Samstag morgen, am 28. April, schrieb ich zuletzt. Drei Tage vergingen seitdem so, so randvoll der tollen Dinge, der Bilder, Ängste, Gefühle, daß ich nicht mehr weiß, wo anfangen, was sagen. Wir sind im Dreck, tief, tief. Jede Minute Leben wird teuer bezahlt. Über uns geht der Sturm weg. Zitternde Blätter im Wirbel, wir wissen nicht, wohin es uns treibt.
Eine Ewigkeit ist seit Samstag vergangen. Heute ist Dienstag und Erster Mai und immer noch Krieg. Ich hocke im Sessel, im Vorderzimmer. Vor mir im Bett liegt Herr Pauli, Untermieter der Witwe und heimgeschickter Volkssturmmann. Am Samstag nach-mittag kreuzte er überraschend auf, einen Klumpen von sechzehn Pfund Butter, in ein Handtuch gewickelt, unterm Arm. Nun ist er krank, hat Neuralgie.
Der Wind pfeift durch die kümmerlich mit Pappe vernagelten Fenster, zerrt an den Fetzen, daß sie knattern, wirft flackriges Tageslicht herein. Es ist bald hell, bald dunkel im Zimmer; immer bitter kalt. Ich habe mich in eine Wolldecke gewickelt und schreibe mit klammen Fingern, während Herr Pauli schläft und die Witwe irgendwo im Haus herumgeistert, auf der Suche nach Kerzen.
Von draußen hallen russische Laute herein. Iwan spricht mit seinen Gäulen. Zu den Pferden sind sie weit freundlicher als zu uns, bekommen gute warme Stimmen, sprechen geradezu menschlich mit den Tieren. Manchmal wehen Schwaden von Pferdegeruch herein. Kettengeklirr. Irgendwo spielt einer Harmonika.
Blick zwischen den Pappfetzen hindurch aus dem Fenster. Unten ist Biwak. Auf dem Bürgersteig Pferde, Wagen, Tränkeimer, Kästen mit Heu und Hafer, zertretener Pferdemist, Kuhfladen. Im Torweg gegenüber brennt ein Feuerchen, mit zerklopften Stühlen gespeist. Iwans in Wattejacken hocken drum herum.
Meine Hände zittern. Die Füße sind Eis. Gestern abend hat uns eine deutsche Granate die letzten Scheiben zerschlagen. Nun ist die Wohnung ganz dem Ostwind preisgegeben. Gut, daß nicht Januar ist.
Zwischen löchrigen Wänden hetzen wir hin und her, horchen bang nach draußen, beißen bei jedem Laut die Zähne zusammen. Die kaputte Hintertür, schon längst nicht mehr verstellt, steht offen. Immerzu rennt Mannsvolk durch die Küche, durch den Gang und die beiden Zimmer. Vor einer halben Stunde war ein Wildfremder, Hartnäckiger da, wollte mich, wurde verjagt. Rief drohend: »Ich komme wieder.«
Was heißt Schändung? Als ich das Wort zum ersten Mal laut aussprach, Freitag abend im Keller, lief es mir eisig den Rücken herunter. Jetzt kann ich es schon denken, schon hinschreiben mit kalter Hand, ich spreche es vor mich hin, um mich an die Laute zu gewöhnen. Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht.
Samstag nachmittag gegen 15 Uhr schlugen zwei mit Fäusten und Waffen gegen die Vordertür, brüllten rauh, traten gegen das Holz. Die Witwe öffnete. Sie zittert jedesmal um ihr Türschloß. Zwei Grauköpfe, taumelnd, betrunken. Sie stoßen ihre Automatengewehre in die letzte heile Flurscheibe. Klirrend fallen die Scherben in den Hof hinab. Dann reißen sie das Verdunklungsrollo in Fetzen herunter, treten gegen die alte Standuhr.
Der eine greift nach mir, treibt mich in das vordere Zimmer, nachdem er die Witwe aus dem Weg gestoßen hat. Der andere baut sich an der Vordertür auf, hält die Witwe in Schach, stumm, mit dem Gewehr drohend, ohne sie zu berühren.
Der mich treibt, ist ein älterer Mensch mit grauen Bart-stoppeln, er riecht nach Schnaps und Pferden. Klinkt sorgfältig hinter sich die Tür zu und schiebt, als er keinen Schlüssel im Schloß findet, den Ohrensessel gegen die Füllung. Er scheint die Beute gar nicht zu sehen. Um so erschreckender sein Stoß, der sie zum Lager treibt. Augen zu, Zähne fest zusammen-gebissen.
Kein Laut. Bloß als das Unterzeug krachend zerreißt, knirschen unwillkürlich die Zähne. Die letzten heilen Sachen.
Auf einmal Finger an meinem Mund, Gestank von Gaul und Tabak. Ich reiße die Augen auf. Geschickt klemmen die fremden Hände mir die Kiefer auseinander. Äug in Auge. Dann läßt der über mir aus seinem Mund bedächtig den angesammelten Speichel in meinen Mund fallen.
Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf. Ich fühle mich gleiten und fallen, tief, durch die Kissen und die Dielen hindurch. In den Boden versinken - so ist das also.
Wieder Aug in Auge. Die fremden Lippen tun sich auf, gelbe Zähne, ein Vorderzahn halb abgebrochen. Die Mundwinkel heben sich, von den Augenschlitzen strahlen Fältchen aus. Der lächelt.
Er kramt, bevor er geht, etwas aus seiner Hosentasche, schmeißt es stumm auf den Nachttisch, rückt den Sessel beiseite, knallt hinter sich die Tür zu. Das Hinterlassene: eine verkrumpelte Schachtel mit etlichen Papyrossen darin. Mein Lohn.
Als ich aufstand, Schwindel, Brechreiz. Die Lumpen fielen mir auf die Füße. Ich torkelte durch den Flur, an der schluchzenden Witwe vorüber ins Bad. Erbrechen. Das grüne Gesicht im Spiegel, die Brocken im Becken. Ich hockte auf der Wannen-kante, wagte nicht nachzuspülen, da immer wieder Würgen und das Wasser im Spüleimer so knapp.
Sagte dann laut: Verdammt! und faßte einen Entschluß.
Ganz klar: Hier muß ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu hab ich meinen Grips und mein bißchen Kenntnis der Feindsprache?
Sobald ich wieder gehen konnte, nahm ich einen Eimer und verzog mich hinunter auf die Straße. Schlenderte auf und ab, spähte in die Höfe, äugte umher, kehrte wieder ins Treppen-haus zurück, gab Obacht. Ich legte mir Sätze zurecht, mit denen ich einen Offizier ansprechen könnte; überlegte, ob ich nicht zu grün und elend aussähe, um zu gefallen. Fühlte mich körperlich wieder besser, nun, da ich etwas tat, plante und wollte, nicht mehr nur stumme Beute war.
Eine halbe Stunde lang nichts, d. h. keine Sterne. Ich kenne ihre Rangabzeichen und Ränge nicht, weiß nur, daß Offiziere Sterne an der Mütze haben und meistens Mäntel an. Ich sah aber bloß grünes Volk und Hundsgemeine. Wollte es schon für den Tag aufgeben, klopfte bereits an unsere Vordertür, da tat sich an der Wohnung gegenüber, die einem rechtzeitig geflüchteten Hausbewohner gehört, die Tür auf. Ein Besternter. Groß, schwarzlockig, gut genährt. Wie er mich mit dem Eimer sieht, lacht er mich an, radebrecht: »Du - Frau?« Ich lache zurück, überschütte ihn mit meinem besten Russisch. Er ist entzückt, seine Sprache zu hören. Wir schwatzen, albern, kalbern, wobei ich herausbekomme, daß er Oberleutnant ist. Schließlich verabreden wir uns für heute abend, 19 Uhr, in der Wohnung der Witwe. Bis dahin hat er dienstlich zu tun. Er heißt Anatol Soundso, ist Ukrainer.
»Werden Sie auch bestimmt kommen?«
Er, vorwurfsvoll: »Aber ganz bestimmt, und so schnell ich kann.«
Zuerst tauchte gegen 17 Uhr ein anderer, schon fast Verges-sener auf: Petka von der letzten Nacht, Petka mit dem Bürsten-haar und dem Romeogestammel. Er bringt zwei Kameraden mit, die er uns als Grischa und Jascha vorstellt. Schon sitzen sie alle drei um unseren runden Tisch herum, noch ein bißchen befangen, wie Jungens, die bei besseren Leuten eingeladen sind. Bloß Petka benimmt sich, als sei er hier zu Hause, führt mich den anderen mit ausgesprochenem Besitzerstolz vor. Die drei räkeln sich auf den Sesseln, fühlen sich wohl. Jascha stellt eine Flasche Wodka hin. Grischa kramt aus einem durchge-fetteten Stück der Prawda (es ist die Titelseite, leider alte Nummer) Heringe und Brot heraus. Hausherrenhaft ruft Petka nach Gläsern. Er schenkt ein, schlägt mit der Faust auf den Tisch und kommandiert:
»Wiypitj nado, austrinken!«
Die Witwe und ich - und auch der erst vor einer halben Stunde urplötzlich aufgekreuzte Untermieter Herr Pauli, entlassener Volkssturmmann - müssen uns mit an den Tisch setzen, müssen mit den Burschen trinken. Petka legt vor jeden von uns eine Scheibe dunklen, feuchten Brotes auf die Tischplatte, zerteilt dann kurzerhand auf dem polierten Mahagoni die Heringe und drückt uns mit dem Daumen Stücke davon aufs Brot, wobei er uns anstrahlt, als sei dies eine ganz besondere Gunst und Delikatesse.
Die Witwe erschrickt, rennt nach Tellern. Grischa ist ein Stiller mit einem dauerhaften Schmunzeln um den Mund, seine Stimme knarrt tief, er gibt acht, daß wir alle gleichmäßig vom Brot und den Heringen bekommen. Der kleine, kahlgeschorene Jascha lächelt und nickt nach allen Seiten. Die beiden stammen aus Charkow. Ich kam langsam mit ihnen ins Schwätzen, dolmetschte zwischen Herrn Pauli und den Russen. Wir trinken einander zu. Der Sibiriak Petka lärmt voll Behagen.
Ich horche immer wieder zur Tür hin und spähe auf die kleine Damenarmbanduhr an Jaschas Arm. Jeden Augenblick erwarte ich Anatol, den herbestellten Oberleutnant - mit Bangen, denn ich befürchte Streit. Petka ist zwar baumstark und sauber gewaschen, aber ein Primitivling und Hundsgemeiner, kein Schutz. Von einem Oberleutnant dagegen verspreche ich mir eine Art von Tabu. Der Entschluß steht bei mir fest. Es wird mir schon etwas einfallen, wenn es soweit ist. Ich griene in mich hinein, komme mir vor wie eine auf der Bühne agierende Person. Was gehen mich die alle an! Bin noch nie so weit von mir selber weg gewesen und mir so entfremdet. Alles Gefühl scheint tot. Einzig der Lebenstrieb lebt. Die sollen mich nicht zerstören.
Unterdessen hat Grischa sich als »Buchhalter« vorgestellt. Auch unser Herr Pauli, Industriekaufmann, bekennt sich als Buchhalter. Grischa und Herr Pauli haben beide flott getrunken. Sie fallen sich um den Hals, jauchzen: »Ich Buchhalter, du Buchhalter, wir Buchhalter!« Der erste deutsch-russische Verbrüderungskuß klatscht auf Paulis Wange. Bald ist Pauli stockbetrunken, er ruft uns hingerissen zu: »Sind doch dolle Kerle, diese Russen, da steckt Saft und Kraft drin!«
Wieder leeren wir eine Gläserrunde auf die internationale Buchhalterei. Selbst die Witwe wird nun munter und vergißt vorübergehend, daß auf ihrer polierten Tischplatte Heringe zersägt werden. (Um die Teller kümmert sich keiner der Burschen.) Ich trinke sehr mit Maßen, tausche heimlich die Gläser aus, will meinen Verstand für nachher zusammenhalten. Wir sind von kranker Lustigkeit, vor allem wir beiden Frauen. Wir wollen vergessen, was vor drei Stunden geschah.
Draußen Dämmerung. Nun singen Jascha und Petka etwas Melancholisches, Grischa brummelt nur so mit. Herr Pauli ist in selig aufgelöster Laune. Es ist ein bißchen viel für ihn, nachdem er heute früh noch Todeskandidat beim Volkssturm war, bis die Mannen sich einsichtsvoll auflösten und sich mangels Waffen und Befehlen gegenseitig heimschickten. Plötzlich rülpst Pauli, fällt vornüber und speit auf den Teppich. Im Nu wird er von der Witwe und dem Mitbuchhalter Grischa ins Bad spediert. Die anderen schütteln den Kopf, äußern Teilnahme... Womit Herr Pauli sich für den Rest des Tages und, wie sich seither herausgestellt hat, auf unabsehbare Zeit ins Bett verkrümelt, in sein Untermieterzimmer nebenan. Eine lahme Ente. Es wird wohl so sein, daß sein Unterbewußtsein die Lähmung will. Seine Seele ist neuralgisch. Trotzdem wirkt er durch sein bloßes maskulines Vorhandensein bremsend. Die Witwe schwört auf ihn und seine kargen Aussprüche zur Weltlage und massiert ihm das Kreuz.
Abenddämmerung, fernes Geheul der Front. Wir zünden die Kerze an, die die Witwe aufgetrieben hat, pappen sie auf eine Untertasse. Dürftiger Lichtkreis über dem runden Tisch. Soldaten kommen und gehen, es wird lebhaft gegen Abend. Es hämmert gegen die Vordertür, es drängt sich hinten in der Küche. Wir sind furchtlos. Solange Petka, Grischa und Jascha bei uns am Tisch sitzen, kann uns nichts passieren.
Plötzlich steht Anatol im Zimmer, erfüllt die Stube mit seiner Mannsgegenwart. Hinter ihm drein trabt ein Soldat mit einem Kochgeschirr voll Schnaps und einem runden, dunklen Brot unterm Arm. Die Männer sind alle in bestem Futterzustand, drall und prall, in sauberen, praktisch-derben Uniformen, mit breiten Bewegungen, sehr selbstbewußt. Sie spucken ins Zimmer, werfen ihre langen Zigarettenmundstücke in die Gegend, wischen die Heringsgräten vom Tisch auf den Teppich hinunter und fläzen sich breit in den Sesseln.
Anatol berichtet, daß die Front nunmehr am Landwehrkanal liegt, und ich muß an den öden, alten Singsang denken: »Es liegt eine Leiche im Landwehrkanal...« Viele Leichen werden nun darin liegen. Anatol behauptet, daß sich in den letzten Tagen 130 deutsche Generäle ergeben hätten. Er kramt aus einer Zellophantasche eine Karte von Berlin heraus, zeigt uns darauf den Frontverlauf. Es ist eine sehr genaue Karte, russisch beschriftet. Eigentümliches Gefühl, als ich nun, Anatols Wunsch willfahrend, ihm zeige, wo sich unser Haus befindet.
Also Samstag, 28. April 1945, Front am Landwehrkanal. Jetzt, wo ich dies aufschreibe, ist Dienstag, 1. Mai. Es orgelt über uns hinweg. Ölig dröhnen die russischen Flugzeugmotoren. Drüben an der Schule stehen in langen Reihen die Stalinorgeln, von den Russen zärtlich »Kartjuscha« genannt und in einem besonderen Soldatenlied besungen. Die Kartjuschas heulen in schrillen Wolfstönen. Sie sehen nach gar nichts aus, gleichen aufrecht stehenden Gittern aus dünnen Rohren. Doch sie heulen, jaulen, kreischen, daß es uns fast die Ohren zerreißt, wenn wir, nicht weit weg davon, nach Wasser anstehen. Dazu speien sie bündelweise Feuerstreifen.
Von den Kartjuschas überheult, stand ich heute morgen in der Wasserschlange. Der Himmel war blutig bewölkt. Das Zentrum raucht und dampft. Die Wassersnot treibt uns aus allen Löchern. Von überall her kommen sie gekrochen, elende, schmutzige Zivilisten, Frauen mit grauen Gesichtern, alte zumeist, denn die jungen versteckt man. Männer mit Stoppel-bärten, weiße Fetzen der Kapitulation um den Oberarm gebunden - so stehen sie da und schauen zu, wie die Soldaten Eimer auf Eimer für ihre Pferde vollpumpen. Denn das Militär hat an der Pumpe jederzeit den Vortritt, ganz selbstverständ-lich. Darob kein Streit, im Gegenteil: Als der Pumpenschwengel einem Zivilisten herausbrach, klopfte ein Russe ihn mit einem Nagel gleich wieder fest.
Ringsum in den Schrebergärten Biwak unter Blütenbäumen. Geschütze sind in die Beete gerammt. Vor den Lauben pennen Russen. Andere tränken die Pferde, die in den Lauben Unterstand fanden. Mit Erstaunen sehen wir die vielen Soldatenmädchen in Feldbluse, Rock und Baskenmütze mit Abzeichen, offenbar reguläre Truppenangehörige, meistens blutjung, klein, fest und glattgekämmt. In Bütten waschen sie ihr Zeugs. Hemden und Frauenblusen tanzen aufschnellgespann-ten Leinen. Und darüber weg heulen die Orgeln, und schwarzer Qualm steht wie eine Wand vor dem Himmel. So gestern früh, so heute. Heute traf ich auf dem Heimweg Herrn Golz, parteigläubig bis zuletzt. Nun hat er sich angepaßt. Er tippte einem vorübergehenden Russen auf seine in Zellophan gehüllten bunten Ordensbänder über der Brusttasche, fragte: »Orden?« (Es ist deutsch und russisch dasselbe Wort, wie er mich belehrte; von meinen Sprachkennt-nissen ahnt er nichts.) Er gab mir ein kleines Heft, ein deutschrussisches Soldatenwörterbuch, sagte, daß er deren noch mehr bekommen könnte. Ich hab es bereits durchstudiert. Es steht eine Menge sehr nützlicher Vokabeln darin, wie Speck, Mehl, Salz. Andere wichtige Wörter wie »Angst« und »Keller« fehlen. Auch das Wort »tot«, das ich damals auf meiner Reise nicht brauchte, fehlt mir jetzt öfters in der Unterhaltung. Ich ersetze es durch das gut verständliche »kaputt«, das noch für vieles andere paßt. Dafür enthält das Wörterbuch Ausdrücke, für die wir beim besten Willen jetzt keine Verwendung haben, wie »Hände hoch!« und »Stillgestanden!«. Höchstens könnte es sein, daß man uns jetzt so anspricht.
Nun zurück, zum Samstag, dem 28. April, abends. Gegen 20 Uhr zog Petka mit den Seinen ab. Irgend etwas Dienstliches rief die drei Burschen weg. Petka brummte was von Bald-wieder-kommen, aber so, daß der Oberleutnant es nicht hörte. Dabei quetschte er mir wieder die Finger und versuchte, mir in die Augen zu blicken.
Im übrigen merkwürdig geringe Wirkung der Offizierssterne auf die Mannschaften. Ich war enttäuscht. Keiner fühlte sich in seiner Gemütlichkeit durch Anatols Rang gestört. Anatol setzte sich auch ganz friedlich dazu und lachte und quatschte mit den anderen, panschte ihnen die Gläser voll und ließ sein Kochgeschirr kreisen. Mir wird etwas bange für mein Tabu. Die uns vertraute preußisch-militärische Rangordnung gilt hier offenbar nicht. Die Besternten entstammen keiner besonderen sozialen Schicht, stehen herkunftsmäßig und bildungsmäßig in keiner Weise über den Mannschaften. Sie haben keinen besonderen Ehrenkodex und schon gar keine andere Haltung gegenüber den Frauen. Die abendländischen Traditionen von Ritterlichkeit und Galanterie haben Rußland gar nicht gestreift.
7 0 --------0 Es gab dort, soweit ich weiß, keine Turniere, keinen Minnegesang, keine Troubadours, keine schleppentragenden Pagen. Woher soll es also kommen? Das sind alles Bauernjungs. Auch Anatol ist einer. Zwar reicht mein Russisch nicht aus, um aus Wortwahl und Sprechweise dem einzelnen Mann, wie ich es in anderen Sprachen wohl könnte, seinen Beruf oder seine Bildung auf den Kopf zuzusagen. Und über Literatur und Kunst hab ich noch mit fast keinem sprechen können. Doch spüre ich, daß diese Burschen bei aller Lautheit des Auftretens mir gegenüber innerlich unsicher sind, daß es einfache, unverwöhnte Männer sind, Kinder des Volkes.
Immerhin ist Anatol wenigstens ein vollsaftiges Zweizentner-Mannsbild. Vielleicht wirkt sein Gewicht, wenn die Leutnants-sterne versagen. Mein Entschluß jedenfalls wankt nicht. Anatol zieht wie ein Komet einen Schweif junger Leute hinter sich her, knabenhafte Soldaten, die allesamt inzwischen in der von den Puddingtanten verlassenen Wohnung Unterschlupf gefunden haben. Ein richtiges Kind ist darunter; ein kleines Gesicht, ein strenger, gesammelter Blick aus schwarzen Augen - Wanja, sechzehn Jahre alt. Die Witwe zieht mich beiseite und tuschelt, der könne es gewesen sein, diese Nacht auf dem Treppenabsatz - es sei so ein kleines, glattes Gesicht, so ein schmaler Körper gewesen. Wanja allerdings gibt kein Zeichen des Erkennens, kann es wohl auch nicht geben, da er die Frau, die er in tapsiger Knabenart nahm, nur gefühlt, nicht gesehen hat. Trotzdem ist mir so, als ob er wüßte, wer sie ist; denn ihre Stimme hat er ja gehört, die Witwe hat es mir erzählt, wie sie geweint und gebettelt hat. Jedenfalls folgt Wanja der Witwe wie ein Hündlein, trägt frische Gläser herzu und wäscht am Spültisch die gebrauchten.
Ich trank an diesem Abend viel, wollte viel trinken, betrunken werden, was mir auch gelang. Daher Erinnerungslücken. Den Anatol finde ich neben mir wieder, seine Waffen und Sachen rings um das Bett gebreitet... Die vielen Knöpfe und Taschen, und was er alles drinhat... Freundlich, zutunlich, kindlich... Aber Mai geboren, Stier, Stier... Ich glaubte eine fühllose Puppe zu sein, geschüttelt, herumgeschoben, ein Ding aus Holz... Plötzlich steht jemand in dem dunklen Zimmer, läßt eine Taschenlampe aufblitzen. Und Anatol schreit den mit der Lampe rauh an, droht mit Fäusten, und der andere verschwindet... Oder hab ich das geträumt?
Sehe beim Morgengrauen Anatol im Zimmer stehen und hinausblicken, während es rot ins Zimmer flammt und gelb über die Tapete zuckt. Höre die Kartjuschas heulen, indes Anatol die Arme reckt und spricht: »Petuch paiot«, der Hahn singt. Und wirklich hört man in einer Feuerpause den Hahn unten krähen.
Als Anatol weg war, stand ich sogleich auf, wusch mich im Bad mit dem kärglichen Wasserrest, schrubbte den Tisch ab, fegte Stummel, Heringsschwänze, Roßdreck auf, rollte den Teppich zusammen und beförderte ihn hinauf auf den Schrank. Schaute ins Nebenzimmer, wo sich die Witwe im Schütze ihres Untermieters eine Lagerstatt auf dem Sofa gerichtet hat, fand beide schnarchend. Es pfiff eiskalt durch die Pappdeckelfetzen vor den Fenstern. Ich fühlte mich erquickt und ausgeruht nach fünf Stunden brunnentiefen Schlafes. Etwas Haarweh; aber nicht mehr. Wieder eine Nacht überstanden.
Ich rechnete mir aus, daß Sonntag war, der 29. April. Aber Sonntag ist so ein Zivilistenwort, zur Zeit sinnlos. Die Front hat keinen Sonntag.