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Genau wie ich war Andrej absolut zufällig in Berlin gelandet. Sein Erscheinen hier war kein sauber geplanter Karriereschritt, sondern Ergebnis dunkler politischer Machtspiele im Bundestag. Dazu gehörte die Diskussion über »Kinder statt Inder«, die Deutschland zu diesem Zeitpunkt erschütterte. Plötzlich hatte das Land zu wenig Computerspezialisten, und die Bundesregierung überlegte, wer auf die Schnelle einspringen könnte - die preiswerten zuverlässigen Inder oder teure, aber dafür hundertprozentig deutsche Kinder. Es kamen weder die einen noch die anderen: Die Inder hatten zu tun, und die Kinder blieben bis auf weiteres in ihren Kitas. Also bewarben sich die Russen um den Job. Andrej bekam ein verlockendes Angebot von einer internationalen Firma mit Sitz in Berlin.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion packte er und fuhr nach Berlin, in der Hoffnung auf ein neues spannendes Leben im Ausland. Erst nach einem Jahr in Berlin dämmerte es ihm langsam, wo er eigentlich gelandet war, und er fing an zu meckern. Ständig verglich er seine Berliner Existenz mit seinem früheren Leben in St. Petersburg. Er konnte die Reize der deutschen Hauptstadt nicht erkennen. Nichts gefiel ihm außer seinem Gehalt: Die Wurst schmeckte nicht, die Wirte waren unfreundlich, die Häuser schlecht gebaut, die Frauen schlecht gelaunt. Selbst die Badewanne in seiner WG war ihm zu klein, er konnte sich kaum darin bewegen. Auch das Autofahren in Berlin klappte irgendwie nicht: Kaum setzte er sich ans Steuer und gab Gas, schon hielt ihn die Polizei an.
»Man kann sich hier nirgendwo wild amüsieren«, beschwerte sich Andrej bei uns in der Küche.
Dann kam der Winter, für uns immer die Urlaubszeit, und er wollte unbedingt nach St. Petersburg.
»Ich kann es nicht erwarten, meine alten Freunde dort wiederzusehen«, meinte er.
Zwei Wochen später trafen wir uns alle in Berlin wieder. Meine Frau und ich hatten uns gut erholt, aber unser Freund sah völlig fertig aus. Er konnte nicht gerade stehen, lief immer gebückt und mit deutlichem Linksdrall und war für zwei Wochen krankgeschrieben. Voller Entsetzen erzählte uns Andrej von den wilden Nächten, die er in St. Petersburg verbracht hatte. Er hatte seine Freunde getroffen, viel war in seiner Abwesenheit passiert. Der arme Physiklehrer hatte sich bei Coca-Cola als Verkaufsleiter beworben und den Job auch bekommen. Schnell war er reich geworden. Der scheue Grafikdesigner hatte eine Achtzehnjährige in einer Bar kennengelernt, hatte sie geheiratet und war unglücklich geworden. Die Exfreundin von Andrej hatte sich in einen orthodoxen Religionsfanatiker verliebt, der ein Tätowierungsstudio in St. Petersburg betrieb. Dort bot er allen Gläubigen zu einem gerechten Preis schöne Tätowierungen mit religiösen Motiven an. Der Religionsfanatiker erwies sich als so netter Kerl, dass er nach der zweiten Flasche Wodka in Andrejs Freundeskreis aufgenommen wurde.
Andrej hörte sich all diese Geschichten an und bekam das Gefühl, im westlichen Ausland zu verfaulen. Er konnte kaum etwas Aufregendes über sein Leben in Berlin erzählen - es stagnierte vor sich hin, während es bei seinen Freunden mit Volldampf vorangegangen war. Eine Woche verbrachten sie im Suff. Dann musste Andrej wieder nach Berlin zurück. Am letzten Abend schlug ihm der Religionsfanatiker vor, sich kostenlos eine Tätowierung bei ihm im Studio verpassen zu lassen, zur Erinnerung an ihre wunderbare Begegnung. Der Coca-Cola-Manager, Andrejs Exfreundin und der unglücklich verheiratete Grafikdesigner waren von der Idee begeistert. Warum eigentlich nicht, dachte Andrej. Ein nettes kleines Tattoo kann nicht schaden. Sie nahmen einige Flaschen Wodka und fuhren noch in derselben Nacht ins Studio. Der Meister bot Andrej das beste Piece aus seiner Sammlung an: die Kirche des heiligen Wladimir. Das riesengroße Gebäude mit fünf Kuppeln passte gerade so auf Andrejs Rücken. Andrej war verzweifelt.
»Um ein solches Gemälde auf meinen Rücken zu tätowieren, werden wir bestimmt drei Tage brauchen«, wandte er ein.
»Das ist eine Sache von drei Minuten«, beruhigte ihn der Religionsfanatiker. »Ich arbeiten nämlich nicht mit der Maschine, sondern nach einem von mir persönlich entwickelten Verfahren. Ich nenne es ›Schocktätowierung‹. Dabei wird ein von Hand gefertigtes Muster auf deinen Rücken gepresst - zack und fertig!«
Stolz zeigte der Tattoomeister Andrej ein Brett, aus dem Hunderte von Stahlnägeln herausragten. Zusammen bildeten sie die Kirche des heiligen Wladimir. Andrejs Freunde waren von der Idee begeistert.
»Natürlich wird es für dich ein Schock sein, ein bisschen Schmerz, ein wenig Leiden. Aber dafür wirst du dann noch lange an dieses religiöse Ereignis erinnert«, meinte der Religionsfanatiker.
»Wir werden dich mit Wodka betäuben, damit du nicht in Ohnmacht fällst«, beruhigten die Freunde Andrej.
Er legte sich auf die Couch. Der Tattoomeister trug die Farbe auf die Nägel auf. Dann gab er Andrej ein Schnapsglas, desinfizierte mit dem Rest des Alkohols seinen Rücken und presste das Nagelbrett mit voller Kraft darauf. Der Schmerz war so stark, dass unser Freund für einige Minuten das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, dass er sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Wahrscheinlich war bei der Prozedur irgendein Rückennerv verletzt worden.
In der Badewanne fiel Andrej beinahe ein zweites Mal in Ohnmacht, als er im Spiegel seinen Rücken sah. Dem betrunkenem Tattoomeister war ein fataler Fehler unterlaufen: Er hatte das Brett falsch aufgesetzt und die Kirche verkehrt herum auf den Rücken gedrückt - mit den Kuppeln nach unten. Nun sah sie wie eine riesige fünfbeinige Krake aus, und war als Kirche überhaupt nicht mehr erkennbar. Zuerst wollte Andrej dem großen Meister die Fresse einschlagen, doch Letzterer saß volltrunken in seiner Werkstatt und war nicht ansprechbar. Am nächsten Tag verließ Andrej seine Heimat und flog zurück nach Berlin. Verfluchtes St. Petersburg! Sein Rücken sei nun hoffnungslos versaut, meinte er. Die Ärzte hätten ihm zwar gesagt, dass sie ihm ein Implantat aus Kunststoff annähen oder ein Stück Haut aus seinem Hintern verpflanzen könnten, aber das sei tierisch teuer und auch nicht ungefährlich.
»Wäre ich nur mit euch nach Teneriffa gefahren, dann wäre das alles nicht passiert«, seufzte er bedrückt. Und wir gaben ihm Recht.