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Sergejs Mutter wurde von ihrem langjährigen Lebensgefährten, einem dicken lebensfrohen weißrussischen Sparkassenchef, sitzengelassen.
»Irina«, meinte er zum Abschied bedrückt, »ich habe eine ungeheuere Leidenschaft kennengelernt und muss nun mit diesen neuen Gefühlen klarkommen. Du hast Format, du bist eine großartige Frau, warte auf mich, wenn du kannst.«
Der freiwillige Nachrichtendienst aus der Nachbarschaft berichtete; die ungeheure Leidenschaft sei ein zwanzigjähriges Mädchen mit riesiger Oberweite. Irina packte die Koffer und fuhr nach Berlin zu ihrem Sohn, den sie sehr lange nicht gesehen hatte. Sergej freute sich natürlich, nur hatte er jede Menge zu tun - zwei Jobs, ein Studium und dazu nun noch eine Mutter in der Krise. Anfangs fiel diese Mutter in dem allgemeinen Chaos nicht auf. Sie verbrachte die meiste Zeit in der Küche und sang leise vor sich hin - russisches Volksliedgut:
Sie braucht dringend einen neuen Freund, dachten wir und brachten unseren Nachbarn auf die Idee, eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung aufzugeben: »Sympathische Frau aus Russland, 53 Jahre alt, würde gern einen intelligenten, einfallsreichen, sensiblen Mann ab 45 kennenlernen - und nicht irgendeinen selbstgeilen Fettarsch.« Bereits einen Tag nach Erscheinen der Zeitung kamen die ersten Anrufe. Irina ging nicht ans Telefon, aber ihre Stimmung verbesserte sich erheblich. Sie saß nicht mehr wie ein Trauerkloß in der Küche, sondern lief in der Wohnung herum und sang halblaut einen alten sozialistischen Schlager:
»Irina, Sie dürfen diese Menschen nicht einfach so abblitzen lassen, gehen Sie doch ran«, sagten wir immer wieder zu ihr.
Nach zwei Tagen ging sie tatsächlich ran.
»Ja! Nein! Was denn für eine Anzeige? Sie haben sich bestimmt verwählt. Wie heißen Sie noch mal? Aus Nowosibirsk? Wie interessant, ich war mal in Nowosibirsk...«
Er war der erste Mann, der Irinas Vertrauen gewinnen konnte: ein gewisser Iwan aus Nowosibirsk, Champion im Biathlon 1969. Irina verabredete sich mit ihm, kam aber an dem Tag nicht aus der Wohnung. Sie polierte sich in der Küche die Fingernägel und sang andere optimistische Schlager aus der Sowjetzeit.
»Vielleicht war das dein Schicksal, Mama«, bemerkte Sergej vorsichtig, »Vielleicht ruft er nicht mehr an.«
»Wenn man Schicksal ist, Söhnchen, dann ruft man immer ein zweites Mal an«, meinte die Mutter philosophisch.
Iwan aus Nowosibirsk rief tatsächlich wieder an. Irina erklärte ihm, dass sie an dem Tag zu viel zu tun gehabt hätte, und sie verabredeten sich erneut. Diesmal ging sie tatsächlich zu ihrer Verabredung, kam dafür aber abends nicht nach Hause zurück. Auch am nächsten Tag kam sie nicht. Sergej meinte, so etwas sei auch schon früher in Gomel vorgekommen. Trotzdem waren er und wir alle sehr beunruhigt. Denn in gewisser Weise hatten wir seine Mutter in diesen Wirbel der Zeitungsliebe geschubst und fühlten uns nun für sie verantwortlich. Von Iwan aus Nowosibirsk fehlte jede Spur. Es gab weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. Sergej ging zur Polizei und erstattete Vermisstenanzeige. In dem Moment, als er zurückkam, tauchte seine Mutter auf. Sie konnte unsere Aufregung überhaupt nicht verstehen und wollte nichts darüber erzählen, wo sie die letzten drei Tage verbracht hatte. Nur so viel: Ihr Iwan hätte ihr alle seine Biathlon-Medaillen und -Pokale zeigen wollen, deswegen hätte es so lange gedauert. Insgesamt bezeichnete sie ihren neuen Freund als »zu sportlich«.
Danach meldeten sich in loser Folge ein intelligenter Professor aus Potsdam, der ihr die Stadt zeigen wollte und sie ins dortige Theater einlud; ein Hobbykoch aus Charlottenburg, der sie zum Grünen-Tee-Trinken überredete; außerdem in regelmäßigen Abständen immer wieder der sportliche Iwan aus Nowosibirsk, der mit Irina zur Biathlon-Meisterschaft ins norwegische Hammarskjöld aufbrechen wollte.
Der Klub der Mutterfreunde wuchs kontinuierlich, das Telefon in der Russen-WG war ständig belegt. Irgendwann meldete sich auch noch der verflossene Sparkassenchef aus der Heimat. Mit Tränen in der Stimme bat er Irina zurückzukommen, die ungeheure Leidenschaft mit der riesigen Oberweite hatte sich früher als erhofft erschöpft. Ihrem Sohn gegenüber hielt Irina ihre Lebenspläne geheim. Sie brauche Zeit zum Nachdenken, sagte sie nur. Nach einem Monat erzählte Sergej, seine Mutter wäre nach Russland zurückgefahren. Ich glaubte nicht daran.
Alles war möglich, alles zum Greifen nah: Möglich wäre zum Beispiel, dass sie gleich hinter Wannsee bei ihrem Professor ausgestiegen und in Potsdam hängengeblieben war. Weniger realistisch war, dass sie zu dem Sparkassenchef nach Gomel zurückkehrte. Ich, als alter Biathlonfan, tippte auf den sportlichen Iwan aus Nowosibirsk.
Noch Monate später bekamen die Jungs in der WG seltsame Anrufe: männliche Stimmen, die nach Irina verlangten.
»Sie wohnt nicht mehr hier«, antwortete Sergej. »Sie ist weg. Aber vielleicht kommt sie wieder - im nächsten Jahr. Lesen Sie die Annoncen. Ja, nein, Sie auch, nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«