77756.fb2
Manchmal gibt es geringfügige Erlebnisse, die lange zurückliegen und sich in unseren trügerischen Erinnerungen als Anekdoten etablieren. Wenn die Anekdoten altern, lassen sie Federn. Dann könnte ein Witz daraus werden.
Es ist die Rede von dem tschechischen Dienstwagenfahrer Jiri, der im Herbst 1966 drei deutsche Filmkritiker vom Flughafen abholte, um sie nach Prag zu kutschieren. Dort sollte unsere kleine Delegation Filme für das Programm der »Oberhausener Kurzfilmtage« aussuchen. Auf dem Bildschirm meiner Erinnerungen erscheint Jiri als ein rundlicher, behänder Mann, der so tat, als hätte er mit uns schon vor vielen Jahren Brüderschaft getrunken. Er hatte seine letzten Haarsträhnen eitel über den Kahlkopf gestriegelt, und während er mit hoher Geschwindigkeit der »Goldenen Stadt« entgegenfuhr, stieß Jiri bisweilen unerwartet einen Mittelfinger ins rechte Ohr. Hektisch bewegte er ihn dort hin und her, als gelte es, einen quälenden Juckreiz zu lindern.
»Aah, grieß Gott, liebe Leut aus scheene Bundesrepublik«, hatte Jiri zur Begrüßung gesagt und unsere schweren Reisetaschen wie Federbälle in den Kofferraum geworfen. Am Steuer schwieg er einen Augenblick gedankenvoll, bis er seine nächsten Sätze gefunden hatte: »Hab ich Freund in scheene Bundesrepublik - den Erwin aus Wuppertal. Besucht mich jedes Jahr im Friehling, der Erwin. Haben wir sehr scheene Zeit.«
»Aha«, sagte ich.
»Wissen Sie«, fuhr Jiri fort, »wenn er kommt, der Erwin aus Wuppertal, gehen wir erst mal gut essen. Ente und Knödel, Schweinsbra-ten mit Kraut. Dazu trinken wir viele, viele Pilsener und Marillenschnäpse. No, und wenn wir bissken betrunken sind, sagt mein Freund Erwin: >Und nu, Jiri, was ist mit veggeln?<
No - kenne ich viele scheene Mädchen in Prag, kosten bissken Geld, aber bezahl ich gern für meinen lieben Freund Erwin aus Wuppertal.«
Jiri lächelte versonnen und schüttelte das rechte Ohr, ehe er seinen Monolog fortsetzte. »Wissen Sie ... hat er mich jetzt fünftes Mal besucht, der Erwin, immer in Friehling. Und letztes Mal hat er mich eingeladen in scheene Bundesrepublik.
Bin ich nach Wuppertal gefahren, hat mich mein Freund vom Zug abgeholt und gesagt: »Meine Frau hat wat Leckeres zu essen gemacht, du kannst auch bei uns wohnen. No - wissen Sie, was gab es zu essen? Kalte Platte! Bissken Wurst, bissken Käse, paar kleine Gurken. Zwei Flaschen Bier haben wir getrunken und hinterher Kaffee und einen warmen Schnaps. Erwins Frau, heißt sie Renate, hat mich angeguckt wie einen Feind, als ich auf leeres Bierglas gezeigt habe. Dann hat sie warmes Selterswasser auf Tisch gestellt und abgeräumt. Als sie in Kiche war, hab ich zu meinem Freund gesagt: >Und nu, Erwin, was is' mit veggeln?< War ihm peinlich. Hat er mit Kopf geschüttelt und gemeint, das ginge heute nicht, Renate würde uns nicht allein aus dem Haus lassen. No - hab ich warmes Selterswasser getrunken und auf Luftmatratze geschlafen.«
Hier endeten die Erzählungen des Dienstwagenfahrers. Aber kurz vor Prag reichte Jiri noch einen Kommentar nach, der seiner schelmischen Betrachtung über unterschiedliche Freundschaftsdienste den Hintersinn gab: »Also wissen Sie, liebe Leut ... scheene Demokratie wie Bundesrepublik haben wir nicht in Tschechoslowakei. Aber sehr scheenes Leben .«