haben will…«
»Ein Versprechen«, rief der andere dazwischen,»an das wir uns selbstverständlich nicht halten würden!«
»Selbstverständlich doch!«, erwiderte der neunte Redner und lächelte eisig.»Denn wenn wir es nicht ehrlich mit ihr meinen, dann wird sie es heraushören.«
»Nein, nein!«, schrie der Vorsitzende und schlug mit der Hand auf den Tisch.»Das kann ich nicht dulden! Wenn wir ihr tatsächlich so viel Zeit geben, wie sie will - das würde uns ja ein Vermögen kosten!«
»Wohl kaum«, beschwichtigte der Redner.»Wie viel kann ein einzelnes Kind schon ausgeben? Gewiss, es wäre ein ständiger kleiner Verlust, aber bedenken Sie doch, was wir dafür bekommen würden! Die Zeit aller Menschen! Das wenige, das Momo davon verbrauchen könnte, müssten wir eben als Spesen auf das Unkostenkonto buchen. Bedenken Sie die ungeheuren Vorteile, meine Herren!«
Der Redner setzte sich und alle bedachten die Vorteile.»Trotzdem«, sagte der sechste Redner schließlich,»es geht nicht.«
»Wieso?«
»Aus dem einfachen Grund, weil dieses Mädchen leider sowieso schon so viel Zeit hat, wie es nur will. Es ist zwecklos, sie mit etwas bestechen zu wollen, das sie im Überfluss besitzt.«
»Dann müssen wir sie ihr eben zuerst wegnehmen«, erwiderte der neunte Redner.
»Ach, mein Bester«, sagte der Vorsitzende müde,»wir drehen uns im Kreis. Wir können doch nicht an das Kind herankommen. Das ist es ja gerade.«
Ein Seufzer der Enttäuschung ging durch die lange Reihe der Vorstandsmitglieder.
»Ich hätte einen Vorschlag«, meldete sich ein zehnter Redner.»Mit Ihrer Erlaubnis?«
»Sie haben das Wort«, sagte der Vorsitzende.
Der Herr machte eine kleine Verbeugung zum Vorsitzenden und fuhr fort:»Dieses Mädchen ist angewiesen auf seine Freunde. Sie liebt es, ihre Zeit anderen zu schenken. Aber überlegen wir einmal, was aus ihr würde, wenn einfach niemand mehr da wäre, um ihre Zeit mit ihr zu teilen? Da das Mädchen freiwillig unsere Pläne nicht unterstützen wird, sollten wir uns einfach an ihre Freunde halten.«
Er zog aus seiner Aktentasche einen Ordner und schlug ihn auf:»Es handelt sich vor allem um einen gewissen Beppo Straßenkehrer und einen Gigi Fremdenführer. Und dann ist hier noch eine längere Liste von Kindern, die sie regelmäßig aufsuchen. Sie sehen, meine Herren, keine große Sache! Wir werden einfach alle diese Personen so von ihr abziehen, dass sie sie nicht mehr erreichen kann. Dann wird die arme kleine Momo völlig allein sein. Was wird ihr ihre viele Zeit dann noch bedeuten? Eine Last, ja, sogar ein Fluch! Früher oder später wird sie nicht mehr ertragen. Und dann, meine Herren, werden wir zur Stelle sein und unsere Bedingungen stellen. Ich wette tausend Jahre gegen eine Zehntelsekunde, dass sie uns den bewussten Weg führen wird, nur um ihre Freunde zurückzubekommen.«
Die grauen Herren, die eben so niedergeschlagen dreingeblickt hatten hoben ihre Köpfe. Triumphierendes messerdünnes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie klatschten Beifall und das Geräusch hallte wider in den endlosen Gängen und Nebengängen, dass es sich anhörte wie eine Steinlawine.
Momo stand in dem größten Saal, den sie je gesehen hatte. Er war größer als die riesigste Kirche und die geräumigste Bahnhofshalle. Gewaltige Säulen trugen eine Decke, die man hoch droben im Halbdunkel mehr ahnte als sah. Fenster gab es keine. Das goldene Licht, das diesen unermesslichen Raum durchwebte, kam von unzähligen Kerzen, die überall aufgesteckt waren und deren Flammen so reglos brannten, als seien sie mit leuchtenden Farben gemalt und brauchten kein Wachs zu verzehren um zu strahlen.
Das tausendfältige Schnurren und Ticken und Klingen und Schnarren, welches Momo bei ihrem Eintritt vernommen hatte, kam von unzähligen Uhren jeder Gestalt und Größe. Sie standen und lagen auf langen Tischen, in Glasvitrinen, auf goldenen Wandkonsolen und in endlosen Regalen.
Da gab es winzige edelsteinverzierte Taschenührchen, gewöhnliche Blechwecker, Sanduhren, Spieluhren mit tanzenden Püppchen darauf, Sonnenuhren, Uhren aus Holz und Uhren aus Stein, gläserne Uhren und Uhren, die durch einen plätschernden Wasserstrahl getrieben wurden. Und an den Wänden hingen alle Sorten von Kuckucksuhren und anderen Uhren mit Gewichten und schwingenden Perpendikeln, manche, die langsam und gravitätisch gingen und andere, deren winzige Perpendikelchen emsig hin und her zappelten. In Höhe des ersten Stockwerks lief ein Rundgang um den ganzen Saal, zu dem eine Wendeltreppe emporführte. Noch höher droben war ein zweiter Rundgang, darüber noch einer und noch einer. Und überall hingen, lagen und standen Uhren. Da gab es auch Weltzeituhren in Kugelform, welche die Zeit für jeden Punkt der Erde anzeigten, und kleine und große Planetarien mit Sonne, Mond und Sternen. In der Mitte des Sales erhob sich ein ganzer Wald von Standuhren, ein Uhr-Wald sozusagen, angefangen von gewöhnlichen Zimmerstanduhren bis hinauf zu richtigen Turmuhren.
Ununterbrochen schlug oder klingelte irgendwo ein Spielwerk, denn von allen diesen Uhren zeigte jede eine andere Zeit an. Aber es war kein unangenehmer Lärm, der dadurch entstand, sondern es war ein gleichmäßiges, summendes Rauschen wie in einem Sommerwald.
Momo ging umher und betrachtete mit großen Augen all die Seltsamkeiten. Sie stand gerade vor einer reich verzierten Spieluhr, auf der zwei winzige Figuren, ein Frauchen und ein Männchen, einander zum Tanz die Hand reichten. Eben wollte sie ihnen mit dem Finger einen kleinen Stups geben, um zu sehen, ob sie sich dadurch bewegen würden, als sie plötzlich eine freundliche Stimme sagen hörte:»Ah, da bist du ja wieder, Kassiopeia! Hast du mir denn die kleine Momo nicht mitgebracht?«
Das Kind drehte sich um und sah in einer Gasse zwischen den Standuhren einen zierlichen alten Herrn mit silberweißem Haar, der sich niederbückte und die Schildkröte anblickte, die vor ihm auf dem Boden saß. Er trug eine lange goldbestickte Jacke, blauseidene Kniehosen, weiße Strümpfe und Schuhe mit großen Goldschnallen darauf. An den Handgelenken und am Hals kamen Spitzen aus der Jacke hervor und sein silberweißes Haar war am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf geflochten. Momo hatte eine solche Tracht noch nie gesehen, aber jemand, der weniger unwissend gewesen wäre als sie, hätte sofort erkannt, dass es eine Mode war, die man vor zweihundert Jahren getragen hatte.
»Was sagst du?«, fuhr jetzt der alte Herr - noch immer zur Schildkröte gebeugt - fort.»Sie ist schon da? Wo ist sie denn?«
Er zog eine kleine Brille hervor, ähnlich der, die der alte Beppo hatte, nur war diese aus Gold, und blickte sich suchend um.
»Hier bin ich!«, rief Momo.
Der alte Herr kam mit erfreutem Lächeln und ausgestreckten Händen auf sie zu.
Und während er das tat, schien es Momo, als ob er mit jedem Schritt, den er näher kam, immer jünger und jünger wurde. Als er schließlich vor ihr stand, ihre beiden Hände ergriff und herzlich schüttelte, sah er kaum älter aus als Momo selbst.
»Willkommen!«, rief er vergnügt.»Herzlich willkommen im Nirgend-Haus. Gestatte, kleine Momo, dass ich mich dir vorstelle. Ich bin Meister Hora - Secundus Minutius Hora.«
»Hast du mich wirklich erwartet?«, fragte Momo erstaunt.
»Aber gewiss doch! Ich habe dir doch eigens meine Schildkröte Kassiopeia geschickt, um dich abzuholen.«
Er zog eine flache, diamantenbesetzte Taschenuhr aus der Weste und ließ deren Deckel aufspringen.
»Du bist sogar ungewöhnlich pünktlich gekommen«, stellte er lächelnd fest und hielt ihr die Uhr hin.
Momo sah, dass auf dem Zifferblatt weder Zeiger noch Zahlen waren, sondern nur zwei feine, feine Spiralen, die in entgegengesetzter Richtung übereinander lagen und sich langsam drehten. An den Stellen, wo die Linien sich überschnitten, leuchteten manchmal winzige Pünktchen auf.
»Dies«, sagte Meister Hora,»ist eine Sternstunden-Uhr. Sie zeigt zuverlässig die seltenen Sternstunden an und jetzt eben hat eine solche angefangen.«
»Was ist denn eine Sternstunde?«, fragte Momo.
»Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke«, erklärte Meister Hora,»wo es sich ergibt, dass alle Dinge und Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, sodass etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre. Leider verstehen die Menschen sich im Alleemeinen nicht darauf, sie zu nützen und so gehen die Sternstunden oft unbemerkt vorüber. Aber wenn es jemand gibt, der sie erkennt, dann geschehen große Dinge auf der Welt.«
»Vielleicht«, meinte Momo,»braucht man dazu eben so eine Uhr.«
Meister Hora schüttelte lächelnd den Kopf.»Die Uhr allein würde niemand nützen. Man muss sie auch lesen können.«
Er klappte die Uhr wieder zu und steckte sie in die Westentasche. Als er Momos erstaunten Blick sah, mit dem sie seine Erscheinung musterte, schaute er nachdenklich an sich hinunter, runzelte die Stirn und sagte:»Oh, aber ich habe mich, glaube ich, ein wenig verspätet - in der Mode, meine ich. Wie unaufmerksam von mir! Ich werde das sofort korrigieren.«
Er schnippte mit den Fingern und stand im Nu in einem Bratenrock mit hohem Stehkragen vor ihr.
»Ist es so besser?«, fragte er zweifelnd. Aber als er Momos nun erst recht verwundertes Gesicht sah, fuhr er gleich fort:»Aber natürlich nicht! Wo habe ich nur meine Gedanken!«
Und er schnippte abermals und nun trug er plötzlich eine Kleidung, wie weder Momo noch sonst irgendjemand sie je gesehen hat; denn es war die Mode, die erst in hundert Jahren getragen werden wird.
»Auch nicht?«, erkundigte er sich bei Momo.»Nun, beim Orion, das muss doch herauszukriegen sein! Warte, ich versuch's nochmal.«
Er schnippte zum dritten Mal mit den Fingern und nun endlich stand er in einem gewöhnlichen Straßenanzug, wie man ihn heutzutage trägt, vor dem Kind.
»So ist es richtig, nicht wahr?«, sagte er und zwinkerte Momo zu. »Ich hoffe nur, ich habe dich nicht erschreckt, Momo. Es war nur ein kleiner Spaß von mir. Aber nun darf ich dich vielleicht erst einmal zu Tisch bitten, liebes Mädchen. Das Frühstück ist bereit. Du hast einen langen Weg hinter dir und ich hoffe, es wird dir schmecken.«Er nahm sie bei der Hand und führte sie mitten in den Uhr-Wald hinein. Die Schildkröte folgte ihnen und blieb etwas zurück. Der Pfad verlief wie in einem Irrgarten kreuz und quer und mündete schließlich in einem kleinen Raum, der durch die Rückwände einiger riesiger Uhrenkästen gebildet wurde. In einer Ecke stand ein Tischchen mit geschwungenen Beinen und ein zierliches Sofa nebst dazupassenden Polsterstühlen. Auch hier war alles von dem goldenen Licht der reglosen Kerzenflammen erleuchtet.
Auf dem Tischchen stand eine dickbauchige goldene Kanne, zwei kleine Tassen, dazu Teller, Löffelchen und Messer, alles aus blankem Gold. In einem Körbchen lagen goldbraune, knusprige Semmeln, in einem Schüsselchen befand sich goldgelbe Butter und in einem anderen Honig, der schlechthin wie flüssiges Gold aussah. Meister Hora schenkte aus der dickbauchigen Kanne in beide Tassen Schokolade und sagte mit einladender Gebärde:»Bitte, mein kleiner Gast, greif tüchtig zu!«
Das ließ sich Momo nicht zweimal sagen. Dass es Schokolade gab, die man trinken konnte, hatte sie bisher noch nicht einmal gewusst. Auch Semmeln, mit Butter und Honig bestrichen, gehörten zu den größten Seltenheiten in ihrem Leben. Und so köstlich, wie diese hier, hatte ihr überhaupt noch nie etwas geschmeckt.
So war sie zunächst einmal ganz und gar von diesem Frühstück in Anspruch genommen und schmauste mit vollen Backen ohne an irgendetwas anderes zu denken. Merkwürdigerweise wich durch dieses Essen auch alle Müdigkeit von ihr, sie fühlte sich frisch und munter, obgleich sie doch die ganze Nacht keinen Augenblick geschlafen hatte. Je länger sie aß, desto besser schmeckte es ihr. Es war ihr, als könne sie tagelang so weiteressen.
Meister Hora schaute ihr dabei freundlich zu und war taktvoll genug, zunächst nicht durch Gespräche zu stören. Er verstand, dass es der Hunger vieler Jahre war, den sein Gast stillen musste. Und vielleicht war das der Grund, weshalb er beim Zusehen nach und nach wieder älter aussah, bis er wieder ein Mann mit weißen Haaren war. Als er merkte, dass Momo mit dem Messer nicht gut zurande kam, strich er die Brötchen und legte sie ihr auf den Teller. Er selbst aß nur wenig, sozusagen nur zur Gesellschaft.
Aber schließlich war Momo doch satt. Während sie ihre Schokolade austrank, blickte sie über den Rand ihrer goldenen Tasse hinweg prüfend ihren Gastgeber an und begann zu überlegen, wer und was er wohl sein mochte. Dass er niemand Gewöhnliches war, hatte sie natürlich gemerkt, aber bis jetzt wusste sie eigentlich noch nicht mehr von ihm als seinen Namen.
»Warum«, fragte sie und setzte die Tasse ab,»hast du mich denn von der Schildkröte holen lassen?«
»Um dich vor den grauen Herren zu schützen«, antwortete Meister Hora ernst.»Sie suchen dich überall und du bist nur hier bei mir vor ihnen sicher.«
»Wollen sie mir denn was tun?«, erkundigte sich Momo erschrocken.
»Ja, Kind«, seufzte Meister Hora,»das kann man wohl sagen.«
»Warum?«, fragte Momo.
»Sie fürchten dich«, erklärte Meister Hora,»denn du hast ihnen das Schlimmste angetan, was es für sie gibt.«
»Ich hab ihnen nichts getan«, sagte Momo.
»Doch. Du hast einen von ihnen dazu gebracht sich zu verraten. Und du hast es deinen Freunden erzählt. Ihr wolltet sogar allen Leuten die Wahrheit über die grauen Herren mitteilen. Glaubst du, dass das nicht ausreicht um sie dir zu Todfeinden zu machen?«
»Aber wir sind doch mitten durch die Stadt gegangen, die Schildkröte und ich«, meinte Momo.»Wenn sie mich überall suchen, dann hätten sie mich doch ganz leicht kriegen können. Und wir sind auch ganz langsam gegangen.«
Meister Hora nahm die Schildkröte, die inzwischen wieder zu seinen Füßen saß, auf den Schoß und kraulte sie am Hals.»Was meinst du, Kassiopeia?«, fragte er lächelnd.»Hätten sie euch kriegen können?«Auf dem Rückenpanzer erschienen die Buchstaben»nie!«, und sie flimmerten so lustig, dass man förmlich glaubte, ein Gekicher zu hören.
»Kassiopeia«, erklärte Meister Hora,»kann nämlich ein wenig in die Zukunft sehen. Nicht viel, aber immerhin so etwa eine halbe Stunde.«
»genau!«, erschien auf dem Rückenpanzer.
»Verzeihung«, verbesserte sich Meister Hora,»genau eine halbe Stunde. Sie weiß mit Sicherheit vorher, was jeweils in der nächsten halben Stunde sein wird. Deshalb weiß sie natürlich auch, ob sie beispielsweise den grauen Herren begegnen wird oder nicht.«
»Ach«, sagte Momo verwundert,»das ist aber praktisch! Und wenn sie vorher weiß, da und da würde sie den grauen Herren begegnen, dann geht sie einfach einen anderen Weg?«
»Nein«, antwortete Meister Hora,»ganz so einfach ist die Sache leider nicht. An dem, was sie vorher weiß, kann sie nichts ändern, denn sie weiß ja nur das, was wirklich geschehen wird. Wenn sie also wüsste, da und da begegnet sie den grauen Herren, dann würde sie ihnen eben auch begegnen. Dagegen könnte sie nichts machen.«
»Das versteh ich nicht«, meinte Momo etwas enttäuscht,»dann nützt es doch gar nichts etwas vorher zu wissen.«
»Manchmal doch«, erwiderte Meister Hora,»in deinem Fall zum Beispiel wusste sie, dass sie den und den Weg gehen und dabei den rauen Herren nicht begegnen würde. Das ist doch schon etwas wert, findest du nicht?«
Momo schwieg. Ihre Gedanken verwickelten sich wie ein aufgegangenes Fadenknäuel.
»Um aber wieder auf dich und deine Freunde zu kommen«, fuhr Meister Hora fort,»muss ich dir mein Kompliment machen. Eure Plakate und Inschriften haben mich außerordentlich beeindruckt.«
»Hast du sie denn gelesen?«, fragte Momo erfreut.
»Alle«, antwortete Meister Hora,»und Wort für Wort!«
»Leider«, meinte Momo,»hat sie sonst niemand gelesen, scheint's.«
Meister Hora nickte bedauernd.»Ja, leider. Dafür haben die grauen Herren gesorgt.«
»Kennst du sie gut?«, forschte Momo.
Wieder nickte Meister Hora und seufzte:»Ich kenne sie und sie kennen mich.«
Momo wusste nicht recht, was sie von dieser merkwürdigen Antwort halten sollte.
»Warst du schon oft bei ihnen?«
»Nein, noch nie. Ich verlasse das Nirgend-Haus niemals.«
»Aber die grauen Herren, ich meine - besuchen sie dich manchmal?«
Meister Hora lächelte.»Keine Sorge, kleine Momo. Hier herein können sie nicht kommen. Selbst wenn sie den Weg bis zur Niemals-Gasse wüssten. Aber sie wissen ihn nicht.«
Momo dachte eine Weile nach. Die Erklärung Meister Horas beruhigte sie zwar, aber sie wollte gern etwas mehr über ihn erfahren.
»Woher weißt du das eigentlich alles«, begann sie wieder,»das mit unseren Plakaten und den grauen Herren?«
»Ich beobachte sie ständig und alles was mit ihnen zusammenhängt«, erklärte Meister Hora.»So habe ich eben auch dich und deine Freunde beobachtet.«
»Aber du gehst doch nie aus dem Haus?«
»Das ist auch nicht notwendig«, sagte Meister Hora und wurde dabei wieder zusehends jünger,»ich habe doch meine Allsicht-Brille.«Er nahm seine kleine goldene Brille ab und reichte sie Momo.
»Willst du einmal durchgucken?«
Momo setzte sie auf, blinzelte, schielte und sagte:»Ich kann überhaupt nichts erkennen.«Denn sie sah nur einen Wirbel von lauter verschwommenen Farben, Lichtern und Schatten. Es wurde ihr geradezu schwindelig davon.
»Ja«, hörte sie Meister Horas Stimme,»das geht einem am Anfang so. Es ist nicht ganz einfach, mit der Allsicht-Brille zu sehen. Aber du wirst dich gleich dran gewöhnen.«
Er stand auf, trat hinter Momos Stuhl und legte beide Hände sacht an die Bügel der Brille auf Momos Nase. Sofort wurde das Bild klar.
Momo sah zuerst die Gruppe der grauen Herren mit den drei Autos am Rand jenes Stadtteils mit dem seltsamen Licht. Sie waren gerade dabei ihre Wagen zurückzuschieben.
Dann blickte sie weiter hinaus und sah andere Gruppen in den Straßen der Stadt, die aufgeregt gestikulierend miteinander redeten und sich eine Botschaft zuzurufen schienen.
»Sie reden von dir«, erklärte Meister Hora,»sie können nicht begreifen, dass du ihnen entkommen bist.«
»Warum sehen sie eigentlich so grau im Gesicht aus?«, wollte Momo wissen, während sie weiterguckte.
»Weil sie von etwas Totem ihr Dasein fristen«, antwortete Meister Hora.»Du weißt ja, dass sie von der Lebenszeit der Menschen existieren. Aber diese Zeit stirbt buchstäblich, wenn sie von ihrem wahren Eigentümer losgerissen wird. Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.«
»Dann sind die grauen Herren also gar keine Menschen?«
»Nein, sie haben nur Menschengestalt angenommen.«
»Aber was sind sie dann?«
»In Wirklichkeit sind sie nichts.«
»Und wo kommen sie her?«
»Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben zu entstehen. Das genügt schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit sie zu beherrschen. Und auch das genügt, damit es geschehen kann.«
»Und wenn sie keine Zeit mehr stehlen könnten?«
»Dann müssten sie ins Nichts zurück, aus dem sie gekommen sind.«
Meister Hora nahm Momo die Brille ab und steckte sie ein.
»Aber leider«, fuhr er nach einer Weile fort,»haben sie schon viele Helfershelfer unter den Menschen. Das ist das Schlimme.«
»Ich«, sagte Momo entschlossen,»lass mir meine Zeit von niemand wegnehmen!«
»Ich will es hoffen«, antwortete Meister Hora.»Komm, Momo, ich will dir meine Sammlung zeigen.«
Jetzt sah er plötzlich wieder wie ein alter Mann aus.
Er nahm Momo bei der Hand und führte sie in den großen Saal hinaus.
Dort zeigte er ihr diese und jene Uhr, ließ Spielwerke laufen, führte ihr Weltzeituhren und Planetarien vor und wurde angesichts der Freude, die sein kleiner Gast an all den wunderlichen Dingen hatte, allmählich wieder jünger.
»Löst du eigentlich gern Rätsel?«, fragte er beiläufig, während sie weitergingen.
»O ja, sehr gern!«, antwortete Momo.»Weißt du eines?«
»Ja«, sagte Meister Hora und blickte Momo lächelnd an,»aber es ist sehr schwer. Die wenigsten können es lösen.«
»Das ist gut«, meinte Momo,»dann werde ich es mir merken und später meinen Freunden aufgeben.«
»Ich bin gespannt«, erwiderte Meister Hora,»ob du es herauskriegen wirst. Hör gut zu:
Drei Brüder wohnen in einem Haus,
die sehen wahrhaftig verschieden aus,
doch willst du sie unterscheiden,
gleicht jeder den anderen beiden.
Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus.
Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus.
Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei,
denn ohne ihn gab's nicht die anderen zwei.
Und doch gibt's den dritten, um den es sich handelt,
nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt.
Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder
immer einen der anderen Brüder!
Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer?
Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar - keiner?
Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen,
so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen.
Sie regieren gemeinsam ein großes Reich -
und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.«
Meister Hora schaute Momo an und nickte aufmunternd. Sie hatte gespannt zugehört. Da sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, wiederholte sie nun das Rätsel langsam und Wort für Wort.»Hui«, seufzte sie dann,»das ist aber wirklich schwer. Ich hab keine Ahnung, was es sein könnte. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«
»Versuch's nur«, sagte Meister Hora.
M mo murmelte noch einmal das ganze Rätsel vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf.»Ich kann's nicht«, gab sie zu.
Inzwischen war die Schildkröte nachgekommen. Sie saß neben Meister Hora und guckte Momo aufmerksam an.
»Nun, Kassiopeia«, sagte Meister Hora,»du weißt doch alles eine halbe Stunde voraus. Wird Momo das Rätsel lösen?«
»sie wird!«, erschien auf Kassiopeias Rückenpanzer.
»Siehst du«, meinte Meister Hora, zu Momo gewandt,»du wirst es lösen. Kassiopeia irrt sich nie.«
Momo zog ihre Stirn kraus und begann wieder angestrengt nachzudenken. Was für drei Brüder gab es überhaupt, die zusammen in einem Haus wohnten? Dass es sich dabei nicht um Menschen handelte, war klar. In Rätseln waren Brüder immer Apfelkerne oder Zähne oder so was, jedenfalls Sachen von der gleichen Art. Aber hier waren es drei Brüder, die sich irgendwie ineinander verwandelten. Was gab es denn, was sich ineinander verwandelt? Momo schaute sich um. Da standen zum Beispiel die Kerzen mit den reglosen Flammen. Da verwandelte sich das Wachs durch die Flamme in Licht. Ja, das waren drei Brüder. Aber es ging doch nicht, denn sie waren ja alle drei da. Und zwei davon sollten ja nicht da sein. Also war es vielleicht so etwas wie Blüte, Frucht und Samenkorn. Ja, tatsächlich, da stimmte schon vieles. Das Samenkorn war das Kleinste von den Dreien. Und wenn es da war, waren die beiden anderen nicht da. Und ohne es gab's nicht die anderen zwei. Aber es ging doch nicht! Denn ein Samenkorn konnte man doch sehr gut anschauen. Und es hieß doch, dass man immer einen der anderen Brüder sieht, wenn man den Kleinsten der drei anschauen will.
Momos Gedanken irrten umher. Sie konnte und konnte einfach keine Spur finden, die sie weitergeführt hätte. Aber Kassiopeia hatte ja gesagt, sie würde die Lösung finden. Sie begann also noch einmal von vorn und murmelte die Worte des Rätsels langsam vor sich hin. Als sie zu der Stelle kam:»Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus…«, sah sie, dass die Schildkröte ihr zuzwinkerte. Auf ihrem Rücken erschienen die Worte:»das, was ich weiss!«, und erloschen gleich wieder.
»Still, Kassiopeia!«, sagte Meister Hora schmunzelnd, ohne dass er hingeguckt hatte.»Nicht einsagen! Momo kann es ganz allein.«Momo hatte die Worte auf dem Panzer der Schildkröte natürlich gesehen und begann nun nachzudenken, was gemeint sein könnte. Was war es denn, was Kassiopeia wusste? Sie wusste, dass Momo das Rätsel lösen würde. Aber das ergab keinen Sinn.
Was wusste sie also noch? Sie wusste immer alles, was geschehen würde. Sie wusste…
»Die Zukunft!«, rief Momo laut.»Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus - das ist die Zukunft!«
Meister Hora nickte.
»Und der zweite«, fuhr Momo fort,»ist nicht da, er ging schon hinaus - das ist dann die Vergangenheit!«
Wieder nickte Meister Hora und lächelte erfreut.
»Aber jetzt«, meinte Momo nachdenklich,»jetzt wird es schwierig. Was ist denn der dritte? Er ist der Kleinste der drei, aber ohne ihn gab's nicht die anderen zwei, heißt es. Und er ist der Einzige, der da ist.«Sie überlegte und rief plötzlich:»Das ist jetzt! Dieser Augenblick! Die Vergangenheit sind ja die gewesenen Augenblicke und die Zukunft sind die, die kommen! Also gab's beide nicht, wenn es die Gegenwart nicht gäbe. Das ist ja richtig!«
Momos Backen begannen vor Eifer zu glühen. Sie fuhr fort:»Aber was bedeutet das, was jetzt kommt?
Und doch gibt's den dritten, um den es sich handelt,
nur weil sich der erst in den zweiten verwandelt…
Das heißt also, dass es die Gegenwart nur gibt, weil sich die Zukunft in Vergangenheit verwandelt!«
Sie schaute Meister Hora überrascht an.»Das stimmt ja! Daran hab ich noch nie gedacht. Aber dann gibt's ja den Augenblick eigentlich gar nicht, sondern bloß Vergangenheit und Zukunft? Denn jetzt zum Beispiel, dieser Augenblick - wenn ich darüber rede, ist er ja schon wieder Vergangenheit! Ach, jetzt versteh ich, was das heißt:»Denn willst du ihn anschaun, so siehst du nur wieder immer einen der anderen Brüder!«Und jetzt versteh ich auch das Übrige, weil man meinen kann, dass es überhaupt nur einen von den drei Brüdern gibt: nämlich die Gegenwart oder nur Vergangenheit und Zukunft. Oder eben gar keinen, weil es ja jeden bloß gibt, wenn es die anderen auch gibt! Da dreht sich einem ja alles im Kopf!«
»Aber das Rätsel ist noch nicht zu Ende«, sagte Meister Hora.»Was ist denn das große Reich, das die drei gemeinsam regieren und das sie zugleich selber sind?«
Momo schaute ihn ratlos an. Was konnte das wohl sein? Was war denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles zusammen?
Sie schaute in dem riesigen Saal umher. Ihr Blick wanderte über die tausend und abertausend Uhren und plötzlich blitzte es in ihren Augen.
»Die Zeit!«, rief sie und klatschte in die Hände.»Ja, das ist die Zeit! Die Zeit ist es!«Und sie hüpfte vor Vergnügen ein paarmal.
»Und nun sag mir auch noch, was das Haus ist, in dem die drei Brüder wohnen!«, forderte Meister Hora sie auf.
»Das ist die Welt«, antwortete Momo.
»Bravo!«, rief nun Meister Hora und klatschte ebenfalls in die Hände.»Meinen Respekt, Momo! Du verstehst dich aufs Rätsellösen! Das hat mir wirklich Freude gemacht!«
»Mir auch!«, antwortete Momo und wunderte sich im Stillen ein wenig, warum Meister Hora sich so darüber freute, dass sie das Rätsel gelöst hatte.
Sie gingen weiter durch den Uhrensaal und Meister Hora zeigte ihr noch andere, seltene Dinge, aber Momo war noch immer in Gedanken bei dem Rätsel.
»Sag mal«, fragte sie schließlich,»was ist denn die Zeit eigentlich?«
»Das hast du doch gerade selbst herausgefunden«, antwortete Meister Hora.
»Nein, ich meine«, erklärte Momo,»die Zeit selbst - sie muss doch irgendetwas sein. Es gibt sie doch. Was ist sie denn wirklich?«
»Es wäre schön«, sagte Meister Hora,»wenn du auch das selbst beantworten könntest.«
Momo überlegte lange.
»Sie ist da«, murmelte sie gedankenverloren,»das ist jedenfalls sicher. Aber anfassen kann man sie nicht. Und fest halten auch nicht. Vielleicht ist sie so was wie ein Duft? Aber sie ist auch etwas, das immerzu vorbeigeht. Also muss sie auch irgendwo herkommen. Vielleicht ist sie so was wie der Wind? Oder nein! Jetzt weiß ich's! Vielleicht ist sie eine Art Musik, die man bloß nicht hört, weil sie immer da ist. Obwohl, ich glaub, ich hab sie schon manchmal gehört, ganz leise.«
»Ich weiß«, nickte Meister Hora,»deswegen konnte ich dich ja zu mir rufen.«
»Aber es muss noch was anderes dabei sein«, meinte Momo, die dem Gedanken noch weiter nachhing,»die Musik ist nämlich von weit her gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin. Vielleicht ist es mit der Zeit auch so.«
Sie schwieg verwirrt und fügte dann hilflos hinzu:»Ich meine, so wie die Wellen auf dem Wasser durch den Wind entstehen. Ach, das ist wahrscheinlich alles Unsinn, was ich rede!«
»Ich finde«, sagte Meister Hora,»das hast du sehr schön gesagt. Und deshalb will ich dir nun ein Geheimnis anvertrauen: Hier aus dem Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse kommt die Zeit aller Menschen.«
Momo blickte ihn ehrfürchtig an.
»Oh«, sagte sie leise,»machst du sie selbst?«
Meister Hora lächelte wieder.»Nein, mein Kind, ich bin nur der Verwalter. Meine Pflicht ist es, jedem Menschen die Zeit zuzuteilen, die ihm bestimmt ist.«
»Könntest du es dann nicht ganz einfach so einrichten«, fragte Momo,»dass die Zeit-Diebe den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?«
»Nein, das kann ich nicht«, antwortete Meister Hora,»denn was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen. Ich kann sie ihnen nur zuteilen.«
Momo blickte sich im Saal um, dann fragte sie:»Hast du dazu die vielen Uhren? Für jeden Menschen eine, ja?«
»Nein, Momo«, erwiderte Meister Hora,»diese Uhren sind nur eine Liebhaberei von mir. Sie sind nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust hat. Denn so wie ihr Augen habt um das Licht zu sehen und Ohren um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.«
»Und wenn mein Herz einmal aufhört zu schlagen?«, fragte Momo.
»Dann«, erwiderte Meister Hora,»hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du selbst bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre. Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.«
»Und was ist auf der anderen Seite?«
»Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.«
Er blickte Momo prüfend an.»Aber das kannst du wohl noch nicht verstehen?«
»Doch«, sagte Momo leise,»ich glaube schon.«
Sie erinnerte sich an ihren Weg durch die Niemals-Gasse, in der sie alles rückwärts erlebt hatte und sie fragte:»Bist du der Tod?«
Meister Hora lächelte und schwieg eine Weile, ehe er antwortete:»Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.«
»Dann braucht man es ihnen doch bloß zu sagen«, schlug Momo vor.
»Meinst du?«, fragte Meister Hora.»Ich sage es ihnen mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören. Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen. Das ist auch ein Rätsel.«
»Ich hab keine Angst«, sagte Momo.
Meister Hora nickte langsam. Er blickte Momo lange an, dann fragte er:»Möchtest du sehen, wo die Zeit herkommt?«
»Ja«, flüsterte sie.
»Ich werde dich hinführen«, sagte Meister Hora.»Aber an jenem Ort muss man schweigen. Man darf nichts fragen und nichts sagen. Versprichst du mir das?«
Momo nickte stumm.
Da beugte Meister Hora sich zu ihr herunter, hob sie hoch und nahm sie fest in seine Arme. Er schien ihr auf einmal sehr groß und unaussprechlich alt, aber nicht wie ein alter Mann, sondern wie ein uralter Baum oder wie ein Felsenberg. Dann deckte er ihr mit der Hand die Aueen zu und es fühlte sich an wie leichter, kühler Schnee, der auf ihr Gesicht fiel.
Momo war es, als ob Meister Hora mit ihr durch einen langen dunklen Gang schritte. Aber sie fühlte sich ganz geborgen und hatte keine Angst. Anfangs meinte sie das Pochen ihres eigenen Herzens zu hören, aber dann schien es ihr mehr und mehr, als sei es in Wirklichkeit der Widerhall von Meister Horas Schritten. Es war ein langer Weg, aber schließlich setzte er Momo ab. Sein Gesicht war nahe vor dem ihren, er blickte sie groß an und hatte den Finger an die Lippen gelegt. Dann richtete er sich auf und trat zurück. Goldene Dämmerung umgab sie.
Nach und nach erkannte Momo, dass sie unter einer gewaltigen, vollkommen runden Kuppel stand, die ihr so groß schien wie das ganze Himmelsgewölbe. Und diese riesige Kuppel war aus reinstem Gold. Hoch oben in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung, durch die eine Säule von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel.
Dicht über dem Wasser funkelte etwas in der Lichtsäule wie ein heller Stern. Es bewegte sich mit majestätischer Langsamkeit dahin und Momo erkannte ein ungeheures Pendel, welches über dem schwarzen Spiegel hin- und zurückschwang. Aber es war nirgends aufgehängt. Es schwebte und schien ohne Schwere zu sein.
Als das Sternenpendel sich nun langsam immer mehr dem Rande des Teiches näherte, tauchte dort aus dem dunklen Wasser eine große Blütenknospe auf. Je näher das Pendel kam, desto weiter öffnete sie sich, bis sie schließlich voll erblüht auf dem Wasserspiegel lag.
Es war eine Blüte von solcher Herrlichkeit, wie Momo noch nie zuvor eine gesehen hatte. Sie schien aus nichts als leuchtenden Farben zu bestehen. Momo hatte nie geahnt, dass es diese Farben überhaupt gab. Das Sternenpendel hielt eine Weile über der Blüte an und Momo versank ganz und gar in den Anblick und vergaß alles um sich her. Der Duft allein schien ihr wie etwas, wonach sie sich immer gesehnt hatte ohne zu wissen, was es war.
Doch dann schwang das Pendel langsam, langsam wieder zurück. Und während es sich ganz allmählich entfernte, gewahrte Momo zu ihrer Bestürzung, dass die herrliche Blüte anfing zu verwelken. Ein Blatt nach dem anderen löste sich und versank in der dunklen Tiefe. Momo empfand es so schmerzlich, als ob etwas Unwiederbringliches für immer von ihr fortginge.
Als das Pendel über der Mitte des schwarzen Teiches angekommen war, hatte die herrliche Blüte sich vollkommen aufgelöst. Gleichzeitig aber begann auf der gegenüberliegenden Seite eine Knospe aus dem dunklen Wasser aufzusteigen. Und als das Pendel sich dieser nun langsam näherte, sah Momo, dass es eine noch viel herrlichere Blüte war, die da aufzubrechen begann. Das Kind ging um den Teich herum um sie aus der Nähe zu betrachten.
Sie war ganz und gar anders als die vorhergehende Blüte. Auch ihre Farben hatte Momo noch nie zuvor gesehen, aber es schien ihr, als sei diese hier noch viel reicher und kostbarer. Sie duftete ganz anders, viel herrlicher und je länger Momo sie betrachtete, umso mehr wundervolle Einzelheiten entdeckte sie.
Aber wieder kehrte das Sternenpendel um und die Herrlichkeit verging und löste sich auf und versank, Blatt für Blatt, in den unergründlichen Tiefen des schwarzen Teiches.
Langsam, langsam wanderte das Pendel zurück auf die Gegenseite, aber es erreichte nun nicht mehr dieselbe Stelle wie vorher, sondern es war um ein kleines Stück weitergewandert. Und dort, einen Schritt neben der ersten Stelle, begann abermals eine Knospe aufzusteigen und sich allmählich zu entfalten.
Diese Blüte war nun die allerschönste, wie es Momo schien. Dies war die Blüte aller Blüten, ein einziges Wunder!
Momo hätte am liebsten laut geweint, als sie sehen musste, dass auch diese Vollkommenheit anfing hinzuwelken und in den dunklen Tiefen zu versinken. Aber sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Meister Hora gegeben hatte und schwieg still.
Auch auf der Gegenseite war das Pendel nun einen Schritt weiter gewandert und eine neue Blume stieg aus den dunklen Wassern auf.
Allmählich begriff Momo, dass jede neue Blume immer ganz anders war als alle vorherigen und dass ihr jeweils diejenige, die gerade blühte, die allerschönste zu sein schien.
Immer rund um den Teich wandernd, schaute sie zu, wie Blüte um Blüte entstand und wieder verging. Und es war ihr, als könne sie dieses Schauspiels niemals müde werden.
Aber nach und nach wurde sie gewahr, dass hier immerwährend noch etwas anderes vorging, etwas, das sie bisher nicht bemerkt hatte.
Die Lichtsäule, die aus der Mitte der Kuppel herniederstrahlte, war nicht nur zu sehen - Momo begann sie nun auch zu hören!
Anfangs war es wie ein Rauschen, so wie von Wind, den man fern in den Wipfeln der Bäume hört. Aber dann wurde das Brausen mächtiger, bis es dem eines Wasserfalls glich oder dem Donnern der Meereswogen gegen eine Felsenküste.
Und Momo vernahm immer deutlicher, dass dieses Tosen aus unzähligen Klängen bestand, die sich untereinander ständig neu ordneten, sich wandelten und immerfort andere Harmonien bildeten. Es war Musik und war doch zugleich etwas ganz Anderes. Und plötzlich erkannte Momo sie wieder: Es war die Musik, die sie manchmal leise und wie von fern gehörte hatte, wenn sie unter dem funkelnden Sternenhimmel der Stille lauschte.
Aber nun wurden die Klänge immer klarer und strahlender. Momo ahnte, dass dieses klingende Licht es war, das jede der Blüten in anderer, jede in einmaliger und unwiederholbarer Gestalt aus den Tiefen des dunklen Wassers hervorrief und bildete. Je länger sie zuhörte, desto deutlicher konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden. Aber es waren keine menschlichen Stimmen, sondern es klang, als ob Gold und Silber und alle anderen Metalle sangen. Und dann tauchten, gleichsam dahinter, Stimmen ganz anderer Art auf, Stimmen aus undenkbaren Fernen und von unbeschreibbarer Mächtigkeit. Immer deutlicher wurden sie, sodass Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache, die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond und die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle zusammenwirken, um jede einzelne dieser Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen.
Und auf einmal begriff Momo, dass alle diese Worte an sie gerichtet waren! Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Gesicht, das sie anblickte und zu ihr redete!
Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst.
In diesem Augenblick sah sie Meister Hora, der ihr schweigend mit der Hand winkte. Sie stürzte auf ihn zu, er nahm sie auf den Arm und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Wieder legten sich seine Hände schneeleise auf ihre Augen und es wurde dunkel und still und sie fühlte sich geborgen. Er ging mit ihr den langen Gang zurück.
Als sie wieder in dem kleinen Zimmer zwischen den Uhren waren, bettete er sie auf das zierliche Sofa.
»Meister Hora«, flüsterte Momo,»ich hab nie gewusst, dass die Zeit Her Menschen so…«- sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden -»so groß ist«, sagte sie schließlich.
»Was du gesehen und gehört hast, Momo«, antwortete Meister Hora,»das war nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit. In jedem Menschen gibt es diesen Ort, an dem du eben warst. Aber dort hinkommen kann nur, wer sich von mir tragen lässt. Und mit gewöhnlichen Augen kann man ihn nicht sehen.«
»Aber wo war ich denn?«
»In deinem eigenen Herzen«, sagte Meister Hora und strich ihr sanft über ihr struppiges Haar.
»Meister Hora«, flüsterte Momo wieder,»darf ich meine Freunde auch zu dir bringen?«
»Nein«, antwortete er,»das kann jetzt noch nicht sein.«
»Wie lang darf ich denn bei dir bleiben?«
»Bis es dich selbst zu deinen Freunden zurückzieht, mein Kind.«
»Aber darf ich ihnen erzählen, was die Sterne gesagt haben?«
»Du darfst es. Aber du wirst es nicht können.«
»Warum nicht?«
»Dazu müssten die Worte dafür in dir erst wachsen.«
»Ich möchte ihnen aber davon erzählen, allen! Ich möchte ihnen die Stimmen vorsingen können. Ich glaube, dann würde alles wieder gut werden.«
»Wenn du das wirklich willst, Momo, dann musst du warten können.«
»Warten macht mir nichts aus.«
»Warten, Kind, wie ein Samenkorn, das in der Erde schläft einen ganzen Sonnenkreis lang, ehe es aufgehen kann. So lang dauert es, bis die Worte in dir gewachsen sein werden. Willst du das?«
»Ja«, flüsterte Momo.
»Dann schlafe«, sagte Meister Hora und strich ihr über die Augen,»schlafe!«
Und Momo holte tief und glücklich Atem und schlief ein.